
Seit April 2023 ist Indien der bevölkerungsreichste Staat der Welt. Damals überholte der Subkontinent die Volksrepublik China. Nach den Chinesen geraten jedoch auch die Inder in die Mühlen des demographischen Niedergangs.
Die Schlagzeile, daß Indien zum bevölkerungsreichsten Land der Welt wurde, ging um den Globus. Unterschwellig wurde auch die angebliche Gefahr einer Überbevölkerung an die Wand gemalt. Doch die Welt hat längst gegenteilige Probleme, auch Indien. Die viel wichtigere Nachricht wurde international kaum zur Kenntnis genommen: Bereits mehr als zwei Jahre vor jenem April 2023 fiel Indiens Geburtenrate unter die Marke von 2,1 Kindern je Frau im gebärfähigen Alter, die für die Bestandssicherung notwendig sind.
Indien ist zwar das bevölkerungsreichste Land der Welt, doch seine Bevölkerung schrumpft real seit bald fünf Jahren. 2022 sank die Geburtenrate bereits auf zwei Kinder pro Frau. Tendenz fallend. Auf dem Papier wird die Bevölkerung noch eine Weile wachsen, aber nicht mehr aufgrund von Geburten, sondern nur mehr aufgrund einer steigenden Lebenserwartung. Der Schein trügt also.
Die Frage erreichte inzwischen auch die Politik. Einige Politiker in den südlichen Staaten drängen auf geburtenfördernde Maßnahmen, um mit dem Alterungsprozeß der Bevölkerung und seinen wirtschaftlichen Folgen fertig zu werden. Der Ministerpräsident des Staates Andhra Pradesh, Nara Chandrababu Naidu, war in der Vergangenheit ein Verfechter der Geburtenkontrolle, doch heute tritt er für eine Geburtenförderung ein. Naidu ist ein Vertreter des Indischen Nationalkongresses, der auf bundesstaatlicher Ebene in der Opposition ist. Er selbst regiert allerdings einen Staat mit fast 50 Millionen Einwohnern.
Auf den ersten Blick möchten viele meinen, daß Indien, als bevölkerungsreichstes Land der Welt, eine Erhöhung der Geburtenrate doch nicht nötig habe. Indiens Bevölkerung ist relativ jung: 40 Prozent sind unter 25 und nur Prozent über 65 Jahre alt. Noch 2019 hatte der indische Premierminister Narendra Modi von der Hindunationalistischen Volkspartei (BJP) erklärt, die hohe Bevölkerungszahl behindere die Entwicklung des Landes. Viel Bevölkerung sei also ein Feind des Fortschritts.
Die Regierungen der beiden indischen Südstaaten, das bereits genannte Andhra Pradesh und Tamil Nadu, fordern ihre Bürger jedoch auf, mehr Kinder zu zeugen. Der Ministerpräsident von Tamil Naidu, Muthuvel Karunanidhi Stalin, Vorsitzender einer linksradikalen, tamilisch nationalistischen Regionalpartei, will Anreize schaffen, um die Geburtenrate anzuheben. Seine Eltern – sein Vater war auch schon Ministerpräsident von Tamil Nadu – benannten ihren 1953 geborenen Sohn tatsächlich nach dem sowjetischen Diktator Josef Stalin. Sein Amtskollege von Andhra Pradesh denkt sogar laut über mögliche Zwangsmaßnahmen nach, um mehr Geburten zu erreichen. Woran der Sozialdemokrat dabei denkt, ließ er auch schon anklingen, etwa, daß bei Kommunalwahlen nur wählen dürfe, wer zwei oder mehr Kinder hat.
Seine Vorstoß begründet er mit Gesetzen, die in der Vergangenheit das genaue Gegenteil vorschrieben. So war es in dem von ihm regierten Staat zur Bevölkerungsreduzierung zeitweise nur jenen erlaubt, an Kommunalwahlen teilzunehmen, die nicht mehr als zwei Kinder hatten.
Eine andere Maßnahme, die Naidu ins Auge faßt, ist die Reissubventionierung auf Familien zu beschränken, die mehr als zwei Kinder haben.
Politiker wie Naidu warnen davor, daß Indien bald vor ähnlichen Schwierigkeiten stehen wird wie Südkorea und Japan.
„Dies ist auch für Indien ein Weckruf, denn wir haben das Konzept der Familienplanung gefördert und die Zahl der Kinder pro Familie begrenzt. In einigen Jahren wird auch Indien mit dem Problem einer alternden Bevölkerung konfrontiert sein, und dann werden wir nicht mehr viel tun können“, so Naidu, der zugleich an die „Verantwortung“ eines jeden Bürgers appellierte und, daß große Familien ein „Dienst an der Gesellschaft“ seien.
Demographen verweisen auf das hohe Tempo, mit dem asiatische Staaten die Geburtenrate niederdrückten. Prozesse, die sich in Europa über zwei Jahrhunderte hinzogen, wurden in Indien in nur 45 Jahren vollzogen. Diese Eile geschah maßgeblich unter westlichem Einfluß. Die Geschwindigkeit bereitet nicht nur Fachexperten große Sorge.
Parallel zum Geburtenrückgang findet auch die Überalterung der Bevölkerung in erhöhtem Tempo statt. Obwohl die Altersfürsorge heute noch kein Problem ist, steht heute schon fest, daß sie in gar nicht ferner Zukunft zum Problem werden wird, denn die jungen Menschen, die dann fehlen, werden jetzt nicht geboren.
Auch Wirtschaftswissenschaftler warnen, denn die alternde Bevölkerung stelle vor erhebliche finanzielle Herausforderungen. Es fehle in Teilen der indischen Politik jedoch an dem nötigen Problembewußtsein, weshalb die Frage weitgehend verdrängt werde.
In Nordindien weisen einige Staaten noch so hohe Geburtenraten auf, daß es in ihnen ein reales Bevölkerungswachstum gibt. Es handelt sich um die Staaten Uttar Pradesh, Jharkhand und Bihar. Sie sind allerdings die einzigen von 29 Staaten und neun Unionsterritorien, die noch ein solches Wachstum kennen.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Wikicommons
Daß das Bevölkerungswachstum nicht ewig weitergeht, zeigte sich gerade auch bei uns in Mittel- und Westeuropa. Die Zahl der Geburten sank schon rapide nach dem 1. Weltkrieg. Die Zustände waren teils katastrophal, auf dem Lande weniger, aber insbesondere in den Städten in den beengten und beengenden Mietverhältnissen. Die Frauensterblichkeit aufgrund der dauernden Schwangerschaften war erheblich. Eigentlich sollte es zwischen den Geburten wenigstens 2 Jahre Abstand geben, aber das wurde oft unterboten. Auf die Gesundheit der Frau wurde kaum Rücksicht genommen. Daneben spielen wirtschaftliche und allgemein gesellschaftliche Faktoren eine große Rolle, so daß die Geburtenzahlen deutlich sanken.
In Indien, das in Teilen überbevölkert ist (die Lebensbedingungen in den Slums katastrophal), stellt sich offenbar nunmehr dasselbe „Szenario“ ein, während die Kommunisten in China durch die erzwungenen Abtreibungen für einen drastischen Bevölkerungsrückgang sorgten.
In Afrika gibt es noch eine starke Zunahme, aber auch dort dürfte sich in einigen Jahrzehnten ein Rückgang der Geburten einstellen.
Eine weitere weltliche Logik wäre: Jedes Problem auf der Welt fängt mit Überbevölkerung an.