(Rom) Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin bot erneut den Vatikan als Ort für eventuelle Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen im russisch-ukrainischen Krieg an. Der Heilige Stuhl bemüht sich, trotz verschiedener Stolpersteine, die Konfliktparteien an den Verhandlungstisch zu bringen, um einen Dialog zu beginnen. Die Antwort aus Moskau ließ nicht lange auf sich warten.
Haupthindernis sind die gegensätzlichen Kriegsziele Moskaus und Washingtons
Haupthindernis für Friedensgespräche sind die konträren Interessen der direkten und indirekten Kriegsparteien. Moskau nennt zwei Kriegsziele, wobei es selbst nicht von einem Krieg, sondern einer Militäroperation spricht. Es will dem mehrheitlich russischen Donbaß, der sich 2014 von der Ukraine trennte, von der Ukraine loslösen. Die Trennung erfolgte, nachdem vor acht Jahren mit westlicher Hilfe die prorussische ukrainische Regierung gestürzt worden war. Unklar ist, wieviel vom Territorium der Ukraine sich Rußland einverleiben will.
Das zweite von Moskau genannte Ziel ist die Säuberung der Ukraine von „Nazis“, eine irritierend unglaubwürdige Behauptung, welcher der Makel eines Vorwandes anhaftet. Moskau meint offensichtlich vordergründig damit einen antirussischen ukrainischen Nationalismus und will sagen, daß es keine antirussische Regierung in Kiew dulden will.
Umgekehrt will der Westen keine antiwestliche Regierung dulden, womit wir bei der Crux der Ukraine-Frage und den Kriegszielen der Gegenseite angelangt wären – und damit ist nicht die ukrainische Regierung gemeint. Die Regierung in Kiew spielt zwar an der Front eine zentrale Rolle, weil sie die kämpfende Truppe stellt, aber nicht politisch. Entscheidend ist, wer hinter Kiew steht, und das ist Washington und mit ihm die NATO.
Die pro-westlichen Regierungen der Ukraine seit 2014 haben eine nicht nur unkluge, sondern minderheitenfeindliche Politik betrieben. Diese entrechtete nicht nur die Russen und russischsprachigen Ukrainer, immerhin zusammen gut 40 Prozent der Bevölkerung, sondern auch kleinere Minderheiten wie die Rumänen und Polen. Dieser ukrainische Nationalismus, dessen Wurzeln in das späte 19. Jahrhundert zurückreichen und der aus historischen Gründen durchaus verständlich ist, liefert Moskau nicht nur das berechtigte Argument, daß es zum Schutz der russischen Minderheit einschreiten habe müssen, sondern auch einen Hauch von Legitimation für seinen ansonsten wenig glaubwürdigen „anti-nationalsozialistischen“ Kampf.
Die westlichen Regierungen versäumten es acht Jahre lang, Kiew zur Mäßigung gegenüber seinen ethnischen und sprachlichen Minderheiten und Einhaltung internationaler Minderheitenschutzstandards zu drängen. Den wahrscheinlichen Grund dafür enthüllte vor wenigen Tagen die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel, denn offenbar war der Westen – gemeint ist Washington – an einer Deeskalation gar nicht interessiert.
Die USA führen in der Ukraine einen Stellvertreterkrieg gegen Rußland. Dahinter treten alle objektiven oder subjektiven Aspekte der ukrainischen Bevölkerung, ob westlich oder russisch gesinnt, zurück. Rußland, das sich unter Wladimir Putin der US-Hegemonie nicht unterworfen hat, wird deshalb in Washington als Feindstaat betrachtet, der aufgrund seiner geopolitischen Lage, Größe und Bodenschätze geschwächt werden soll. Darauf wurde schon jahrelang hingearbeitet. Der bereits 2014 begonnene Krieg eskalierte deshalb nicht eher – wie Merkel nun andeutete –, weil 2016 unerwartet Donald Trump zum US-Präsidenten gewählt worden war, der sich in der Außenpolitik größere Zurückhaltung auferlegte. Für vier Jahre mußten die Planungen auf Eis gelegt werden. Joe Biden hingegen nahm sie nach seinem Amtsantritt 2021 gleich wieder dort auf, wo er sie als Vizepräsident im Januar 2017 unterbrechen hatte müssen.
Diese Interessenlage von Moskau und Washington bietet wenig Aussicht auf ein schnelles Kriegsende, sofern nicht eine Seite sich entschließen sollte, den Konflikt zu vertagen. Moskau dürfte das schwerer fallen, da die Ukraine aus historischen Gründen mehr als nur das Gebiet vor der direkten Haustür ist. Für die USA ist die Ukraine dagegen nur eines von vielen weit entfernten Ländern, in denen man interveniert. Washington will Rußland schwächen und läßt dafür andere kämpfen, die dafür großzügig mit Waffen und Geld ausgestattet werden. Die Zerstörungen und die Toten muß aber Kiew tragen. Die Vorgehensweise der USA ist alt und vielfach, wenn auch nicht immer erfolgreich erprobt. Ähnlich war Washington mit antirussischer Stoßrichtung bereits im Kaukasus vorgegangen und versucht es derzeit auch im zentralasiatischen Kasachstan.
Washington wälzt dabei die Kosten soweit als möglich auf seine alten NATO-Verbündeten wie Deutschland ab. In der Sache stützt es sich hingegen vor allem auf die neuen NATO-Mitglieder im östlichen Mitteleuropa, in denen starke Revanchegedanken für die jahrzehntelange sowjetische Fremdherrschaft präsent sind. Nur Ungarn bildet dabei eine Ausnahme. In einigen Staaten wie Polen, Finnland und dem Baltikum ist das Verhältnis zu Rußland aus noch älterer Zeit belastet.
Die EU spielt in dem großen Spiel faktisch keine Rolle. Sie und ihre Mitgliedstaaten sind direkte oder indirekte Zahlmeister des Krieges. Vielmehr hat die Regierung Biden der EU mit dem Inflation Reduction Act faktisch den Wirtschaftskrieg erklärt, der ab 1. Januar 2023 in seine aktive Phase eintritt. Die EU, eingehegt in einem transatlantischen Subalternstatus, scheint nicht in der Lage zu sein, darauf zu reagieren. Die USA geben den Europäern gerade sehr deutlich zu verstehen, daß die US-Dampfwalze im Zweifelsfall auch über sie hinwegrollt und die US-Regierung keine Probleme damit hat, Europa zum Kriegsschauplatz zu machen.
Schwieriger Kontext für Vatikandiplomatie
In diesem schwierigen Kontext versucht die vatikanische Diplomatie den Weg für direkte Gespräche zu ebnen und bietet den Vatikan als neutralen Austragungsort dafür an. Zugleich zeigte sich der Kardinalstaatssekretär aber wenig optimistisch:
„Wir müssen hoffen, aber im Moment sehe ich keine positiven Anzeichen.“
Das sagte Kardinal Parolin gestern im italienischen Senat am Rande der Präsentation des Buches „Giorgio La Pira: i capitoli di una vita“ (Giorgio La Pira. Kapitel eines Lebens) auf die Fragen von Journalisten zum Krieg in der Ukraine.
„Ich glaube, daß alle Menschen guten Willens nichts anderes tun können, als sich den Dialog und den Frieden zu wünschen. Aber im Moment glaube ich nicht, daß es viele Voraussetzungen gibt. Wir müssen hoffen wider alle Hoffnung. Wir sehen derzeit keine Entwicklung.“
Was die diplomatische Arbeit betrifft, so bekräftigte Parolin, daß „der Heilige Stuhl von Anfang an alles getan und alle möglichen Initiativen gefördert hat“.
„Es gibt jedoch kein Patentrezept: Es hängt vom Willen der Parteien ab, den Konflikt zu beenden.“
Bezüglich der Vermittlungsarbeit des Heiligen Stuhls zwischen den Parteien bekräftigte der Kardinalstaatssekretär:
„Wir stehen zur Verfügung. Ich denke, der Vatikan ist der richtige Boden. Wir haben uns bemüht, Möglichkeiten für alle zu bieten, sich zu treffen und ein Gleichgewicht zu wahren. Wir bieten einen Raum, in dem sich die Parteien treffen und einen Dialog führen können. Es ist ihre Aufgabe, die Arbeitsmethode und die Inhalte festzulegen.“
Auf die Tränen von Papst Franziskus an der Spanischen Treppe angesprochen, antwortete Parolin:
„Es war sicherlich eine sehr starke Geste, ich habe von vielen Menschen gehört, die sehr betroffen waren. Hoffen wir, daß ein Durchbruch erzielt werden kann: Tränen können selbst die härtesten Herzen zum Schmelzen bringen.“
Kardinal Parolin hat allerdings einiges auszubügeln. Bemerkenswert schnell reagierte Maria Sacharowa, die Sprecherin des russischen Außenministeriums, auf die Aussagen des Kardinalstaatssekretärs. Sie erinnerte an ihren jüngsten Protest wegen der Äußerungen von Papst Franziskus in seinem Interview mit der US-amerikanischen Jesuitenzeitschrift America:
„Der vatikanische Staatssekretär Kardinal Pietro Parolin ist der Ansicht, daß der Vatikan ein geeigneter Ort sein könnte, um ein Treffen der Parteien für einen Dialog über die Ukraine zu organisieren. Ich fürchte, meine tschetschenischen und burjatischen Brüder wüßten das nicht zu schätzen. Soweit ich mich erinnere, kam kein Wort der Entschuldigung vom Vatikan.“
Siehe dazu auch: Ukraine-Konflikt: Hat Papst Franziskus seinen Kurs geändert?
Text: Giuseppe Nardi
Bild: VaticanNews (Screenshot)