
Am 27. November 2024 veröffentlichte das Glaubensdikasterium ein „Blatt für die Audienz mit dem Heiligen Vater: ‚Falsche Mystik und geistlicher Mißbrauch‘“. Papst Franziskus hatte es am 22. November gebilligt. Nun wurde eine Studiengruppe zur „Typisierung des Verbrechens des ‚geistlichen Mißbrauchs‘“ eingesetzt. Gestern veröffentlichte die spanische Wochenzeitschrift Alfa y Omega dazu ein Interview mit Glaubenspräfekt Kardinal Victor Manuel „Tucho“ Fernández über diese Klassifizierungsarbeit. Wir dokumentieren das Interview in deutscher Sprache.
Kardinal Fernández: „Es ist nicht angemessen, denselben Ausdruck für einen theologischen Irrtum und für ein schweres Verbrechen zu verwenden“
Alfa y Omega: Was hat Sie zu dem Vorschlag veranlaßt, zu untersuchen, wie man den Straftatbestand des „geistlichen Mißbrauchs“ unter Strafe stellen kann?
Kardinal Fernández: Verschiedene Dikasterien erhielten häufig Anzeigen oder Beschwerden über Situationen, in denen geistliche Elemente als Vorwand oder Motivation für sexuelle Beziehungen benutzt wurden (z. B. eines Priesters mit einer Katechetin). In diesen Fällen handelt es sich um eine Manipulation von Menschen, die sich einem geistlichen Führer anvertrauen, und gleichzeitig um eine Manipulation der geistlichen Schönheit unseres Glaubens, um Sex zu bekommen.
Alfa y Omega: Warum glauben Sie, daß diese Lücke im Codex des Kirchenrechts geschlossen werden muß?
Kardinal Fernández: Weil es in diesem Punkt keinen Straftatbestand gibt und es notwendig und dringend ist, sich damit zu befassen, da wir feststellen, daß dies leider keine Seltenheit ist. Um dies zu umgehen, wenden sich die Kanonisten an den Canon 1399, weil es sich um eine „äußere Verletzung eines göttliches Gesetzes“ (in diesem Fall einen Verstoß gegen das Sechste Gebot) handelt und um die „Notwendigkeit, Ärgernissen zuvorzukommen oder sie zu beheben“. Wenn aber ein schwerwiegender Verstoß sehr häufig vorkommt, ist es wenig geeignet, sich auf einen so allgemeinen Canon berufen zu müssen, der in manchen Fällen die Anwendung einer schweren Strafe oder eines wichtigen Strafgebots erschwert.
Alfa y Omega: Wie würden Sie diese Art von Mißbrauch in kirchenrechtlicher und pastoraler Hinsicht definieren?
Kardinal Fernández: Das ist der komplizierteste Punkt, den die neue Studiengruppe zu klären haben wird. Es ist auch nicht möglich, eine Straftat so ungenau zu definieren, daß jedes Vergehen als schweres Vergehen bezeichnet oder mit einer Höchststrafe belegt werden kann. Dies würde zu einer chaotischen Situation des „alle gegen alle“, zu einem weit verbreiteten Mißtrauen oder zur Gefahr führen, eine Ideologie der Auslöschung anzuwenden. Andererseits gibt es heute die Tendenz, schnell den „Ausschluß“ aus der Kirche zu fordern, als ob es keine Verhältnismäßigkeit bei den Vergehen gäbe. Wenn alles gleich schwer zu sein scheint, wird besonders schwerwiegenden Fällen, die mit mehr Nachdruck angegangen werden müssen, Unrecht getan.
Dies ist ein allgemeines Problem, aber hier besteht eine besondere Gefahr. Sehen wir uns zum Beispiel folgende Sätze an: „Sicher hat er mir diese Worte des heiligen Bernhard gesagt, weil er Sex haben wollte“, „er hat mir eine Vorstellung von Gott gegeben, die mich dazu brachte, von seiner Person abhängig zu sein“, „er hat mir eine seltsame spirituelle Aufgabe gestellt, weil er wußte, daß sie den Weg für eine sexuelle Anbahnung ebnen würde“ oder „er hat mir eine zu intime Umarmung unter dem Vorwand gegeben, daß er Jesus repräsentiert“. Deshalb, so folgern sie, sollte er aus der Kirche ausgeschlossen werden. Das sind Dinge, die leicht in den Medien auftauchen, aber nicht immer leicht zu beweisen sind, geschweige denn läßt sich in allen Fällen eine Höchststrafe verhängen. Aber es gibt Fälle von besonderer Perversität, wie z. B. Sex an heiligen Orten, als ob dies eine besondere Beziehung zu Gott ermöglichen würde.
Alfa y Omega: Wie wird die Studiengruppe arbeiten?
Kardinal Fernández: Die neue Studiengruppe unter dem Vorsitz von Filippo Iannone [Karmelit, Titularerzbischof und Präfekt des Dikasteriums für die Gesetzestexte] untersucht zwei Möglichkeiten: Die eine wäre die Typisierung eines Verbrechens, die andere die Auslegung bestehender Gesetze, indem der Inhalt in bezug auf den geistlichen Mißbrauch explizit gemacht wird. Ich kann keine Schlußfolgerungen vorwegnehmen oder weitere Details anbieten, weil ich damit in die Arbeit anderer eingreifen würde.
Im Moment gibt es zwei Personen, die im geheimen daran arbeiten, die vorhandenen Hintergrundinformationen zu sammeln, sei es unter dem Namen „falsche Mystik“ oder unter anderen Namen. Das Sammeln von Fällen oder Geschichten kann dazu beitragen, die Bedingungen und den Umfang einer Typisierung besser zu spezifizieren oder – mit einer authentischen Interpretation des Dikasteriums für die Gesetzestexte – deutlich zu machen, welche bestehenden Normen diese Situationen abdecken.

Alfa y Omega: In der Note, mit der es angekündigt wurde, war die Rede davon, „den zu weit gefaßten und mehrdeutigen Ausdruck ‚falsche Mystik‘ zu vermeiden“. Warum?
Kardinal Fernández: Dies wurde in dem Vermerk, den das Dikasterium für die Glaubenslehre bei der Ankündigung der neuen Studiengruppe veröffentlichte, kurz erläutert. Im Dikasterium wird dieser Ausdruck vor allem in einem lehrmäßigen Sinn verwendet, was seine ursprüngliche Bedeutung war. Deshalb ist es problematisch, den Ausdruck „falsche Mystik“ zu verwenden, der nicht kriminalisiert ist und vor allem eine Bedeutung hat, die der spirituellen Theologie eigen ist, um Gerechtigkeit zu vermitteln. Falsche Mystik ist ein spiritueller Ansatz (z. B. die Spiritualität einer Bewegung oder Gruppe), der nicht mit der christlichen Lehre übereinstimmt. In diesem Sinne bezeichnete Pius XII. den Jansenismus als „falschen Mystizismus“, weil er den Glauben an das Geheimnis der Menschwerdung nicht vollständig voraussetzt. Dabei bezog er sich nicht auf Verbrechen. Er wird als ein spiritueller Vorschlag abgelehnt, der den Anschein christlicher Mystik hat, aber in Wirklichkeit „falsch“ ist. Und dies fällt in die Zuständigkeit des Dikasteriums für die Glaubenslehre.
Aber es ist nicht angemessen, denselben Ausdruck zu verwenden, um einen geistlichen theologischen Irrtum, der an sich kein Verbrechen ist, und zugleich auch ein schweres Verbrechen zu verurteilen. Es besteht die Gefahr, daß sehr unterschiedliche Dinge miteinander verwechselt werden.
Alfa y Omega: Warum also wird dieser Ausdruck im kanonischen Bereich verwendet?
Kardinal Fernández: Einige Kanonisten, vor allem in Spanien, verwenden den Ausdruck „falsche Mystik“, um der Anwendung von Canon 1399 einen theologischen Inhalt zu geben oder um auf eine besondere Schwere anderer Verbrechen hinzuweisen (wie z. B. Druck in der Beichte, Profanierung der Eucharistie, Mißbrauch der Autorität usw.). Dies wird durch Artikel 16 der neuen Normen für die Unterscheidung angeblicher übernatürlicher Phänomene erleichtert, in dem dem Gebrauch von „mystischen Elementen“ zur „Ausübung von Herrschaft über Personen oder zur Durchführung von Mißbrauch“ besondere Schwere zugeschrieben wird. Das ist ein Punkt, den ich selbst zu diesen Normen hinzufügen wollte, weil er die in Canon 1399 angegebene „besondere Schwere“ konkretisiert, ohne den Ausdruck „falsche Mystik“ verwenden zu müssen. Aber die Kanonisten müssen ein Verbrechen mit einem anderen Namen bezeichnen – zum Beispiel „geistlicher Mißbrauch“ –, um nicht immer auf den Canon 1399 verweisen zu müssen, wenn sie ein so schweres, skandalöses und häufiges Vergehen beurteilen, und um die Verwirrung zu vermeiden, die die breite und vieldeutige Bedeutung des Ausdrucks „falsche Mystik“ hervorrufen könnte.
Alfa y Omega: Welche Elemente sind wesentlich, um ein echtes mystisches Phänomen von einem falschen zu unterscheiden?
Kardinal Fernández: Der Ausdruck „mystisches Phänomen“ scheint sich auf eine Erscheinung, eine Vision oder außergewöhnliche Phänomene dieser Art zu beziehen. In Wirklichkeit geht es aber um etwas Weitergehendes: „Falsche Mystik“ ist jeder spirituelle Vorschlag, der einem Element des authentischen christlichen Glaubens nicht treu ist. In einigen neuen Spiritualitäten gibt es oft anthropologische, christologische und ekklesiologische Irrtümer. In der Geschichte wurden beispielsweise geistliche Bewegungen verurteilt, die pantheistisch geworden waren, die eine „Verschmelzung“ mit Gott vorschlugen, die die Menschlichkeit Christi in der Spiritualität ablehnten oder die den Wert des Bittgebets leugneten. Dies sind verschiedene Fälle von „falscher Mystik“, die das Glaubensdikasterium in der Sektion für doktrinäre Fragen als Irrtümer, nicht als Verbrechen bewertet. Manchmal treten diese Dinge auf, wenn es zum Beispiel darum geht, Seligsprechungsgründen das nulla osta [„Erlaubnis“, „nichts steht entgegen“] zu erteilen.
Aber wenn wir von einem möglichen Verbrechen des „geistlichen Mißbrauchs“ sprechen, ist es nicht notwendig, daß es Irrtümer gibt, daß die als Grundlage verwendete geistliche Aussage „falsch“ ist. Sogar der Katechismus der Kirche oder die Schriften des heiligen Johannes vom Kreuz können als Vorwand dienen, um einen anderen zu manipulieren und ein Verbrechen des „geistlichen Mißbrauchs“ zu begehen.
Alfa y Omega: Welche Herausforderungen ergeben sich aus dieser strafrechtlichen Klassifizierung bei der Unterscheidung angeblicher übernatürlicher Phänomene?
Kardinal Fernández: Der Zusammenhang mit diesen Phänomenen ergibt sich daraus, daß in einigen Fällen die angeblichen Seher selbst Mißbrauch betrieben haben oder sexuelle Elemente in spirituelle Begegnungen eingebaut haben. Oder weil die Befürworter einer solchen Verehrung einen unangemessenen und unmoralischen Gebrauch davon gemacht haben.
Alfa y Omega: Wie lassen sich die Rechte der Beschuldigten schützen, wie lassen sich unfaire Prozesse oder Mißverständnisse in diesem Bereich vermeiden?
Kardinal Fernández: Dieses Thema kann, wie jedes andere auch, dazu benutzt werden, sich an jemandem zu rächen. Es können auch Absichten unterstellt werden, die gar nicht vorhanden sind, oder ein sehr sensibler Mensch kann in einem schwierigen Moment seines Lebens etwas falsch interpretieren, was gar nicht oder nicht in diesem Ausmaß der Fall war. Aber ein ordentliches kanonisches Verfahren schützt alle, die angeblichen Opfer und den angeblichen Täter. Es reicht aus, für die vom Gesetz vorgesehenen Garantien zu sorgen. Die Möglichkeit eines Rechtsbehelfs ist gerade deshalb gegeben, weil Fehler gemacht werden können, aber es gibt die Möglichkeit, sie zu korrigieren.
Alfa y Omega: Gibt es Dringlichkeit, den Fall Rupnik zu lösen, der sich verzögert?
Kardinal Fernández: In Wirklichkeit denke ich an viele andere Fälle, die vielleicht schwerwiegender sind, aber in den Medien weniger präsent sind. Wir können nicht nur für einen Einzelfall an ein neues Gesetz denken, denn das würde den Blickwinkel einschränken und die Objektivität der Arbeit untergraben. Was den Fall Rupnik betrifft, so hat das Dikasterium die Phase der Zusammenstellung der Informationen, die an sehr unterschiedlichen Stellen vorlagen, abgeschlossen und eine erste Analyse vorgenommen. Jetzt arbeiten wir bereits daran, ein unabhängiges Tribunal einzurichten, das das Strafverfahren in die letzte Phase führt. In solchen Fällen ist es wichtig, die am besten geeigneten Personen zu finden und sie zur Zustimmung zu bewegen.
Alfa y Omega: Wie hoffen Sie, daß diese Typifizierung dazu beitragen wird, Mißbrauch zu verhindern und das Vertrauen der Gläubigen wiederherzustellen?
Kardinal Fernández: Ich denke, es wird den Gläubigen helfen, die mütterliche Fürsorge der Kirche wahrzunehmen. Aber es wird auch dazu beitragen, jene gefährliche Form des Klerikalismus zu vermeiden, die manche Priester dazu verleitet, zu glauben, daß sie aufgrund der „Erhabenheit“ ihrer Weihe zu allem berechtigt sind. In diesem Sinne glaube ich, daß wir uns an einem Wendepunkt befinden.
Auf jeden Fall müssen wir aufpassen, daß dies nicht zu einem unerwünschten Mißtrauen gegenüber allem Spirituellen führt, wie es in der Geschichte mit der Verurteilung bestimmter geistlicher Bewegungen geschehen ist.
Alfa y Omega: Welche Botschaft möchten Sie denjenigen übermitteln, die diese Art von Mißbrauch erlitten haben?
Kardinal Fernández: Daß ich es besonders traurig finde, daß jemand sie hat leiden lassen, indem er sich so schöner und erhabener Dinge bedient hat. Sei es durch Bosheit und Perversion, sei es durch Krankheit, sei es durch die schlechte geistliche und menschliche Ausbildung, die sie erhalten haben. In jedem Fall ist es eine schmerzhafte Wunde im Leib Christi. Wir können uns immer auf den Weg der Heilung machen und uns daran erinnern, daß es in der Kirche einen geistlichen Schatz gibt, den wir nicht verlieren dürfen, auch wenn einige ihn verdreht oder entstellt haben. Christus liebt uns, auch wenn einige sein Gesicht entstellt haben. Und wenn es uns schmerzt, daran zu denken, daß andere so leiden könnten, wie wir gelitten haben, so tröstet es uns zu sehen, daß der Heilige Geist in der Kirche ein starkes Bewußtsein für die unantastbare Würde eines jeden Menschen und für die Grenzen der Ausübung des priesterlichen Dienstes und der Leitung in der Kirche weckt.
Einleitung/Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Alfa y Omega (Screenshot)
Normalerweise markiere ich die wichtigsten Aussagen eines Textes. Hier hätte ich schließlich den ganzen Text markiert. Vielleicht war es nicht richtig, deshalb mit der Methode des freien Assoziierens zu arbeiten. Kommt man doch selten zweimal zum gleichen Ergebnis. Da sind die zwei Methoden falsche Mystik und geistlicher Mißbrauch. Ersteres wäre wohl, an einem heiligen Ort bestimmte Dinge zu praktizieren. Zweites wäre es, die Worte des heiligen Bernhard zweckzuentfremden. Zwei Personen arbeiten im Geheimen daran. Wahrscheinlich im Gebäude der ehemaligen Inquisition. Aber darum geht es nicht. Es geht um kriminalistisch interessante Fälle. Dann kam mir noch das Buch „Heile mich mit Deinem Mund“ in den Kopf. Kennt das jemand? Da sind wir schon wieder bei den Grenzen des freien Assoziierens. Aber darum geht es ja aus kriminalistischer Sicht gar nicht. Aus dieser Sicht geht es dann eher um dröge Ideen wie die Grundpfeiler des Katechismus. Ich träume in der letzten Zeit häufiger unangenehme Dinge. Wie gut, frei assoziiert zu haben. Dann bin ich für die Nacht unbelastet.