Von der Westminster Abbey zum Roten Platz: zwei symbolische Auftritte

Aktuelle Überlegungen


Krönung von Karl III. zum König des Vereinigten Königreichs von Großbritannien
Krönung von Karl III. zum König des Vereinigten Königreichs von Großbritannien

Von Rober­to de Mattei*

Anzei­ge

Wir leben in der „Gesell­schaft des Spek­ta­kels“, aber wir dür­fen nicht glau­ben, daß jede sym­bo­li­sche Dar­stel­lung der Wirk­lich­keit Fik­ti­on und Kom­mer­zia­li­sie­rung ist, wie Guy Debord, ein neo­mar­xi­sti­scher Autor, der die­sem The­ma vor vie­len Jah­ren einen bekann­ten Essay gewid­met hat (La Socié­té du spec­ta­cle, Buchet/​Chastel 1967), mein­te. Durch Sym­bo­le kann der Mensch tat­säch­lich von einer rein sen­si­blen Dimen­si­on zu einer unsicht­ba­ren und höhe­ren Dimen­si­on der Wirk­lich­keit aufsteigen.

Des­halb haben die Men­schen im Lau­fe der Geschich­te immer wie­der auf Spek­ta­kel, Dar­stel­lun­gen und Lit­ur­gien zurück­ge­grif­fen, um ihre Vor­stel­lung von der Welt aus­zu­drücken. Unter die­sem Gesichts­punkt ist auch die Krö­nungs­ze­re­mo­nie von Karl III., dem König des Ver­ei­nig­ten König­reichs, zu sehen, die am 6. Mai 2023 in der West­min­ster Abbey in Lon­don statt­fand. Eine noch weit­ge­hend mit­tel­al­ter­li­che Zere­mo­nie, die nicht das deka­den­te Eng­land von heu­te wider­spie­gelt, son­dern wie das fer­ne Echo einer katho­li­schen Nati­on erscheint, die bis ins 16. Jahr­hun­dert hin­ein in der Krö­nung ihrer Köni­ge eine mon­ar­chi­sche, katho­li­sche und sakra­le Welt­sicht zum Aus­druck brachte.

Am bri­ti­schen Königs­haus kann man heu­te viel Kri­tik üben, nicht nur wegen der Skan­da­le, mit denen es in den ver­gan­ge­nen Jah­ren die Schlag­zei­len gefüllt hat. Ein Katho­lik darf nicht ver­ges­sen, daß der eng­li­sche Herr­scher aus reli­giö­ser Sicht das Ober­haupt der angli­ka­ni­schen Kir­che ist, die aus einem Schis­ma her­vor­ge­gan­gen ist, das im 16. Jahr­hun­dert infol­ge der Hei­rats­wün­sche von König Hein­rich VIII. erfolg­te. Der Act of Supre­ma­cy von 1534 mach­te Hein­rich zum „Ober­haupt der Kir­che von Eng­land“ und trenn­te sein König­reich von der Kir­che von Rom und von jeg­li­chem Brauch, Gesetz oder Auto­ri­tät, die nicht nur von außen, son­dern aus sei­ner eige­nen Geschich­te stamm­te. Damit ent­fal­te­te sich eine lan­ge Geschich­te der Katho­li­ken­ver­fol­gung, die mit dem Beginn des Auf­lö­sungs­pro­zes­ses des Angli­ka­nis­mus ende­te. Die letz­te Etap­pe die­ses selbst­zer­stö­re­ri­schen Pro­zes­ses, der lei­der von vie­len katho­li­schen Bischö­fen als Vor­bild ange­se­hen wird, war im Febru­ar 2023 die Ein­füh­rung der Seg­nung gleich­ge­schlecht­li­cher Paa­re, die nach bri­ti­schem Recht eine Ver­bin­dung ein­ge­gan­gen sind.

In die­sem und ande­ren Punk­ten sind die Vor­stel­lun­gen von Karl III. unklar. Der neue Herr­scher scheint eine gewis­se Lie­be zur Tra­di­ti­on, vor allem im künst­le­ri­schen Bereich, mit einer Form von Syn­kre­tis­mus zu ver­bin­den, der in sei­nem Wunsch zum Aus­druck kommt, ein Ver­tei­di­ger aller Reli­gio­nen, nicht nur der pro­te­stan­ti­schen, zu sein. Es ist jedoch nicht sei­ne Per­son, die vier Mil­li­ar­den Men­schen auf der gan­zen Welt dazu ver­an­laßt hat, der Krö­nungs­ze­re­mo­nie im Fern­se­hen oder über das Inter­net bei­zu­woh­nen, son­dern die Fas­zi­na­ti­on eines Spek­ta­kels, das in sei­nem Ritu­al auf die Anfän­ge des vori­gen Jahr­tau­sends zurückgeht.

Der hei­li­ge Edu­ard der Beken­ner (1043–1066), der berühm­te­ste Hei­li­ge, der die­sen Namen trägt, wur­de zusam­men mit sei­nem Vor­fah­ren, dem hei­li­gen Edu­ard II., am 3. April 1043 gekrönt, zu einer Zeit, als der hei­li­ge Hein­rich, Kai­ser von Deutsch­land, der hei­li­ge Knut, König von Däne­mark, der hei­li­ge Ste­phan, König von Ungarn, und ande­re Herr­scher regier­ten, die, obwohl sie nicht hei­lig­ge­spro­chen wur­den, durch ihren Glau­ben glänz­ten und durch ihr Bei­spiel die Tie­fe des christ­li­chen Ein­flus­ses in der Gesell­schaft zum Aus­druck brachten.

Die Kro­ne, die sie tru­gen, war ein Sym­bol für die Auto­ri­tät des Cor­pus mysti­cum des König­reichs, vom König bis zu den letz­ten Vasal­len, die sich bewußt waren, eine Nati­on zu sein und ein Hei­mat­land zu haben. In Eng­land defi­nier­te das Par­la­ment bereits Ende des 13. Jahr­hun­derts die Kro­ne als aus­schließ­li­chen Trä­ger der höch­sten Auto­ri­tät und erklär­te, daß sowohl der König als auch das Par­la­ment ihr zu Dien­sten stan­den. Die Krö­nung des Herr­schers, die Über­ga­be der Schwer­ter und des Zep­ters, die Sal­bung mit dem Chri­sam, die Beant­wor­tung der Fra­gen des Bischofs und die Gehor­sams­be­kun­dun­gen waren Teil des mit­tel­al­ter­li­chen Ritu­als und wur­den am 6. Mai, nach fast tau­send Jah­ren, in der West­min­ster Abbey wiederholt.

Der reli­giö­se Sal­bungs­ri­tus, der pri­vat statt­fand, bil­de­te den Höhe­punkt der Zere­mo­nie und führ­te zur eigent­li­chen Königs­in­ve­sti­tur. In die­sem Akt kommt eine Auf­fas­sung vom König­tum zum Aus­druck, die im Gegen­satz zu der aus der Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on her­vor­ge­gan­ge­nen demo­kra­ti­schen Auf­fas­sung steht. Die moder­nen Ver­fas­sun­gen beru­hen näm­lich auf einer vom Volk aus­ge­hen­den Macht. In der Zere­mo­nie der Königs­wei­he kommt dage­gen der Grund­satz zum Aus­druck, daß die Macht von Gott kommt, gemäß der Maxi­me des Evan­ge­li­ums: Non est pote­stas nisi a Deo (Röm 13,1). Die könig­li­che Auto­ri­tät ist wie eine Teil­ha­be am sou­ve­rä­nen König­tum Chri­sti, von dem der Mon­arch durch die Sal­bung und Krö­nung der Reprä­sen­tant im Staat wird.

Ein Glanz der Sakra­li­tät in der fla­chen, ega­li­tä­ren Welt unse­rer Zeit also, der im Kon­trast zu der säku­la­ren Ver­an­stal­tung stand, die drei Tage spä­ter auf dem Roten Platz in Mos­kau statt­fand: der Mili­tär­pa­ra­de zum Geden­ken an den acht­und­sieb­zig­sten Jah­res­tag des Sie­ges der Sowjet­uni­on über das natio­nal­so­zia­li­sti­sche Deutsch­land am 9. Mai 1945.

Der „Gro­ße Vater­län­di­sche Krieg“ ist der Grün­dungs­my­thos der neu­en rus­si­schen Iden­ti­tät, und Sta­lin, der Archi­tekt des „Gro­ßen Sie­ges“, ist einer der Hel­den in Wla­di­mir Putins natio­nal­kom­mu­ni­sti­schem Pan­the­on. Seit den Tagen der UdSSR ist die Para­de auf dem Roten Platz in Mos­kau vor den höch­sten poli­ti­schen und mili­tä­ri­schen Stel­len die Gele­gen­heit, die Macht des Kremls zu demon­strie­ren. In die­sem Jahr fand die Para­de in einem gedämpf­te­ren Ton als in den Vor­jah­ren statt, aber zum ersten Mal sprach Putin von einem Krieg, der nicht nur zwi­schen Ruß­land und der Ukrai­ne herrscht, son­dern zwi­schen Ruß­land und dem Westen, der heu­te den Frie­den unter­gra­be, wie der Natio­nal­so­zia­lis­mus ihn vor 80 Jah­ren unter­gra­ben hat. Der Westen, so der rus­si­sche Prä­si­dent, „pro­vo­ziert blu­ti­ge Kon­flik­te“, sät die Saat der „Rus­so­pho­bie“ und bean­sprucht, „allen Natio­nen sei­ne Regeln zu dik­tie­ren“. Krieg, so Putin, gibt es, Ruß­land befin­det sich im Krieg und die Zivi­li­sa­ti­on ist an einem Wen­de­punkt. Vom sym­bol­träch­ti­gen Roten Platz aus wur­de eine krie­ge­ri­sche und bedroh­li­che Bot­schaft an die Welt gerich­tet, wäh­rend die West­min­ster Abbey das Bild eines Westens bot, der nicht in der Lage ist, hin­ter der Schön­heit sei­ner Riten und Tra­di­tio­nen die Wahr­heit sei­ner eige­nen Iden­ti­tät ange­sichts eines hybri­den Krie­ges zu erken­nen, der auch ein Krieg der Nar­ra­ti­ve ist.

*Rober­to de Mat­tei, Histo­ri­ker, Vater von fünf Kin­dern, Pro­fes­sor für Neue­re Geschich­te und Geschich­te des Chri­sten­tums an der Euro­päi­schen Uni­ver­si­tät Rom, Vor­sit­zen­der der Stif­tung Lepan­to, Autor zahl­rei­cher Bücher, zuletzt in deut­scher Über­set­zung: Ver­tei­di­gung der Tra­di­ti­on: Die unüber­wind­ba­re Wahr­heit Chri­sti, mit einem Vor­wort von Mar­tin Mose­bach, Alt­öt­ting 2017, und Das Zwei­te Vati­ka­ni­sche Kon­zil. Eine bis­lang unge­schrie­be­ne Geschich­te, 2. erw. Aus­ga­be, Bobin­gen 2011.

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Über­set­zung: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: Cor­ri­spon­den­za Romana



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