
Von Paolo Gulisano*
20. September 1870: Vor über 150 Jahren endete die als Risorgimento bekannte italienische Revolution mit der Einnahme Roms, das damals noch zum unabhängigen Kirchenstaat gehörte. Die Revolution endete, aber mit ihr endete auch der Kirchenstaat, das über tausend Jahre zuvor entstandene Patrimonium Petri.
Es war ein dramatisches Ereignis für die gesamte Christenheit, aber hundert Jahre später sollte Papst Paul VI. sagen, daß es sich um einen Eingriff der Vorsehung gehandelt habe. Die Kirche hatte dieses Ereignis als eine Tragödie erlebt; die neue Kirche von 1970 aber hielt es für richtig, daß es so war. Heute, da die Kirche von Rom immer unfreier wird und sich der Welt und ihren wirtschaftlichen, politischen und ideologischen Mächten immer mehr unterordnet, könnte dieses Urteil vielleicht auch revidiert werden.
Was jedoch mehr als 150 Jahre nach diesen Ereignissen am wichtigsten erscheint, ist die Erinnerung an das Heldentum jener, die zur Verteidigung des Papstes, zur Verteidigung der angegriffenen und beleidigten katholischen Kirche gekämpft haben. Ein selbstloses, edles und großzügiges Heldentum, das einer anderen Zeit würdig ist.
Damals entfesselte die Kriegsmaschinerie des neuen italienischen Staates ihre ganze Kraft gegen die Ewige Stadt. 60.000 Mann marschierten unter dem Befehl von General Raffaele Cadorna auf das Ziel zu. Eine Division stand unter dem Kommando von Nino Bixio, der blutrünstigen rechten Hand Garibaldis, der davon träumte, die Endlösung gegen den Papst zu erreichen.
Von italienischer Seite gab es keine förmliche Kriegserklärung, keine offizielle Rechtfertigung für den Angriff, was im übrigen auch schwierig gewesen wäre, da auf rechtlicher Ebene keine Anklage gegen den Heiligen Stuhl erhoben hätte werden können, um militärische Operationen zu begründen. Der irische Freiwillige Patrick O’Clery, der interessante Memoiren über die Ereignisse von 1870 hinterlassen hat, schrieb in Anspielung auf den italienischen König, daß die Invasion ein „königlicher Raubzug“ war.
Am 15. September wurde Civitavecchia eingenommen, und das italienische Expeditionskorps fand sich vor den Toren Roms wieder. In den folgenden Tagen wartete das Kommando auf genaue Anweisungen der Regierung, die damals ihren Sitz in Florenz hatte: Rom sollte eingenommen werden, aber wann? Am 18. September erhielt Cadorna das erwartete Telegramm: Das Datum, das in die Geschichte eingehen sollte, war der 20. September, die Herbsttaggleiche, der Tag, an dem das freimaurerische Arbeitsjahr eröffnet wurde. Die Sekte forderte ihren eigenen symbolischen Triumph über die Hauptstadt der Christenheit.
Am 19. September war der Papst zu den Feierlichkeiten auf dem Aracoeli und im Lateran erschienen, begrüßt von einer großen Menschenmenge, die ihn unter dem Ruf „Viva Pio IX“ zum letzten Mal als Papst und König bejubelte.

der Päpstlichen Truppen
Am Nachmittag, als er wußte, daß der letzte Akt der Tragödie bevorstand, schrieb er an General Hermann Kanzler, den Oberkommandierenden der Päpstlichen Armee des Kirchenstaates, wie sich dieser im Falle eines Angriffs verhalten sollte:
„Herr General, da nun ein großes Sakrileg und die größte Ungerechtigkeit bevorsteht und die Truppen eines katholischen Königs ohne Provokation, ja ohne den Anschein eines Motivs, die Hauptstadt der katholischen Welt belagern, ist es mir zunächst ein Bedürfnis, Ihnen, Herr General, und allen unseren Truppen für Ihr bisheriges großzügiges Verhalten, für Ihre Zuneigung zum Heiligen Stuhl und für Ihre Bereitschaft, sich ganz der Verteidigung dieser Metropole zu widmen, zu danken. Mögen diese Worte ein feierliches Dokument sein, das die Disziplin, die Treue und die Tapferkeit der Truppe im Dienste des Heiligen Stuhls bestätigt. Was die Dauer der Verteidigung anbelangt, so bin ich verpflichtet, anzuordnen, daß sie nur aus einem Protest besteht, der darauf abzielt, die angetane Gewalt festzustellen, aber nichts weiter, d. h. bei den ersten Kanonenschüssen sind Verhandlungen zur Kapitulation aufzunehmen. In einer Zeit, in der ganz Europa die zahlreichen Opfer beklagt als Folge eines Krieges zwischen zwei großen Nationen, darf niemals behauptet werden, daß der Stellvertreter Jesu Christi, obwohl er zu Unrecht angegriffen wird, in ein Blutvergießen einwilligen sollte. Unsere Sache ist die Sache Gottes, und wir legen unsere gesamte Verteidigung in seine Hände. Ich segne Sie von ganzem Herzen, Herr General, und alle unsere Truppen.“
Der vielgeschmähte „Tyrann“ des Vatikans hatte beschlossen, keinen Kampf bis zum bitteren Ende zu führen und sein gutes Recht auf Widerstand aufzugeben, um noch einmal Menschenleben zu retten. Vor allem aber hatte er beschlossen, den historischen Fehler seiner Vorgänger, die nach Avignon geflohen waren, nicht zu wiederholen: Rom sollte nie wieder ohne Papst sein.
Er würde die Stadt nicht verlassen, wozu er selbst 1849 veranlaßt worden war, wohl wissend, daß dies der Wunsch der italienischen Regierung und ihrer internationalen Freunde war: eine Abwesenheit, die nie wieder gefüllt werden würde.
Die Freimaurer hofften, daß der Papst mit seiner Kurie nach Wien verlegt und auf den Rang eines Kaplans von Kaiser Franz Joseph reduziert und zum Oberhaupt eines geografisch immer mehr eingegrenzten und umzingelten Katholizismus degradiert würde. Rom ohne den Papst wäre von der Katholizität gesäubert und zu seinem initiatorisch-heidnischen Glanz zurückgekehrt oder von der Göttin Vernunft illuminiert worden.
Die Episode von Luigi Ciari, dem ersten Zivilisten, der nach dem Beschuß durch die Bersaglieri durch die Bresche in die Stadt eindrang, ist bekannt: Ciari war ein Waldenser und schleppte protestantische Bibeln mit sich, begleitet von seinem Hund, dem er den Namen „Pio nono“ („Pius der Neunte“) gegeben hatte.
Der 20. September sollte den strahlenden Beginn einer neuen Ära markieren, die das Ende der Katholizität einläuten sollte, aber stattdessen war es die erste Gelegenheit, bei der das neue Italien erleben mußte, was später zu seinem „Vorrecht“ werden sollte: einen verstümmelten Sieg, um einen Begriff zu verwenden, der dem italienischen Nationalismus besonders teuer wurde.
Die letzte Schlacht begann um 5:10 Uhr morgens mit einer wütenden Kanonade auf die Porta Maggiore und die Porta Pia der römischen Stadtmauer. Es wurde schnell klar, daß Cadorna hier durchbrechen wollte. In der Zwischenzeit begann auch die Artillerie von Bixio, wild auf die Porta San Pancrazio zu feuern, und viele Kanonenschüsse gingen auf Trastevere und die Leostadt innerhalb der Leoninischen Mauern nieder.
Um 7.20 Uhr gelang es den Pionieren, eine Bresche in die Stadtmauer zu schlagen. Sofort wurden die Infanteriedivisionen und die Bersaglieri-Bataillone in der Nähe der Mauer zusammengezogen, von der aus die päpstlichen Verteidiger, die Kompanie von Hauptmann Berger nördlich der Bresche und die Kompanie von Hauptmann O’Reilly an der Porta Pia, ein intensives Gewehrfeuer eröffneten und die Italiener in die Enge trieben.
Um 9:35 Uhr berief General Kanzler jedoch einen letzten Kriegsrat ein. Nachdem er sich über den Zustand der Verteidigungsanlagen an den verschiedenen Punkten, insbesondere an der Bresche, sowie über die eindeutige Absicht der Angreifer, die Stadt einem furchtbaren Bombardement auszusetzen, vergewissert hatte, wurde in Übereinstimmung mit den am Vorabend vom Papst gegebenen Anweisungen die Kapitulation beschlossen.
Der Verteidigungsausschuß gab in der ganzen Stadt den Befehl, die weiße Flagge zu hissen und Parlamentarier zum italienischen Kommando zu schicken. Um 9:45 Uhr wehte eine große weiße Fahne auf dem Turm des Castro Pretorio, doch Cadorna ignorierte sie geflissentlich. Später sagte er, er habe sie nicht sehen können, aber in Wirklichkeit mußte Rom mit Gewalt eingenommen werden, am besten mit Blutvergießen, in einer Art Initiationsritus.
Die Kolonnen der Bersaglieri wurden daher von Cadorna selbst und seinen direkten Mitarbeitern, den Generälen Enrico Cosenz und Mazè de la Roche, zum Angriff geschickt, die ohne Widerstand der päpstlichen Zuaven in die Stadt eindrangen.
Die italienischen Offiziere eröffneten das Feuer auf die Freiwilligentruppen des Papstes, obwohl diese regungslos blieben und ihre Waffen schon niedergelegt hatten. Obwohl die weiße Fahne schon längst wehte, waren die Zuavi daher gezwungen, sich zu wehren. In der Zwischenzeit ließ Bixio weiter auf die Stadtteile neben dem Petersdom feuern. Die päpstlichen Offiziere protestierten energisch gegen solche Verstöße gegen alle militärischen und zivilen Vorschriften, ohne Erfolg: Die Zusammenstöße, das Töten und Gewalt gegen Gefangene gingen weiter.
Nach der Kapitulation begann in den Straßen Roms durch 4.000 von Garibaldis Rothemden, die den regulären italienischen Truppen in die Stadt gefolgt waren, die Jagd auf päpstliche Soldaten. Mehrere Tage lang wurden neben den Zuaven auch Zivilisten und Priester auf barbarische Weise ermordet.
Die offizielle Zahl der Opfer des „Sieges“ oder der durch die Plünderungen verursachten Sachschäden wurde nie bekannt. „Laßt das Volk sich austoben“, hatte Cadorna auf die an ihn herangetragenen Protesten geantwortet. Ein junger anglo-irischer Zuave, Daniel Curtin, wurde so schwer verprügelt, daß er nach einem 44tägigen Krankenhausaufenthalt in eine geschlossene psychiatrische Anstalt verlegt werden mußte.
Die 4.800 Gefangenen, die als italienische Staatsbürger (Emilianer, Marken, Venetianer, Lombarden usw.) galten, wurden des Hochverrats beschuldigt, weil sie gegen die Trikolore, die Revolutionsfahne des neuen Staates, die Waffen erhoben hatten. Nach einer dreitägigen Reise mit einer einzigen Brotration und unter Beschimpfungen, Bespucken, Folter und unter bewußt harten Bedingungen in den Gefängnissen des neuen „Königlichen Herrn“ wurden sie in die Festungen von Alessandria, Mantua, Peschiera und Verona deportiert.
Die 4.500 ausländischen Freiwilligen wurden ausgewiesen: Die Franzosen schifften sich in Civitavecchia nach Marseille ein; Kanadier, Engländer, Schotten und Iren wurden nach England geschickt. Die Belgier und die Niederländer wurden an die Schweizer Grenze gebracht und mußten zu Fuß in ihre Länder zurückkehren. Gleiches galt für die rund 800 Zuaven aus dem deutschen Sprachraum (Bayern, Österreich, Schweiz, Baden, dem preußischen Rheinland).
Vor der Abreise am 21. September wollte General Kanzler seine Männer auf dem Petersplatz versammeln. In einer Atmosphäre großer Ergriffenheit hielt der Offizier seine letzte Rede:
„Soldaten, die Zeit ist gekommen, in der wir uns trennen und den Dienst Seiner Heiligkeit verlassen müssen, der uns mehr als alles andere am Herzen lag. Rom ist gefallen, aber dank Eurer Tapferkeit, Eurer Treue, Eurer bewundernswerten Einheit ist es ehrenvoll gefallen. Einige werden vielleicht beklagen, daß die Verteidigung nicht weitergegangen ist, aber ein Brief Seiner Heiligkeit, der später veröffentlicht wird, wird alles erklären. Dieses Zeugnis des erhabensten Papstes wird für alle ein Trost sein und die schönste Entschädigung, die wir unter den gegenwärtigen traurigen Umständen erhalten konnten. Zum Schluß muß ich Euch noch mitteilen, daß Seine Heiligkeit, da die Armee durch höhere Gewalt aufgelöst wurde, entschieden hat, alle vom Treueeid zu entbinden. Lebt wohl, liebe Kameraden, und denkt an euren Führer, der euch allen ein unauslöschliches und ehrendes Andenken bewahren wird.“
Schließlich erfüllte sich die letzte Hoffnung dieses Heeres von neuen Kreuzrittern, die alles hinter sich gelassen hatten, um nach Rom zu eilen, um für die Verteidigung des Throns Petri zu kämpfen, zu leiden und zu sterben: Der gefangene Papst erschien auf einem Balkon, um ihnen den feierlichen Segen zu erteilen.
Ein Augenzeuge beschrieb diesen intensiven und denkwürdigen Moment:
„Der Trompetenruf zur Aufstellung war bereits erklungen und wir standen in Reih und Glied, als einige Stimmen aus der Mitte des Platzes riefen: ‚Der Papst! Der Papst!‘ In diesem Augenblick brachen Reiter und Bauern, Offiziere und Soldaten aus ihren Reihen aus und rannten auf den Obelisken zu, wobei sie in einen wirbelnden und gewaltigen Schrei ausbrachen. ‚Viva il Papa‘, ‚Viva Pio IX‘, ‚Viva il Papa Re‘, vermischt mit Schluchzen, Stöhnen und Seufzen. Als der verehrte Pontifex dann seine Hände zum Himmel erhob und uns segnete, sie wieder senkte und eine Geste machte, als wolle er uns alle an sein väterliches Herz drücken, und dann, in Tränen aufgelöst, von dem Balkon floh, weil er unseren Anblick nicht mehr ertragen konnte, da konnte in der Tat niemand etwas anderes tun, als die Sterne mit Rufen, mit Zittern und Schimpfen gegen jene zu verletzen, die der Seele eines so guten Vaters und Herrschers solchen Kummer bereitet hatten!“
Die jungen Vertreter des besten Europas umarmten sich und verließen einander für immer: die Vendéaner des noch stolzen Charette1 und die Tiroler, die Iren und die Bretonen, und all jene, die in jenen Tagen Zeuge eines historischen Ereignisses geworden waren, das bis vor kurzem absolut undenkbar gewesen war: das Ende der weltlichen Macht der Kirche.
Sie kehrten in ihre Länder zurück, von denen einige ihrerseits für ihren Glauben gemartert worden waren, mit dem Wissen um das Geschehene. Sie hatten den ideologischen Haß gesehen, der gegen das Kreuz Christi entfesselt worden war.
*Paolo Gulisano ist ein italienischer Arzt, Schriftsteller und Essayist, der vor allem für seine Arbeiten über Literatur, Geschichte, christliche Themen und die Kultur des keltischen Raums bekannt ist. Er publizierte u. a. über C.S. Lewis, Tolkien, Hilaire Belloc, Chesterton und John Henry Newman.
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: MiL
1 Athanase Charles Marie Charette de la Contrie (1832–1911), ein französischer Adliger, wurde als Anführer der Päpstlichen Zuaven bekannt – also der Freiwilligenarmee, die den Kirchenstaat bis zum 20. September 1870 verteidigte.