Das Konzil von Nicäa und das Zweite Vatikanische Konzil

Gibt es einen Zusammenhang zwischen den beiden Konzilien?


Ein Vergleich des Konzils von Nicäa mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil: Gemeinsamkeiten und gravierende Unterschiede
Ein Vergleich des Konzils von Nicäa mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil: Gemeinsamkeiten und gravierende Unterschiede

Von Rober­to de Mattei*

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Gibt es einen Zusam­men­hang zwi­schen dem Kon­zil von Nicäa, das im Jahr 325 gefei­ert wur­de, und dem Zwei­ten Vati­ka­ni­schen Kon­zil, dem letz­ten der ein­und­zwan­zig als öku­me­nisch aner­kann­ten Kon­zi­li­en, das am 8. Dezem­ber 1965 zu Ende ging?

In einem Brief vom 29. Juni 1975 an Erz­bi­schof Mar­cel Lefeb­v­re, der das Zwei­te Vati­ka­ni­sche Kon­zil kri­ti­sier­te, erklär­te Papst Paul VI., daß „das Zwei­te Vati­ka­ni­sche Kon­zil nicht weni­ger auto­ri­ta­tiv, ja in man­cher Hin­sicht sogar wich­ti­ger als das Kon­zil von Nicäa“ sei (vgl. La Docu­men­ta­ti­on Catho­li­que, 58, 1976, S. 34). Die­se Aus­sa­ge sorg­te damals für gro­ßes Erstau­nen. Das Kon­zil von Nicäa hat die grund­le­gen­den Wahr­hei­ten des katho­li­schen Glau­bens über­lie­fert, die spä­ter im soge­nann­ten nicä­no-kon­stan­ti­no­po­li­ta­ni­schen Glau­bens­be­kennt­nis Aus­druck fan­den, das jeden Sonn­tag in der Hei­li­gen Mes­se gespro­chen wird. Das Zwei­te Vati­ka­ni­sche Kon­zil hin­ge­gen hat kei­ne neue Glau­bens­wahr­heit defi­niert und kei­nen Irr­tum ver­ur­teilt. Es ver­stand sich selbst als pasto­ra­les, nicht als dog­ma­ti­sches Konzil.

Wie ist es also mög­lich, einem umstrit­te­nen pasto­ra­len Kon­zil grö­ße­re Bedeu­tung bei­zu­mes­sen, als die Kir­che ihrem ersten öku­me­ni­schen Kon­zil zuschreibt?

Und doch – aus histo­ri­scher, nicht aus theo­lo­gi­scher Sicht – ist die Aus­sa­ge Pauls VI. nicht ganz ohne Wahr­heit, auch wenn Papst Mon­ti­ni sie anders gemeint haben dürf­te. Um das zu erklä­ren, stüt­ze ich mich auf einen bemer­kens­wer­ten Arti­kel des bel­gi­schen Phi­lo­so­phen Mar­cel De Cor­te (1905–1994), der 1977 unter dem Titel „Nicée et Vati­can II“ in der fran­zö­si­schen Zeit­schrift Itin­é­rai­res (Nr. 215, S. 110–141) erschie­nen ist.

Im 4. Jahr­hun­dert nach Chri­stus, zu Beginn der kon­stan­ti­ni­schen Ära, war der bei der heid­ni­schen Eli­te ver­brei­te­te phi­lo­so­phi­sche Trend der Neu­pla­to­nis­mus Plo­tins (203–270). Obwohl Plo­tins römi­scher Schü­ler Por­phy­ri­os (234–305) den stark anti­christ­li­chen Cha­rak­ter die­ses reli­giö­sen Systems offen­ge­legt hat­te, man­gel­te es nicht an Ver­su­chen, den christ­li­chen Glau­ben mit der Phi­lo­so­phie Plo­tins zu ver­söh­nen. Beson­ders der alex­an­dri­ni­sche Prie­ster Ari­us ver­such­te, das tri­ni­ta­ri­sche System der Hypo­sta­sen bei Plo­tin mit dem christ­li­chen Dog­ma der Hei­lig­sten Drei­fal­tig­keit zu verknüpfen.

Im christ­li­chen Glau­ben gibt es drei gött­li­che Per­so­nen: den Vater, den Sohn und den Hei­li­gen Geist. Die­ses zen­tra­le Myste­ri­um des Chri­sten­tums ist gött­lich offen­bart. Sie wider­spricht der Ver­nunft zwar nicht, enstammt ihr aber nicht.

Plo­tin hin­ge­gen ent­wickel­te ein phi­lo­so­phi­sches System, in dem drei Hypo­sta­sen exi­stie­ren: das Eine (to Hen), das erste, abstrak­te und unbe­stimm­te Prin­zip; der Geist (nous), das Reich des Seins und des Den­kens; und die Welt­see­le (psy­che), die die intel­li­gi­ble mit der sinn­lich wahr­nehm­ba­ren Welt ver­bin­det. Die­se drei Hypo­sta­sen ent­ste­hen durch not­wen­di­ge Emana­ti­on von­ein­an­der, wobei sie nicht den­sel­ben Seins­grad besit­zen. Es han­delt sich nicht um eine über­na­tür­li­che Rea­li­tät, son­dern um eine ver­stan­des­mä­ßi­ge Konstruktion.

Ari­us, stark vom Neu­pla­to­nis­mus geprägt, lehr­te, daß die Per­son des Soh­nes vom Vater ema­nier­te, und setz­te die Per­son des Hei­li­gen Gei­stes auf eine noch nied­ri­ge­re Stu­fe. Er ver­wei­ger­te dem Vater, dem Sohn und dem Hei­li­gen Geist die glei­che gött­li­che Sub­stanz. Der Sohn und der Hei­li­ge Geist sei­en nicht wesens­gleich mit dem Vater, son­dern ihm ledig­lich ähn­lich. Das Kon­zil von Nicäa ver­ur­teil­te die­sen Ver­such, das tri­ni­ta­ri­sche Dog­ma gemäß der dama­li­gen Phi­lo­so­phie umzu­for­men, und pro­kla­mier­te: Der Sohn ist nicht nur Gott „ähn­lich“, son­dern wahr­haft Gott, „wesens­gleich mit dem Vater“. Auf grie­chisch liegt der Unter­schied in einem ein­zi­gen Iota: homoou­si­os bedeu­tet „wesens­gleich“, homo­iou­si­os dage­gen nur „wesens­ähn­lich“. Das Glau­bens­be­kennt­nis von Nicäa ver­wen­det das berühm­te Adjek­tiv homoou­si­os, um Ari­us zu wider­spre­chen, der sich mit sei­nem homo­iou­si­os direkt auf Plo­tin berief. Für die­ses Iota wur­de Atha­na­si­us sechs­mal ins Exil geschickt und sogar von Papst Libe­ri­us exkom­mu­ni­ziert: Die Wesens­gleich­heit der drei gött­li­chen Per­so­nen steht im Zen­trum des nicä­ni­schen Bekennt­nis­ses und unse­res christ­li­chen Glaubens.

Das Zwei­te Vati­ka­ni­sche Kon­zil hin­ge­gen prä­sen­tier­te sich – anders als Nicäa, Tri­ent und das Erste Vati­ca­num – als pasto­ra­les Kon­zil. Doch es kann kein pasto­ra­les Kon­zil geben, das nicht auch dog­ma­tisch ist. Das Zwei­te Vati­ca­num ver­zich­te­te dar­auf, neue Dog­men zu defi­nie­ren, doch es „dog­ma­ti­sier­te“ die Pasto­ral, indem es sich die zeit­ge­nös­si­sche Phi­lo­so­phie zu eigen mach­te – jene Phi­lo­so­phie, der zufol­ge die Wahr­heit des Den­kens erst durch das Han­deln bewie­sen wird. Die tra­di­tio­nel­le dog­ma­ti­sche Theo­lo­gie wur­de bei­sei­te­ge­scho­ben und durch eine „Phi­lo­so­phie der Akti­on“ ersetzt, die zwangs­läu­fig zum Sub­jek­ti­vis­mus und Rela­ti­vis­mus führt.

Die pasto­ra­le Theo­lo­gie des Zwei­ten Vati­ka­ni­schen Kon­zils stellt damit einen Bruch mit der dog­ma­ti­schen Theo­lo­gie des Kon­zils von Nicäa dar – gera­de wegen ihres Anspruchs, sich dem Imma­nen­tis­mus der moder­nen Phi­lo­so­phie anzu­pas­sen. Um mit der Welt in Ein­klang zu tre­ten, müs­se die Kir­che ihre Leh­re hint­an­stel­len und der Geschich­te die Prü­fungs­kri­te­ri­en für ihre Wahr­heit über­las­sen. Doch gera­de die Fol­gen die­ser neu­en Pasto­ral­theo­lo­gie haben ihr Schei­tern bewie­sen. Es genügt, sich zu fra­gen, wie vie­le Men­schen heu­te sonn­tags zur Kir­che gehen – und was sie über­haupt glau­ben –, um das zu erkennen.

Mar­cel De Cor­te sah im moder­ni­sti­schen Phi­lo­so­phen Mau­rice Blon­del (1861–1949) den­je­ni­gen, der den Imma­nen­tis­mus und den Vor­rang des Han­delns in die pasto­ra­le Theo­lo­gie des Zwei­ten Vati­ka­ni­schen Kon­zils ein­ge­führt hat. Wenn, wie Blon­del meint, weder die Exi­stenz Got­tes noch die Gött­lich­keit der Katho­li­zi­tät spe­ku­la­tiv bewie­sen wer­den kön­nen, ist das Abrut­schen in Sub­jek­ti­vis­mus und Pra­xis­phi­lo­so­phie unver­meid­lich. Am 4. Juni 2025 eröff­ne­te der Erz­bi­schof von Aix und Arles, Msgr. Chri­sti­an Del­arb­re, offi­zi­ell das Selig­spre­chungs­ver­fah­ren für Mau­rice Blon­del in der Kir­che Saint Jean de Mal­te in Aix-en-Pro­vence – Blon­dels Pfarr­kir­che – und erkann­te ihm damit eine theo­lo­gisch-phi­lo­so­phi­sche Vater­schaft in der Ent­wick­lung des nach­kon­zi­lia­ren Chri­sten­tums zu.

Keh­ren wir zurück zur Aus­sa­ge Pauls VI., daß „das Zwei­te Vati­ka­ni­sche Kon­zil nicht weni­ger auto­ri­ta­tiv, ja in man­cher Hin­sicht noch wich­ti­ger als das Kon­zil von Nicäa“ sei.

Das Zwei­te Vati­ka­ni­sche Kon­zil war zwei­fel­los ein gül­ti­ges Kon­zil – und in die­sem Sin­ne auto­ri­ta­tiv. Doch sei­ne histo­ri­sche Bedeu­tung ergibt sich nicht aus den Wohl­ta­ten, die es der Kir­che brach­te, wie im Fall von Nicäa, son­dern aus den schwer­wie­gen­den Schä­den, die es ver­ur­sach­te. Wenn das Zwei­te Vati­ca­num dazu bestimmt ist, in der Geschich­te einen stär­ke­ren Ein­druck zu hin­ter­las­sen als das Kon­zil von Nicäa, dann des­halb, weil die reli­giö­se Kri­se unse­rer Zeit schwer­wie­gen­der und tie­fer ist als die aria­ni­sche. Die Schä­den, die Erz­bi­schof Lefeb­v­re vor­aus­sah und die Paul VI. leug­ne­te, sind heu­te objek­tiv und offen­kun­dig. Die pasto­ra­le Theo­lo­gie des Zwei­ten Vati­ka­ni­schen Kon­zils hat sich im Ver­lauf der sech­zig Jah­re seit sei­nem Abschluß selbst wider­legt – und der Histo­ri­ker kann dar­an nicht vorbeigehen.

*Rober­to de Mat­tei, Histo­ri­ker, Vater von fünf Kin­dern, Pro­fes­sor für Neue­re Geschich­te und Geschich­te des Chri­sten­tums an der Euro­päi­schen Uni­ver­si­tät Rom, Vor­sit­zen­der der Stif­tung Lepan­to, Autor zahl­rei­cher Bücher, zuletzt in deut­scher Über­set­zung: Ver­tei­di­gung der Tra­di­ti­on: Die unüber­wind­ba­re Wahr­heit Chri­sti, mit einem Vor­wort von Mar­tin Mose­bach, Alt­öt­ting 2017, und Das Zwei­te Vati­ka­ni­sche Kon­zil. Eine bis­lang unge­schrie­be­ne Geschich­te, 2. erw. Aus­ga­be, Bobin­gen 2011.
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Über­set­zung: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: Cor­ri­spon­den­za Romana

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