
Von Roberto de Mattei*
Vor achtzig Jahren, vom 4. bis 11. Februar 1945, trafen die Führer der drei gegen den Nationalsozialismus verbündeten Mächte, Franklin D. Roosevelt, Winston Churchill und Josef Stalin, in Jalta auf der Krim zusammen, um über die Nachkriegszeit zu beraten. Die drei Politiker hatten sich bereits im November 1943 in Teheran getroffen, aber damals war die Rote Armee noch weit von deutschem Boden entfernt, die britischen und amerikanischen Streitkräfte waren noch nicht in Frankreich gelandet und saßen in Italien fest. Die Großmächte, die sie vertraten, Großbritannien, die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion, befanden sich nun auf dem Weg zum Sieg, und in Jalta berieten sie über den Frieden, der nach dem Ende des Krieges folgen sollte.
Jalta war ein Badeort am Schwarzen Meer, einer der wenigen Orte, die von den Kriegswirren verschont geblieben waren, und in dem alles arrangiert worden war, um die großen Mächte zu beeindrucken. Roosevelt wohnte im Livadija-Palast, einem Marmorgebäude aus der Zarenzeit, Churchill im Woronzow-Palast und Stalin im Palast von Fürst Wladislaw. Die drei Führer trafen sich nur zu offiziellen Sitzungen und Banketten im Livadija, ohne darüber hinaus Gelegenheit zu privaten Gesprächen miteinander zu haben.
Nach dem Molotow-Ribbentrop-Abkommen vom August 1939 und dem deutschen Einmarsch in Rußland 1941 hatten sich die internationalen Allianzen geändert, aber Stalins Forderungen blieben unverändert. In den Jahren 1939 und 1940 hatte der Kremlchef im Gegenzug für das Abkommen von Hitler eine große Anzahl von Gebieten in Osteuropa erhalten. Auf dem Gipfeltreffen in Teheran vom 28. November bis 1. Dezember 1943 hatten sowohl Churchill als auch Roosevelt die sogenannte Curzon-Linie als Ostgrenze Polens akzeptiert, eine hypothetische, für Rußland günstige Grenze, die 1920 von Lord Curzon zur Beendigung des polnisch-sowjetischen Krieges gezogen worden war. Bei einem anschließenden Treffen in Moskau am 9. Oktober 1944 überreichte Churchill dem sowjetischen Diktator ein Blatt Papier mit den prozentualen Anteilen der jeweiligen Einflußzonen in Mitteleuropa.
In Jalta bekundete der Kremlchef 1945 seine Absicht, nicht nur die im Zuge des Abkommens mit dem Dritten Reich erhaltenen Gebiete zu behalten, sondern seine Grenzen nach Westen zu erweitern. Außerdem sollten die polnische und die jugoslawische Exilregierung in London, die bisher von den Alliierten als rechtmäßig anerkannt worden waren, durch kommunistische Regierungen ersetzt werden. In Jalta wurde auch das Schicksal der Russen besiegelt, die es gewagt hatten, sich gegen Stalin aufzulehnen. Ihre Geschichte wurde in zahlreichen Büchern dokumentiert, darunter im bahnbrechenden Werk „Victims of Yalta“ von Graf Nikolai Tolstoi (London 1977, dt. Ausgabe: „Die Verratenen von Jalta. Englands Schuld vor der Geschichte“, München 1978), in dem die Rolle Großbritanniens und der Alliierten bei der erzwungenen Auslieferung sowjetischer Kriegsgefangener und Flüchtlinge an die UdSSR angeprangert wird. Nach dem geheimen Moskauer Abkommen von 1944, das 1945 in Jalta bestätigt wurde, sollten alle Bürger der Sowjetunion, einschließlich Kosaken, Ukrainer und Bürger der baltischen Republiken, die die Wehrmacht unterstützt hatten, ohne Wahlmöglichkeit repatriiert werden. Auf sie wartete der Tod oder der Gulag.
Roosevelt setzte sich auch für die Gründung einer internationalen Organisation ein, die den ewigen Frieden in der Welt sichern sollte, die künftige UNO, die am 24. Oktober desselben Jahres ins Leben gerufen wurde und unter der Kontrolle von „vier Polizisten“ stand, denen ein „Vetorecht“ zugestanden wurde: Vereinigte Staaten, Vereinigtes Königreich, Sowjetunion und Republik China. Der „fünfte Polizist“, Frankreich, wurde nicht nach Jalta eingeladen, was den Zorn seines neuen Führers General Charles de Gaulle erregte.
Wie François Furet feststellt, hatte Stalin bezüglich seiner Forderungen weniger Schwierigkeiten mit den Führern der Demokratien als mit dem NS-Diktator („Le Passé d’une illusion. Essai sur l’idée communiste au XXe siècle“, Paris 1995, S. 392, dt. Ausg. „Das Ende der Illusion. Der Kommunismus im 20. Jahrhundert, München 1996). Doch 1943 wurden die Gruben von Katyn in der Nähe von Smolensk entdeckt, in denen die Deutschen die Leichen von etwa 22.000 polnischen Offizieren und Zivilisten gefunden hatten, die im Frühjahr 1940 von Stalin massakriert worden waren. Als Churchill in Jalta eine Landung der Alliierten auf dem Balkan vorschlug, um den sowjetischen Einfluß dort einzudämmen, war Stalin strikt dagegen und blockierte den Plan. „Hier kommen wir zur entscheidenden Frage“, schrieb der deutsche Historiker Joachim Fest: „Warum hat das Nein Stalins die hegemonialen Pläne des sowjetischen Diktators in den Augen der Westmächte nicht verdeutlicht? Die westlichen Führer waren blind“ (La Repubblica, 28. Januar 2005).
Wenn Churchill sich der Expansionsbestrebungen des kommunistischen Rußlands bewußt war, so war Roosevelt voller Illusionen. Als Stalin am 8. Februar 1945 in Jalta auf die Gesundheit des Dreierbündnisses anstieß, sagte er: „In einem Bündnis sollten sich die Verbündeten niemals gegenseitig betrügen. Vielleicht ist das naiv? Erfahrene Diplomaten mögen sagen: ‚Und warum sollte ich meinen Verbündeten nicht täuschen?‘ Aber ich, als naiver Mensch, denke, daß es gut ist, meinen Verbündeten nicht zu täuschen, selbst wenn er ein Narr ist“ (Winston Churchill: The Second World War, Bd. VI. Triumph und Tragödie, London 1953, S. 47). Stalin gewährte seinen Verbündeten lediglich eine gemeinsame Erklärung über ein befreites Europa, in der er freie Wahlen und die Einführung der Demokratie in Osteuropa versprach, offensichtlich allerdings nach seinen Vorstellungen von Demokratie. Zurück in den Vereinigten Staaten brachte Roosevelt vor dem Kongreß seine Überzeugung zum Ausdruck, daß die Grundlagen für eine Ära des „dauerhaften Friedens“ geschaffen worden seien, die das klassische diplomatische Konzept des Gleichgewichts der Kräfte endgültig überwinden würde. Der amerikanische Präsident gab ein wohlwollendes Urteil über Stalin ab und schrieb seine Qualitäten der Erziehung zu, die er im Priesterseminar erhalten hatte: „Ich glaube, ihm wurde beigebracht, wie sich ein christlicher Gentleman verhalten sollte“ (Henry Kissinger: The Art of Diplomacy, New York 2020; dt. Ausgabe: Die Kunst der Diplomatie. Meine Erfahrungen in der Weltpolitik, Berlin 2020).
Bereits im April 1945, zwei Monate nach Jalta, wurden die Verstöße gegen die Erklärung eklatant, insbesondere in bezug auf Polen. Nach dem Krieg gaben die Amerikaner zu, daß sie in Jalta getäuscht worden waren, aber sie waren bereit, sich täuschen zu lassen, und die Russen hatten keine andere Wahl, als sie zu täuschen. Wie Joachim Fest feststellt, waren Washington und London jedoch nicht gezwungen, ganz Osteuropa an den Kreml abzutreten. Während des Krieges hatten sie immer noch ein gewaltiges Druckmittel in der Hand: die hauptsächlich amerikanischen Militärgüter, ohne die die Rote Armee nicht kämpfen und vorrücken konnte. Hätten sie gedroht, diese Lieferungen zu blockieren, hätte die Geschichte vielleicht einen anderen Verlauf genommen. Fest erinnert daran, was Peter der Große sagte, als er seine Elite zum Studium nach Potsdam, Stockholm oder London schickte: Rußland müsse vom Westen lernen und sich dann von seinen Werten abwenden. Diese Lektion sollten sich diejenigen stets vor Augen halten, die sich allzu leicht von den Zaren des Kremls verführen lassen.
Der Zweite Weltkrieg hatte begonnen, um Polens Freiheit und Unabhängigkeit zu verteidigen, doch in Jalta opferten die alliierten Führer Polens Grenzen, seine legitime Regierung und freie Wahlen, um einen Scheinfrieden mit der Sowjetunion zu sichern. Das Krim-Treffen, das eine friedliche Zukunft für die Menschheit hätte sichern sollen, legte stattdessen den Grundstein für den Eisernen Vorhang, der Europa bis zum Fall der Berliner Mauer im Jahr 1989 spalten sollte.
Das Abkommen von Jalta weihte die imperialistische Expansion Rußlands ein und wurde wie der Münchner Frieden von 1938 zum Symbol jener Politik der Kapitulation, die die Mittel- und Osteuropäer als „westlichen Verrat“ bezeichnen. Diese Bereitschaft, sich täuschen zu lassen und überzogenen Optimismus mit zynischem Realismus zu verbinden, ist ein Risiko, das immer noch groß ist und an das man sich in einer Zeit erinnern sollte, in der US-Präsident Donald Trump ankündigt, daß er die Ukraine zwingen kann, Frieden mit ihrem russischen Aggressor zu schließen. Wie werden die Bedingungen eines Abkommens aussehen, bei dem die am unmittelbarsten Betroffenen, die Ukrainer, nicht am Verhandlungstisch sitzen? Frieden ist gut, aber die Geschichte zeigt, daß es schlimmer ist, den Frieden zu verlieren, als einen Krieg zu verlieren.
*Roberto de Mattei, Historiker, Vater von fünf Kindern, Professor für Neuere Geschichte und Geschichte des Christentums an der Europäischen Universität Rom, Vorsitzender der Stiftung Lepanto, Autor zahlreicher Bücher, zuletzt in deutscher Übersetzung: Verteidigung der Tradition: Die unüberwindbare Wahrheit Christi, mit einem Vorwort von Martin Mosebach, Altötting 2017, und Das Zweite Vatikanische Konzil. Eine bislang ungeschriebene Geschichte, 2. erw. Ausgabe, Bobingen 2011.
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Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Corrispondenza Romana