Jalta 1945: Der Verrat des Westens

Das Diktat der Sieger


In Jalta trafen sich im Februar 1945 die drei Siegermächte Großbritannien, die USA und die UdSSR, um die Welt unter sich aufzuteilen und die Nachkriegsordnung festzulegen. Weder die Besiegten noch die anderen europäischen Völker, über deren Schicksal entschieden wurde, waren eingeladen.
In Jalta trafen sich im Februar 1945 die drei Siegermächte Großbritannien, die USA und die UdSSR, um die Welt unter sich aufzuteilen und die Nachkriegsordnung festzulegen. Weder die Besiegten noch die anderen europäischen Völker, über deren Schicksal entschieden wurde, waren eingeladen.

Von Rober­to de Mattei*

Vor acht­zig Jah­ren, vom 4. bis 11. Febru­ar 1945, tra­fen die Füh­rer der drei gegen den Natio­nal­so­zia­lis­mus ver­bün­de­ten Mäch­te, Frank­lin D. Roo­se­velt, Win­s­ton Chur­chill und Josef Sta­lin, in Jal­ta auf der Krim zusam­men, um über die Nach­kriegs­zeit zu bera­ten. Die drei Poli­ti­ker hat­ten sich bereits im Novem­ber 1943 in Tehe­ran getrof­fen, aber damals war die Rote Armee noch weit von deut­schem Boden ent­fernt, die bri­ti­schen und ame­ri­ka­ni­schen Streit­kräf­te waren noch nicht in Frank­reich gelan­det und saßen in Ita­li­en fest. Die Groß­mäch­te, die sie ver­tra­ten, Groß­bri­tan­ni­en, die Ver­ei­nig­ten Staa­ten und die Sowjet­uni­on, befan­den sich nun auf dem Weg zum Sieg, und in Jal­ta berie­ten sie über den Frie­den, der nach dem Ende des Krie­ges fol­gen sollte.

Jal­ta war ein Bade­ort am Schwar­zen Meer, einer der weni­gen Orte, die von den Kriegs­wir­ren ver­schont geblie­ben waren, und in dem alles arran­giert wor­den war, um die gro­ßen Mäch­te zu beein­drucken. Roo­se­velt wohn­te im Liv­a­di­ja-Palast, einem Mar­mor­ge­bäu­de aus der Zaren­zeit, Chur­chill im Woron­zow-Palast und Sta­lin im Palast von Fürst Wla­dis­law. Die drei Füh­rer tra­fen sich nur zu offi­zi­el­len Sit­zun­gen und Ban­ket­ten im Liv­a­di­ja, ohne dar­über hin­aus Gele­gen­heit zu pri­va­ten Gesprä­chen mit­ein­an­der zu haben.

Nach dem Molo­tow-Rib­ben­trop-Abkom­men vom August 1939 und dem deut­schen Ein­marsch in Ruß­land 1941 hat­ten sich die inter­na­tio­na­len Alli­an­zen geän­dert, aber Sta­lins For­de­run­gen blie­ben unver­än­dert. In den Jah­ren 1939 und 1940 hat­te der Kreml­chef im Gegen­zug für das Abkom­men von Hit­ler eine gro­ße Anzahl von Gebie­ten in Ost­eu­ro­pa erhal­ten. Auf dem Gip­fel­tref­fen in Tehe­ran vom 28. Novem­ber bis 1. Dezem­ber 1943 hat­ten sowohl Chur­chill als auch Roo­se­velt die soge­nann­te Cur­zon-Linie als Ost­gren­ze Polens akzep­tiert, eine hypo­the­ti­sche, für Ruß­land gün­sti­ge Gren­ze, die 1920 von Lord Cur­zon zur Been­di­gung des pol­nisch-sowje­ti­schen Krie­ges gezo­gen wor­den war. Bei einem anschlie­ßen­den Tref­fen in Mos­kau am 9. Okto­ber 1944 über­reich­te Chur­chill dem sowje­ti­schen Dik­ta­tor ein Blatt Papier mit den pro­zen­tua­len Antei­len der jewei­li­gen Ein­fluß­zo­nen in Mitteleuropa.

In Jal­ta bekun­de­te der Kreml­chef 1945 sei­ne Absicht, nicht nur die im Zuge des Abkom­mens mit dem Drit­ten Reich erhal­te­nen Gebie­te zu behal­ten, son­dern sei­ne Gren­zen nach Westen zu erwei­tern. Außer­dem soll­ten die pol­ni­sche und die jugo­sla­wi­sche Exil­re­gie­rung in Lon­don, die bis­her von den Alli­ier­ten als recht­mä­ßig aner­kannt wor­den waren, durch kom­mu­ni­sti­sche Regie­run­gen ersetzt wer­den. In Jal­ta wur­de auch das Schick­sal der Rus­sen besie­gelt, die es gewagt hat­ten, sich gegen Sta­lin auf­zu­leh­nen. Ihre Geschich­te wur­de in zahl­rei­chen Büchern doku­men­tiert, dar­un­ter im bahn­bre­chen­den Werk „Vic­tims of Yal­ta“ von Graf Niko­lai Tol­stoi (Lon­don 1977, dt. Aus­ga­be: „Die Ver­ra­te­nen von Jal­ta. Eng­lands Schuld vor der Geschich­te“, Mün­chen 1978), in dem die Rol­le Groß­bri­tan­ni­ens und der Alli­ier­ten bei der erzwun­ge­nen Aus­lie­fe­rung sowje­ti­scher Kriegs­ge­fan­ge­ner und Flücht­lin­ge an die UdSSR ange­pran­gert wird. Nach dem gehei­men Mos­kau­er Abkom­men von 1944, das 1945 in Jal­ta bestä­tigt wur­de, soll­ten alle Bür­ger der Sowjet­uni­on, ein­schließ­lich Kosa­ken, Ukrai­ner und Bür­ger der bal­ti­schen Repu­bli­ken, die die Wehr­macht unter­stützt hat­ten, ohne Wahl­mög­lich­keit repa­tri­iert wer­den. Auf sie war­te­te der Tod oder der Gulag.

Roo­se­velt setz­te sich auch für die Grün­dung einer inter­na­tio­na­len Orga­ni­sa­ti­on ein, die den ewi­gen Frie­den in der Welt sichern soll­te, die künf­ti­ge UNO, die am 24. Okto­ber des­sel­ben Jah­res ins Leben geru­fen wur­de und unter der Kon­trol­le von „vier Poli­zi­sten“ stand, denen ein „Veto­recht“ zuge­stan­den wur­de: Ver­ei­nig­te Staa­ten, Ver­ei­nig­tes König­reich, Sowjet­uni­on und Repu­blik Chi­na. Der „fünf­te Poli­zist“, Frank­reich, wur­de nicht nach Jal­ta ein­ge­la­den, was den Zorn sei­nes neu­en Füh­rers Gene­ral Charles de Gaul­le erregte.

Wie Fran­çois Furet fest­stellt, hat­te Sta­lin bezüg­lich sei­ner For­de­run­gen weni­ger Schwie­rig­kei­ten mit den Füh­rern der Demo­kra­tien als mit dem NS-Dik­ta­tor („Le Pas­sé d’une illu­si­on. Essai sur l’idée com­mu­ni­ste au XXe siè­cle“, Paris 1995, S. 392, dt. Ausg. „Das Ende der Illu­si­on. Der Kom­mu­nis­mus im 20. Jahr­hun­dert, Mün­chen 1996). Doch 1943 wur­den die Gru­ben von Katyn in der Nähe von Smo­lensk ent­deckt, in denen die Deut­schen die Lei­chen von etwa 22.000 pol­ni­schen Offi­zie­ren und Zivi­li­sten gefun­den hat­ten, die im Früh­jahr 1940 von Sta­lin mas­sa­kriert wor­den waren. Als Chur­chill in Jal­ta eine Lan­dung der Alli­ier­ten auf dem Bal­kan vor­schlug, um den sowje­ti­schen Ein­fluß dort ein­zu­däm­men, war Sta­lin strikt dage­gen und blockier­te den Plan. „Hier kom­men wir zur ent­schei­den­den Fra­ge“, schrieb der deut­sche Histo­ri­ker Joa­chim Fest: „War­um hat das Nein Sta­lins die hege­mo­nia­len Plä­ne des sowje­ti­schen Dik­ta­tors in den Augen der West­mäch­te nicht ver­deut­licht? Die west­li­chen Füh­rer waren blind“ (La Repubbli­ca, 28. Janu­ar 2005).

Wenn Chur­chill sich der Expan­si­ons­be­stre­bun­gen des kom­mu­ni­sti­schen Ruß­lands bewußt war, so war Roo­se­velt vol­ler Illu­sio­nen. Als Sta­lin am 8. Febru­ar 1945 in Jal­ta auf die Gesund­heit des Drei­er­bünd­nis­ses anstieß, sag­te er: „In einem Bünd­nis soll­ten sich die Ver­bün­de­ten nie­mals gegen­sei­tig betrü­gen. Viel­leicht ist das naiv? Erfah­re­ne Diplo­ma­ten mögen sagen: ‚Und war­um soll­te ich mei­nen Ver­bün­de­ten nicht täu­schen?‘ Aber ich, als nai­ver Mensch, den­ke, daß es gut ist, mei­nen Ver­bün­de­ten nicht zu täu­schen, selbst wenn er ein Narr ist“ (Win­s­ton Chur­chill: The Second World War, Bd. VI. Tri­umph und Tra­gö­die, Lon­don 1953, S. 47). Sta­lin gewähr­te sei­nen Ver­bün­de­ten ledig­lich eine gemein­sa­me Erklä­rung über ein befrei­tes Euro­pa, in der er freie Wah­len und die Ein­füh­rung der Demo­kra­tie in Ost­eu­ro­pa ver­sprach, offen­sicht­lich aller­dings nach sei­nen Vor­stel­lun­gen von Demo­kra­tie. Zurück in den Ver­ei­nig­ten Staa­ten brach­te Roo­se­velt vor dem Kon­greß sei­ne Über­zeu­gung zum Aus­druck, daß die Grund­la­gen für eine Ära des „dau­er­haf­ten Frie­dens“ geschaf­fen wor­den sei­en, die das klas­si­sche diplo­ma­ti­sche Kon­zept des Gleich­ge­wichts der Kräf­te end­gül­tig über­win­den wür­de. Der ame­ri­ka­ni­sche Prä­si­dent gab ein wohl­wol­len­des Urteil über Sta­lin ab und schrieb sei­ne Qua­li­tä­ten der Erzie­hung zu, die er im Prie­ster­se­mi­nar erhal­ten hat­te: „Ich glau­be, ihm wur­de bei­gebracht, wie sich ein christ­li­cher Gen­tle­man ver­hal­ten soll­te“ (Hen­ry Kis­sin­ger: The Art of Diplo­ma­cy, New York 2020; dt. Aus­ga­be: Die Kunst der Diplo­ma­tie. Mei­ne Erfah­run­gen in der Welt­po­li­tik, Ber­lin 2020).

Bereits im April 1945, zwei Mona­te nach Jal­ta, wur­den die Ver­stö­ße gegen die Erklä­rung ekla­tant, ins­be­son­de­re in bezug auf Polen. Nach dem Krieg gaben die Ame­ri­ka­ner zu, daß sie in Jal­ta getäuscht wor­den waren, aber sie waren bereit, sich täu­schen zu las­sen, und die Rus­sen hat­ten kei­ne ande­re Wahl, als sie zu täu­schen. Wie Joa­chim Fest fest­stellt, waren Washing­ton und Lon­don jedoch nicht gezwun­gen, ganz Ost­eu­ro­pa an den Kreml abzu­tre­ten. Wäh­rend des Krie­ges hat­ten sie immer noch ein gewal­ti­ges Druck­mit­tel in der Hand: die haupt­säch­lich ame­ri­ka­ni­schen Mili­tär­gü­ter, ohne die die Rote Armee nicht kämp­fen und vor­rücken konn­te. Hät­ten sie gedroht, die­se Lie­fe­run­gen zu blockie­ren, hät­te die Geschich­te viel­leicht einen ande­ren Ver­lauf genom­men. Fest erin­nert dar­an, was Peter der Gro­ße sag­te, als er sei­ne Eli­te zum Stu­di­um nach Pots­dam, Stock­holm oder Lon­don schick­te: Ruß­land müs­se vom Westen ler­nen und sich dann von sei­nen Wer­ten abwen­den. Die­se Lek­ti­on soll­ten sich die­je­ni­gen stets vor Augen hal­ten, die sich all­zu leicht von den Zaren des Kremls ver­füh­ren lassen.

Der Zwei­te Welt­krieg hat­te begon­nen, um Polens Frei­heit und Unab­hän­gig­keit zu ver­tei­di­gen, doch in Jal­ta opfer­ten die alli­ier­ten Füh­rer Polens Gren­zen, sei­ne legi­ti­me Regie­rung und freie Wah­len, um einen Schein­frie­den mit der Sowjet­uni­on zu sichern. Das Krim-Tref­fen, das eine fried­li­che Zukunft für die Mensch­heit hät­te sichern sol­len, leg­te statt­des­sen den Grund­stein für den Eiser­nen Vor­hang, der Euro­pa bis zum Fall der Ber­li­ner Mau­er im Jahr 1989 spal­ten sollte.

Das Abkom­men von Jal­ta weih­te die impe­ria­li­sti­sche Expan­si­on Ruß­lands ein und wur­de wie der Münch­ner Frie­den von 1938 zum Sym­bol jener Poli­tik der Kapi­tu­la­ti­on, die die Mit­tel- und Ost­eu­ro­pä­er als „west­li­chen Ver­rat“ bezeich­nen. Die­se Bereit­schaft, sich täu­schen zu las­sen und über­zo­ge­nen Opti­mis­mus mit zyni­schem Rea­lis­mus zu ver­bin­den, ist ein Risi­ko, das immer noch groß ist und an das man sich in einer Zeit erin­nern soll­te, in der US-Prä­si­dent Donald Trump ankün­digt, daß er die Ukrai­ne zwin­gen kann, Frie­den mit ihrem rus­si­schen Aggres­sor zu schlie­ßen. Wie wer­den die Bedin­gun­gen eines Abkom­mens aus­se­hen, bei dem die am unmit­tel­bar­sten Betrof­fe­nen, die Ukrai­ner, nicht am Ver­hand­lungs­tisch sit­zen? Frie­den ist gut, aber die Geschich­te zeigt, daß es schlim­mer ist, den Frie­den zu ver­lie­ren, als einen Krieg zu verlieren.

*Rober­to de Mat­tei, Histo­ri­ker, Vater von fünf Kin­dern, Pro­fes­sor für Neue­re Geschich­te und Geschich­te des Chri­sten­tums an der Euro­päi­schen Uni­ver­si­tät Rom, Vor­sit­zen­der der Stif­tung Lepan­to, Autor zahl­rei­cher Bücher, zuletzt in deut­scher Über­set­zung: Ver­tei­di­gung der Tra­di­ti­on: Die unüber­wind­ba­re Wahr­heit Chri­sti, mit einem Vor­wort von Mar­tin Mose­bach, Alt­öt­ting 2017, und Das Zwei­te Vati­ka­ni­sche Kon­zil. Eine bis­lang unge­schrie­be­ne Geschich­te, 2. erw. Aus­ga­be, Bobin­gen 2011.

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Über­set­zung: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: Cor­ri­spon­den­za Romana

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