
Angesichts der eskalierenden Konflikte im Nahen Osten und in der Ukraine nehmen die vatikanischen Medien Stellung zur Theorie des Präventivkriegs. Zwar wird der jüngste israelische Schlag gegen den Iran nicht explizit genannt, doch bildet er den offensichtlichen Kontext. Die Rechtfertigung solcher Angriffe durch israelische Offizielle und westliche Medien ruft Widerspruch hervor. In einem Interview mit den Vatikanmedien erklärt Don Mauro Cozzoli, emeritierter Professor für Moraltheologie an der Päpstlichen Lateranuniversität und Consultor der Glaubenskongregation, daß die katholische Kirche einen Präventivkrieg ethisch klar ablehnt: Zuerst zuzuschlagen, um einem möglichen Angriff zuvorzukommen, widerspreche dem kirchlichen Verständnis von gerechter Verteidigung.
Redet Don Cozzoli einem berechtigten Ziel das Wort, das aber mit zweifelhaften Mitteln erreicht werden soll?
Das Interview führte Gugliemo Gallone. Aufgrund seiner Bedeutung dokumentieren wir das vollständige Interview in deutscher Übersetzung:
Die Unzulässigkeit des Präventivkriegs aus der Sicht der katholischen Kirche
„Zuerst zuzuschlagen, um einen hypothetischen Angriff des Feindes zu verhindern, ist ethisch nicht vertretbar.“ Mit diesen Worten bringt Don Mauro Cozzoli die Haltung der katholischen Kirche zum Thema Präventivkrieg auf den Punkt.
Der Begriff hat eine lange Geschichte: Bereits 1758 führte Emerich de Vattel ihn in seinem Werk „Droit des gens“ ein, wo er das Konzept des „gerechten Krieges“ durch das der „Verteidigung“ ersetzte – ein Gedanke, der insbesondere im Zuge des Irakkrieges von 2003, den die USA und Verbündete führten, ins Zentrum der Debatte rückte.
Mehr als zwanzig Jahre später ist der Gedanke des Präventivkrieges angesichts der internationalen Lage aktueller denn je – und das inmitten eines tiefgreifenden Wandels in Anthropologie, Gesellschaft und Geopolitik, der grundlegende Überzeugungen früherer Generationen in Frage stellt. Die Welt hat sich verändert: An die Stelle der großen Demokratien sind heute Großmächte getreten, in denen oft das Machtstreben einzelner Staaten über dem Völkerrecht steht – und wo nicht selten die Stärke der Waffen den Dialog verdrängt.
Gugliemo Gallone: Der Katechismus der Katholischen Kirche erkennt das Recht auf legitime Verteidigung an. Aber wie steht er zur Möglichkeit eines präventiven Angriffes? Darf ein Staat aus moralischer Sicht der Kirche heraus handeln, bevor eine Bedrohung konkret geworden ist?
Don Cozzoli: Die katholische Kirche bezieht sich nicht ausdrücklich auf die Frage des Präventivkrieges. Im übrigen ist dieser Begriff erst in jüngster Zeit aufgekommen. Aus anderen Themen wie der Selbstverteidigung, zu denen sich die Kirche klar geäußert hat, läßt sich jedoch eine Lehre ableiten. Die Selbstverteidigung ist ein Prinzip der Vernunft, das die moralische Tradition der Kirche seit jeher lehrt. Ich beziehe mich hier auf zwei maßgebliche Dokumente der Kirche von heute. Das erste ist Gaudium et spes, die Konstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils über die Welt von heute. Ich zitiere wörtlich: „Solange die Gefahr eines Krieges besteht und solange es keine zuständige internationale Autorität gibt, die mit wirksamen Streitkräften ausgestattet ist, kann den Regierungen, sobald alle Möglichkeiten einer friedlichen Regelung ausgeschöpft sind, das Recht auf legitime Verteidigung nicht verweigert werden… Es ist eine Sache, die Waffen zu gebrauchen, um die gerechten Rechte der Völker zu verteidigen, und eine ganz andere, die eigene Herrschaft über andere Nationen durchzusetzen. Die Macht der Waffen legitimiert nicht ihren militärischen oder politischen Gebrauch.“ Der zweite Text ist der Katechismus der katholischen Kirche, der die Bedingungen für die Legitimität der Kriegsverteidigung genau umreißt. Dazu gehört, daß es keinen Raum für präventive Interventionen gibt. Die Gewalt des Angreifers muß in Aktion und nicht in Erwartung sein. Niemand verbietet die Möglichkeit, eine Verteidigung zu organisieren, sich mit modernen, zeitgemäßen Verteidigungssystemen auszustatten. Allerdings ist es ethisch nicht vertretbar, zuerst zuzuschlagen, um einen hypothetischen feindlichen Angriff zu vermeiden.
Gallone: Unter welchen Bedingungen erlaubt der Katechismus den Rückgriff auf Waffen?
Don Cozzoli: Um rechtmäßig zu sein, muß eine legitime Verteidigung vier sehr präzise Bedingungen erfüllen, die der Katechismus der Katholischen Kirche aufführt. Die erste: „daß der Schaden, den der Angreifer dem Volke oder der Gemeinschaft der Völker zufügt, dauerhaft, schwerwiegend und gewiß ist“. Hier finden wir sofort eine direkte Delegitimierung des Präventivkrieges: Wir sprechen von „verursachtem Schaden“, also muß ein „dauerhafter, schwerer und sicherer“ Angriff im Gange sein, nicht in Erwartung. Zweite Bedingung: „daß sich alle anderen Mittel zu seiner Beendigung als undurchführbar oder unwirksam erwiesen haben“. Übersetzt: Die Verteidigung kann nicht die erste Begründung sein. Dritte Bedingung: „Es bestehen begründete Erfolgsaussichten“, andernfalls besteht die Gefahr weiterer Schäden für die Bevölkerung und das Land. In diesem Sinne die vierte Bedingung: „daß der Rückgriff auf die Waffen kein größeres Übel und keine größere Unordnung verursacht als das zu beseitigende Übel“. Daraus läßt sich die Rechtswidrigkeit des Präventivkrieges ableiten.
Gallone: Im Zentrum vieler aktueller Konflikte steht die nukleare Aufrüstung. Versteht die Kirche die rechtlichen und historischen Gründe, warum bestimmte Länder seit dem Zweiten Weltkrieg über Atomwaffen verfügen? Und warum sollten sich andere Länder, die sich bedroht fühlen, diese Möglichkeit verwehren?
Don Cozzoli: Weil die nukleare Eskalation, die dann stattfinden würde, nicht mehr aufzuhalten wäre. Und es wäre eine sehr besorgniserregende Eskalation aus zwei Gründen. Erstens, weil der Krieg nicht mehr mit sogenannten konventionellen Waffen, sondern mit immer stärkeren Waffen geführt würde. Zweitens, weil wir sehen, wie sich kriegerische Auseinandersetzungen von den Schlachtfeldern in menschliche Ballungsräume verlagern. Dies geschieht bereits mit konventionellen Waffen, ganz zu schweigen von atomaren oder chemischen Waffen, bei denen die Gefahr von Massakern an der Bevölkerung besteht. „Der Einsatz von Waffen verursacht nicht mehr Übel und Unordnung als das zu beseitigende Übel. Bei der Beurteilung dieser Bedingung hat die Macht der modernen Zerstörungsmittel ein großes Gewicht“, heißt es im Katechismus der katholischen Kirche.
Gallone: In der komplexen Welt, in der wir uns heute befinden, wird es immer schwieriger, einen Dialog zu führen und auf die eigenen Interessen zugunsten des Gemeinwohls zu verzichten. Welche Alternativen zur Gewalt bietet das christliche Realismusverständnis?
Don Cozzoli: Die Kirche liefert keine strategischen Alternativen – das ist Aufgabe der Politik. Was sie jedoch anbietet, sind ethische und wertebasierte Grundlagen, die jeder Strategie vorausgehen müssen. Zwei dieser Alternativen möchte ich hervorheben – formuliert von den letzten beiden Päpsten:
Fratelli tutti, die Enzyklika von Papst Franziskus zur universellen Brüderlichkeit, und
die „entwaffnete und entwaffnende“ Friedensidee von Papst Leo XIII.
Fratelli tutti ist kein bloßes Schlagwort, sondern eine hohe moralische Haltung. Sie zielt darauf ab, im Zeitalter der Globalisierung eine neue Denkweise zu etablieren. Globalität darf nicht nur ein soziologischer oder ökonomischer Begriff sein – sie muß zu einem ethischen Auftrag werden.
Die Kirche hat keine strategischen Alternativen zu bieten. Das ist Sache der Politik. Aber die Kirche hat Werte und moralische Alternativen, die den strategischen Alternativen zugrunde liegen und vorgelagert sind. Ich möchte an zwei erinnern, an die beiden letzten Päpste: die Alternative der universellen Brüderlichkeit, Fratelli tutti, Papst Franziskus, und „Abrüstung und Friede ohne Waffen“, Papst Leo. Fratelli tutti ist kein Slogan, sondern ein hohes moralisches Gewissen, das immer gepflegt werden muß, um so mehr heute in der globalisierten Welt. Aber diese Globalität ist nicht nur eine soziologische, mediale oder wirtschaftliche Tatsache. Sie muß zu einer Aufgabe werden, die es zu bewältigen gilt. Das ist es, was es bedeutet, „Brüder alle“ zu sein: in jedem von uns ein Gewissen zu entwickeln, das die Logik des Feindes aufhebt, Beziehungen und Begegnungen schafft und den Dialog fördert, um Gegensätze zu überwinden. Dies ist die Alternative, die jedoch zu ihrer Verwirklichung einen vorgelagerten Wert und einen ethischen Inhalt braucht, der die Logik des anderen, der als Feind angesehen wird, auslöscht. Hier kommt der Dialog ins Spiel, der der Weg zu einem „entwaffneten und entwaffnenden“ Frieden ist, wie uns Papst Leo sagte: Ein Frieden, der tatsächlich in Rüstung investiert und auf dem Gleichgewicht der Rüstung beruht, ist ein verkappter Frieden. Der nichts garantiert.
Gallone: Vom heiligen Augustinus bis zum heiligen Thomas von Aquin – die moraltheologische Tradition der Kirche hat sich intensiv mit Fragen von Krieg und Frieden befaßt. Bedeutend ist auch der Katechismus von 1992 sowie päpstliche Lehrschreiben wie Pacem in terris von Johannes XXIII.: Welcher Beitrag ist Ihrer Meinung nach der wichtigste und warum?
Don Cozzoli: Sie sind alle wichtig, aber ich möchte ein weiteres hervorheben, nämlich Gaudium et spes: eine Kirche, die, wie wir in den einleitenden Worten des Dokumentes lesen, „an den Freuden und Hoffnungen, den Sorgen und Ängsten der Menschen von heute teilhat“. Eine teilnehmende Kirche: Das ist das Prinzip der Inkarnation. Und das, so fährt Gaudium et spes fort, „in Anbetracht des Schreckens und der Grausamkeit des Krieges, die durch den Fortschritt der wissenschaftlichen Waffen enorm gesteigert wurden“, uns dazu auffordert, „das Thema Krieg mit einer völlig neuen Mentalität zu betrachten, mens omnino nova“: mit einer radikal neuen mens. Das bedeutet, daß eine Kultur und Zivilisation des Friedens, noch bevor sie sich in Friedensstrategien ausdrückt, die den Politikern in Auftrag gegeben werden, in den Gewissen reifen muß, sie muß eine Kultur, eine mens, eine Mentalität werden. Es handelt sich um eine Reifung, die aus Prinzipien und Werten wie der Menschenwürde, der universellen Brüderlichkeit, dem Recht und der Gerechtigkeit besteht, die, wenn sie evangelisiert, verkündet und kultiviert werden, zu Gedanken und Beschlüssen des Friedens führen.
Einleitung/Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Osservatore Romano (Screenshot)