Die Demokratie und der selbstbestimmte Mensch

Demokratie ohne Wahrheit. Der ontologische Kollaps der westlichen Rechtsordnung


Auf welchen Grundlagen beruht eigentlich die westliche oder freiheitlich-demokratische Ordnung?
Auf welchen Grundlagen beruht eigentlich die westliche oder freiheitlich-demokratische Ordnung?

Prof. Trabuc­co legt in einem Auf­satz, der zuerst auf dem Blog Duc in alt­um von Aldo Maria Val­li ver­öf­fent­licht wur­de, den Fin­ger in die gro­ße Wun­de der soge­nann­ten west­li­chen Ord­nung oder frei­heit­li­chen Demo­kra­tie. Zum blo­ßen Wil­len als ein­zig nor­mie­ren­der Rechts­quel­le genügt der Hin­weis auf den sech­sten Reichs­par­tei­tag der NSDAP, der im Sep­tem­ber 1934 in Nürn­berg statt­fand unter dem Mot­to: „Wil­len zur Macht“. Leni Rie­fen­stahl dreh­te dazu einen auf­schluß­rei­chen Doku­men­tar­film mit dem Titel: „Tri­umph des Wil­lens“, mit dem sie zahl­rei­che auch inter­na­tio­na­le Prei­se gewin­nen konn­te. Eine Mah­nung, die man unter demo­kra­ti­schem Vor­zei­chen leicht­fer­tig in den Wind zu schla­gen scheint. Doch die con­di­tio huma­na ändert sich nicht, weil es einen tech­ni­schen Fort­schritt gibt und auch nicht weil sich Staats- oder Regie­rungs­for­men ändern. Die katho­li­sche Kir­che als die Hüte­rin des Wis­sens über das Mensch­sein steht in der Pflicht, bestän­dig vor fata­len Trug­schlüs­sen zu warnen.

Die Demokratie und der selbstbestimmte Mensch

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Von Danie­le Trabucco*

Das gegen­wär­ti­ge Abend­land beruht auf einem struk­tu­rel­len Oxy­mo­ron: dem Anspruch auf Frei­heit durch die Ver­nei­nung der objek­ti­ven Ord­nung der Wirk­lich­keit. Die moder­nen libe­ra­len Demo­kra­tien, die sich als geschicht­li­che Offen­ba­run­gen indi­vi­du­el­ler Auto­no­mie und als Aus­druck der Volks­be­tei­li­gung prä­sen­tie­ren, ver­ber­gen in Wahr­heit eine tief­grei­fen­de theo­re­ti­sche Kri­se, deren Wur­zel in der Abkop­pe­lung der poli­tisch-recht­li­chen Ord­nung vom meta­phy­si­schen Fun­da­ment des Natur­rechts liegt. An die Stel­le der Wahr­heit als Maß­stab der Gerech­tig­keit ist der Wil­le getre­ten – mal der des ein­zel­nen, mal der des Vol­kes, mal der über­staat­li­cher Appa­ra­te – als ein­zi­ge Quel­le nor­ma­ti­ver Legi­ti­ma­ti­on. Die Demo­kra­tie, redu­ziert auf ein selbst­be­zo­ge­nes Ver­fah­ren, erhebt sich so zum poli­ti­schen Göt­zen einer Epo­che, die den Sinn für die Teil­ha­be an der „lex aeter­na“ ver­lo­ren hat.

Die moder­ne Idee der Demo­kra­tie, weit davon ent­fernt, eine geord­ne­te Regie­rungs­form zum Woh­le des Gemein­wohls zu sein, erscheint zuneh­mend als for­ma­les Ent­schei­dungs­sche­ma, das auf der Unbe­stimmt­heit der Inhal­te grün­det. Sie ent­steht und ent­wickelt sich inner­halb eines anthro­po­lo­gi­schen Para­dig­mas, das vom Nomi­na­lis­mus und einer abso­lu­ten Sub­jek­ti­vie­rung der Frei­heit geprägt ist: Der Mensch, als „ens ex nihi­lo“ ver­stan­den, hält sich für sei­nen eige­nen Schöp­fer, für den will­kür­li­chen Erbau­er sei­nes Seins und sei­nes Zie­les. Die­se Annah­me zer­stört jede Mög­lich­keit eines Natur­rechts, das als ratio­na­le Maß­ga­be mensch­li­chen Han­delns im Ein­klang mit einer ver­nunft­ge­mäß geord­ne­ten Natur ver­stan­den wird. Das Recht, vom Sein los­ge­löst, wird zur blo­ßen Ent­schei­dung, und die­se Ent­schei­dung, der Wahr­heit ent­kop­pelt, beugt sich den Zufäl­lig­kei­ten des Begehrens.

Der zeit­ge­nös­si­sche Kon­sti­tu­tio­na­lis­mus, Kind die­ser theo­re­ti­schen Wur­zel, basiert auf einer ursprüng­li­chen Zwei­deu­tig­keit: Einer­seits ver­kün­det er unver­äu­ßer­li­che Men­schen­rech­te, ande­rer­seits ver­wei­gert er es, die­se Rech­te auf eine nor­ma­ti­ve Anthro­po­lo­gie zu grün­den. Das Resul­tat ist ein System, in dem die Men­schen­wür­de zwar abstrakt behaup­tet, aber ihres kon­kre­ten Inhalts ent­leert ist, da man das Wesen des Men­schen, das durch die Ver­nunft erkenn­bar ist, nicht mehr aner­kennt. Das Indi­vi­du­um, abso­lut gesetzt und aus dem Kon­text gelöst, wird zum Zen­trum der Rechts­pro­duk­ti­on als Sub­jekt unbe­grenz­ter Ansprü­che – ohne Bezug auf ein objek­ti­ves Maß des Guten. So wird das Recht nicht mehr als ratio­na­le Ord­nung mensch­li­chen Han­delns ver­stan­den, son­dern als unend­li­che Ver­viel­fäl­ti­gung indi­vi­du­el­ler Erwar­tun­gen, die als sub­jek­ti­ve Rech­te ohne jeg­li­che ethi­sche Grund­la­ge insti­tu­tio­na­li­siert werden.

Die Euro­päi­sche Uni­on ver­kör­pert bei­spiel­haft die­se post­me­ta­phy­si­sche Ent­wick­lung. Seit dem Ver­trag von Maas­tricht von 1992 (in Kraft seit dem 1. Novem­ber 1993) hat die EU all­mäh­lich die Logik der Inte­gra­ti­on sou­ve­rä­ner natio­na­ler Ord­nun­gen ver­las­sen und das Modell einer über­staat­li­chen tech­no­kra­ti­schen Gover­nan­ce über­nom­men, die von einem schwe­ben­den posi­ti­ven Recht gelei­tet wird, ohne jede Ver­wur­ze­lung im Natur­recht oder in der klas­si­schen Rechts­tra­di­ti­on. Das Prin­zip der Sub­si­dia­ri­tät wur­de sei­nes ursprüng­li­chen Sin­nes beraubt – näm­lich des Schut­zes der Auto­no­mie unter­ge­ord­ne­ter Gemein­schaf­ten im Hin­blick auf das Gemein­wohl – und zu einem Mecha­nis­mus der Neu­tra­li­sie­rung natio­na­ler Sou­ve­rä­ni­tät unter dem Pri­mat wirt­schaft­li­cher Kom­pa­ti­bi­li­tät und finan­zi­el­ler Para­me­ter umfunktioniert.

In die­sem Zusam­men­hang ist der Volks­wil­le nicht mehr Aus­druck einer gemein­sa­men Suche nach dem Gemein­wohl, son­dern eine rein pro­ze­du­ra­le Funk­ti­on inner­halb eines nor­ma­ti­ven Rah­mens, der bereits von sich selbst repro­du­zie­ren­den Macht­zen­tren vor­ge­ge­ben wur­de. Das EU-Recht erscheint als anony­me Nor­ma­ti­vi­tät, gesichts­los, unfä­hig, eine gerech­te Ord­nung aus­zu­drücken, weil es nicht auf die Wahr­heit des Men­schen und der Gemein­schaft aus­ge­rich­tet ist. Die „lex“, da sie nicht mehr „ordi­na­tio ratio­nis ad bonum com­mu­ne“ ist, wird zum „impe­ri­um tech­ni­cum“, zur stra­te­gi­schen Regu­lie­rung der Viel­heit im Dienst eines syste­mi­schen Gleich­ge­wichts. Der Rechts­po­si­ti­vis­mus, zum hege­mo­nia­len Sprach­ge­brauch des west­li­chen Rechts gewor­den, hat so die Auf­lö­sung der Idee von Gerech­tig­keit voll­endet. Indem er das Recht als Aus­druck eines nor­ma­ti­ven Wil­lens ohne onto­lo­gi­sche Gren­zen ver­steht, hat er das Kri­te­ri­um der Wahr­heit durch das der for­ma­len Gül­tig­keit ersetzt.

Der Nor­ma­ti­vis­mus nach Kel­sen, der auf der Selbst­re­fe­ren­zia­li­tät des Rechts­sy­stems und der Neu­tra­li­sie­rung ethi­scher Inhal­te grün­det, hat eine Rechts­ord­nung her­vor­ge­bracht, in der es kei­ne Unter­schei­dung mehr zwi­schen „ius“ und „lex“ gibt, zwi­schen dem, was an sich gerecht ist, und dem, was posi­tiv fest­ge­legt wur­de. Die Fol­ge die­ser Ver­schie­bung ist zwei­fach: einer­seits der Ver­lust der Unter­schei­dung zwi­schen Legi­ti­mi­tät und Lega­li­tät, ande­rer­seits die Erhe­bung der Frei­heit zur abso­lu­ten Selbst­be­stim­mung – selbst gegen die Ord­nung der Natur.

Die moder­ne Frei­heit, ver­stan­den als Eman­zi­pa­ti­on von jeg­li­cher natür­li­cher Bin­dung und objek­ti­ver mora­li­scher Ord­nung, erweist sich in ihrer geschicht­li­chen Ent­fal­tung als Instru­ment der Unter­wer­fung unter die syste­mi­sche Macht. Das post­mo­der­ne Indi­vi­du­um, schein­bar frei, ist in Wirk­lich­keit radi­kal fremd­ge­steu­ert: Sein Bewußt­sein wird durch Bil­dungs- und Medi­en­me­cha­nis­men geformt, die künst­li­chen Kon­sens erzeu­gen; sein Wil­le wird durch nor­ma­ti­ve Syste­me gelenkt, die selbst die intim­sten Berei­che des Daseins regeln; sei­ne Ent­schei­dungs­fä­hig­keit ist durch vor­ge­fer­tig­te recht­li­che Rah­men­be­din­gun­gen ein­ge­schränkt, die sei­nen Hand­lungs­spiel­raum begren­zen. In die­sem Zustand wird die indi­vi­du­el­le Auto­no­mie, statt Aus­druck der Wür­de der Per­son zu sein, zur tra­gi­schen Kari­ka­tur derselben.

Die Kri­se des Westens ist daher nicht nur poli­ti­scher oder wirt­schaft­li­cher Natur, son­dern zutiefst onto­lo­gi­scher und axio­lo­gi­scher Art. Die Rechts­ord­nung hat ihre Daseins­be­grün­dung ver­lo­ren, weil sie ihr Fun­da­ment in der „lex natu­ra­lis“ – der Teil­ha­be des ver­nünf­ti­gen Geschöpfs an der „lex aeter­na“ – ver­leug­net hat.

Das Natur­recht ist kein von oben auf­er­leg­ter Regel­ka­ta­log, son­dern die erkenn­ba­re Ord­nung des Seins, die von der rech­ten Ver­nunft als Maß des Gerech­ten erkannt wer­den kann. Nur inner­halb die­ses Hori­zonts kann dem Recht, der Gerech­tig­keit und der Frei­heit wie­der Bedeu­tung ver­lie­hen wer­den. Wah­re Frei­heit ist nicht Will­kür, son­dern Über­ein­stim­mung des Han­delns mit der Wahr­heit des Seins. Sie ist „liber­tas per veritatem“, nicht „liber­tas a veri­ta­te“. Der ein­zi­ge Weg zur Wie­der­her­stel­lung der poli­tisch-recht­li­chen Ord­nung führt daher über eine Neu­grün­dung des gesam­ten nor­ma­ti­ven Systems auf Grund­la­ge der Onto­lo­gie des Natur­rechts. Dies setzt eine radi­ka­le intel­lek­tu­el­le Umkehr vor­aus: vom Posi­ti­vis­mus zum Essen­tia­lis­mus, vom For­ma­lis­mus zum Fina­lis­mus, vom Sub­jek­ti­vis­mus zum Rea­lis­mus. Ohne die­se Rück­kehr zu den meta­phy­si­schen Wur­zeln des Rechts wird jeder insti­tu­tio­nel­le Reform­ver­such wir­kungs­los blei­ben, da er sich wei­ter­hin inner­halb der Koor­di­na­ten eines selbst­zer­stö­re­ri­schen Para­dig­mas bewegt.

Wie schon der hei­li­ge Tho­mas von Aquin (1225–1274) mahn­te: „Lex huma­na, si non sit secund­um ratio­nem, non est lex sed cor­rup­tio legis“ – Ein Gesetz, das nicht der natür­li­chen Ver­nunft ent­spricht, ist kein Gesetz, son­dern eine Ver­derb­nis des Geset­zes. Die Demo­kra­tie muß sich daher, um wahr­haf­tig zu sein, wie­der als auf die Gerech­tig­keit aus­ge­rich­tet ver­ste­hen – und die Gerech­tig­keit wie­der­um muß ihr Fun­da­ment in der Wahr­heit des Seins erken­nen. Ohne die­ses Fun­da­ment ver­fal­len Insti­tu­tio­nen zu Herr­schafts­in­stru­men­ten, Rech­te zu selbst­be­zo­ge­nen Ansprü­chen, Frei­heit zu einem Trug­bild. Das Schick­sal der west­li­chen Demo­kra­tien hängt nicht von einer effi­zi­en­te­ren Macht­ver­tei­lung ab, son­dern vom Wie­der­erken­nen des Pri­mats der Wahr­heit über das Han­deln, des Natur­rechts über die Norm­pro­duk­ti­on, des Gemein­wohls über das sub­jek­ti­ve Inter­es­se. Jeder ande­re Ent­wurf bleibt sub­stanz­los – blo­ße juri­sti­sche Tau­to­lo­gie in einem Uni­ver­sum, das den Logos ver­sto­ßen hat.

*Danie­le Trabuc­co, Pro­fes­sor für Ver­fas­sungs­recht und ver­glei­chen­des öffent­li­ches Recht an der SSML/​Hochschule San Dome­ni­co in Rom

Über­set­zung: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: Duc in altum

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