
Der argentinische Philosoph und Blogger Caminante Wanderer schrieb den folgenden Nachruf auf den bekannten lateinamerikanischen Schriftsteller Mario Vargas Llosa, ohne noch vom Tod von Papst Franziskus, ebenfalls Lateinamerikaner, zu wissen, dennoch läßt sich in gewisser Weise eine Brücke schlagen, was die Lage der Kirche betrifft, die Vargas Llosa beschrieb. Der Schriftsteller wie Franziskus waren Jahrgang 1936.
Mario Vargas Llosa RIP
Von Caminante Wanderer
Vor ein paar Tagen ist der peruanische Schriftsteller Mario Vargas Llosa gestorben. Aus irgendeinem Grund habe ich, als ich jung war – ich vermute, weil sich das Buch in meiner Hausbibliothek befand –,„Das Gespräch in der Kathedrale“ gelesen, in einer sehr häßlichen Ausgabe von Seix Barral. Als ich einmal angefangen hatte, konnte ich es nicht mehr weglegen. Ich erinnere mich, daß ich die ganze Nacht damit verbracht habe, bis ich es zu Ende gelesen hatte. Ich war fasziniert. Und ich fing an, alles zu verschlingen, was er bis zu diesem Zeitpunkt geschrieben hatte. Das letzte Buch, das ich von ihm mit Vergnügen las, war „Der Fisch im Wasser“. Aber ich konnte nicht weitermachen. Es war nicht nur seine linke Ideologie in seinen frühen Schriften, sondern auch sein ständiges Bedürfnis nach reißerischen und sogar pornografischen Geschichten.
Als ich dann hier und da Nachrichten über sein Leben las, entdeckte ich, daß er ex abundantia cordis sprach. Ein Leben, das den Eitelkeiten und Vergnügungen des Fleisches gewidmet war, auch wenn er schon weit über achtzig war. Eine vergeudete Intelligenz und eine vergeudete Feder, denn wenn er, obwohl er mit jenen Lastern belastet war, die den Verstand trüben und den Willen schwächen, so schreiben konnte, wie er schrieb, wie viel Gutes hätte er tun können, wenn er tugendhaft gewesen wäre! Die großen Geheimnisse der menschlichen Freiheit und der Wege Gottes.
Ein lieber Freund schickte mir den folgenden Text von Vargas Llosa. Mehr als passend für diesen Blog:
„…Nachdem sie so viel Einfluß auf die Geschichte gehabt haben, nachdem sie sie mit Feuer gezeichnet haben, verschwinden die Kirchen nun allmählich, ohne daß sie jemand angreift, und trotz der Tatsache, daß sie von allen Regierungen subventioniert und von niemandem belästigt werden, weil sich Nietzsches ferne Beobachtung bewahrheitet hat: Gott ist tot, und niemand kümmert sich darum, weil die Männer und Frauen schließlich gelernt haben, ohne Gott zu leben. Er war auch ein Produkt der Kultur, und da sich die Kultur in Unterhaltung verwandelt hat, haben wir noch nicht einmal bemerkt, daß die alten Götter durch Kickertische, Bilder auf dem Bildschirm, Zirkus, Cartoons und vor allem durch die Werbung und ihre vielen Erscheinungsformen ersetzt wurden, die allmählich nicht mehr als solche wahrgenommen werden.
Ich vermute, daß die katholische Kirche ihr Todesurteil besiegelt hat, als sie begann, sich zu modernisieren, als diese Bastion der Männlichkeit und des Konservatismus, der Intoleranz und des Dogmatismus, die sie einst war, begann, sich zu entspannen, einzuknicken, fortschrittlichen Priestern und Laien Zugeständnisse zu machen. Letztere setzten ihren Willen durch, aber statt des von ihnen geforderten Aggiornamento versetzten sie der Kirche den Hammerschlag. Mit anderen Worten, es ist auf sie zurückgefallen. Es schien unmöglich, und doch geschah es: Die Kirche begann, Frauen zu weihen und sie zu Bischöfen zu ernennen, erlaubte Priestern zu heiraten, wie protestantischen Pastoren, und der Papst selbst feierte eine Homo-Ehe im Petersdom. Meine arme Mutter, Gott hab sie selig, stieß einen herzzerreißenden Schrei aus und verlor das Bewußtsein, als sie diese Nachricht hörte und die Szene auf dem Tablet sah. Sie stürzte aus dem Rollstuhl auf den Boden. Die arme alte Dame. ‚Es waren unverzichtbare Fortschritte, um sich der Zeit anzupassen‘, sagt Osorio. ‚Ohne sie hätte die Kirche angefangen zu verwelken wie eine Rose, die lange Zeit der Sonne ausgesetzt war.‘ Ist es aber nicht vielleicht genau das, was geschehen ist?
Natürlich bin ich auch in diesem Punkt anderer Meinung als er. Die Menschen mochten die Kirche, weil sie dem Leben, der Gesellschaft, wie sie ist, nicht ähnelte, weil sie das Gegenteil der weltlichen Existenz darstellte. Im Innern der Kirche fühlte man sich bereits in einer anderen Welt, in einem Gebiet, das weit vom Alltag entfernt war. Es war eine schöne Illusion, bestehend aus Riten, Gesängen, Weihrauch, lateinischen Sätzen, die den Gläubigen, weil sie sie nicht verstanden, weise und himmlisch erschienen, Anspielungen auf ein vollkommenes, heroisches Leben, das von Reinheit, Unschuld und innerem Frieden geprägt war. Heute hat die Kirche aufgehört, dieser Zufluchtsort zu sein: Sie ist eine Erweiterung des Alltags, in der fast alles erlaubt ist, in der es keine Tabus oder starren Dogmen mehr gibt. Die Kirche hat ihr Mysterium verloren und ist nicht mehr interessant; sie ähnelt den politischen Parteien, an die niemand glaubt, den Studentenvereinen oder den Fußballclubs. Als der Vatikan feststellte, daß das Fegefeuer nicht existiert, ging es für die Kirche in die falsche Richtung. Die Abschaffung der Hölle beruhigte natürlich viele sündige Gläubige, enttäuschte aber andere, die davon träumten, daß ihre Feinde, die sie mißhandelt und ausgebeutet hatten, auf ewig in den Flammen des Beelzebub brennen würden. Ohne Flammen und ohne Beelzebub hat das Jenseits für viele Gläubige an Attraktivität verloren. Nun heißt es, der Vatikan wolle auch noch erklären, daß der Himmel nur symbolisch und metaphorisch existiert, aber in Wahrheit auch nicht greifbar und materiell. Arme christliche Märtyrer! Sie wurden gefoltert, von wilden Tieren in Stücke gerissen, bei lebendigem Leib verbrannt, um die Grundsätze und Wahrheiten des christlichen Glaubens zu verteidigen, und es stellt sich heraus, daß weder Hölle noch Fegefeuer noch Himmel existieren. Wem und wozu könnte die Kirche unter diesen Bedingungen dienen?“
Mario Vargas Llosa: Los vientos, Letras Libres, CDMX, 2021, S. 24.
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Caminante Wanderer