Anmerkungen von Giuseppe Nardi zu einer Polemik
Die Frage bewegt die Kirche nicht nur in Italien oder Europa oder im Westen, sondern weltweit, von Sydney bis Deutschland, von Santiago de Chile bis Luxemburg. In der Kirche wird immer stärker polarisiert, schrieb Matteo Matzuzzi, der Vatikanist der italienischen Tageszeitung Il Foglio, zum zehnjährigen Thronjubiläum von Papst Franziskus. An einem Beispiel soll dies konkreter aufgezeigt werden.
„Wir sind schockiert, daß Anthony Fisher diese schlecht informierte Hetzrede auf der Titelseite der Zeitung der Erzdiözese Sydney zugelassen hat. Fisher will offensichtlich die Weigel/Pell-Kampagne gegen Franziskus und die Synode fortsetzen. Ist die Gemeinschaft mit Rom für Bischöfe jetzt optional?“, empörte sich Austen Ivereigh am 19. März auf Twitter.
Wer sind die genannten Protagonisten?
Msgr. Anthony Fisher ist seit 2014 der von Papst Franziskus ernannte Erzbischof von Sydney. George Weigel ist ein konservativer amerikanischer Intellektueller und der bedeutendste Biograph von Johannes Paul II. Austen Ivereigh ist ein englischer Journalist, ehemaliger Sprecher von Kardinal Cormac Murphy O’Connor, einem Mitglied des Teams Bergoglio, und Autor einer der ausführlicheren Biographien über Papst Franziskus (The Great Reformer: Francis and the Making of a Radical Pope, 2014; Der große Reformer. Franziskus und wie man einen radikalen Papst macht).
Was den überzeugten Bergoglianer Ivereigh so empörte, war ein Artikel von George Weigel, der von der australischen Diözesanzeitung übernommen wurde. Weigel zieht darin eine Bilanz des bergoglianischen Jahrzehnts. Eine sehr kritische Bilanz. Er läßt die Ambivalenzen des Pontifikats Revue passieren und skizziert ein bleiernes, von „Melancholie“ beherrschtes Klima, das in diesen Jahren in der Kirche entstanden sei. Eine Vielzahl von Priestern, Bischöfen und Kardinälen, so Weigel, müssen sich vor der Gefahr fürchten, unter dem päpstlichen Fallbeil zu landen. Der amerikanische Autor erwähnt auch, wie Papst Franziskus das Erbe von Benedikt XVI. und Johannes Paul II. zertrümmert.
Progressive Kirchenkreise haben mit Weigel natürlich wenig Freude. Soweit nicht ungewöhnlich. Dessen ungeachtet fällt auf, mit welcher Vehemenz ein Erzbischof im fernen Australien angegriffen wird, weil er die legitime Meinung einer international bekannten katholischen Stimme publizierte. Ist das „bleierne Klima“, das Papst Franziskus in seinem zehnjährigen Pontifikat etablierte, bereits so drückend, daß ein Bischof nicht mehr den bekanntesten Biographen von Johannes Paul II. zu Wort kommen lassen darf? Weigel ist weder ein unseriöser Polterer noch ein Windfähnchen, von denen es in der Kirche ja einige gibt, die mit dem Rücktritt von Benedikt XVI. mittels Löschtaste gleich sein ganzes Denken und Pontifikat weggeräumt zu haben scheinen.
Weigel trauert seit 2005 dem Pontifikat von Johannes Paul II. nach. Es mag sogar sein, wie manche meinen, daß er nicht einmal im Pontifikat von Benedikt XVI. ganz angekommen sei. Tatsache ist jedoch, daß Weigel schockiert ist von der sogenannten „Realpolitik“ von Papst Franziskus, wie der Hofstaat von Santa Marta die aktuelle päpstliche Agenda gerne sieht und damit jene fatale Umdeutung von Begriffen unterstützt, mit denen derzeit eine erstaunliche Realitätsverweigerung in zahlreichen Bereichen praktiziert und als Realität ausgegeben wird.
Ivereighs zornige Reaktion zeigt, daß unter den Bergoglianern die Nerven etwas blank liegen. Die kritische Bilanz Weigels ist gleich Anlaß, aus allen Rohren zu feuern und den sehr moderaten Erzbischof von Sydney zu einem Teil eines Anti-Franziskus-Feldzugs zu deklarieren, der vom verstorbenen Kardinal George Pell losgetreten worden sei.
Wahr ist vielmehr, daß Ivereigh einen präzisen Platz im Propagandaapparat von Santa Marta hat und seine polemischen Wortmeldungen ein interessanter Indikator für die Stimmung im vatikanischen Gästehaus sind. Man erinnere sich, als Ivereigh im Hochsommer 2019 forderte: „Wir müssen das Umfeld von Benedikt XVI. unter Kontrolle bringen“. Das gelang zunächst nicht, wie die erfolgreiche Intervention des gewesenen Papstes, zusammen mit Kardinal Robert Sarah, zur Verteidigung des Weihesakraments und des priesterlichen Zölibats zeigte. Danach allerdings ging es Schlag auf Schlag. Und allenthalben ist dabei eine immer von neuem erschreckende Portion Haß gegen den überlieferten Ritus und seine Vertreter wahrzunehmen.
Es ist zugleich spannend zu sehen, wie viele Autoren unterschiedlicher Strömungen in der Kirche und mit unterschiedlichem Ansatz zum zehnten Jahrestag der Wahl von Franziskus dasselbe Thema aufgegriffen haben, nämlich die Frage: Darf man einen Papst kritisieren, insbesondere die Frage: Darf man diesen Papst kritisieren? Und darf man einem Papst, wenn nötig, sogar widerstehen? Selbst eingefleischte Verteidiger von Franziskus müssen sich mit diesem Thema befassen, und sei es zu seiner Rechtfertigung. Das signalisiert ein sich verstärkendes Unbehagen und eine um sich greifende Unzufriedenheit. Das gilt für alle Kontinente. Dieser Umschwung geht quer durch die Strömungen. Selbst in Kreisen, in denen man es nicht erwarten würde, sind Ungeduld und Überdruß des bergoglianischen Chaos spürbar. Im profanen Bereich vergeht im Westen kein Tag, an dem nicht irrlichternde Zeitgeister zu verschiedensten Bereichen einen neuen, noch größeren Unsinn fordern. Im Gegenzug wächst der Wunsch und das Bedürfnis, in der Kirche ihrem Auftrag gemäß einen ruhenden und sicheren Pol zu finden, der ein Hort der Verteidigung von Wahrheit und Wirklichkeit gegen Lüge und Realitätsverweigerung ist. Doch das derzeitige Pontifikat garantiert das Gegenteil. Franziskus fordert Unruhe, Wirbel, Durcheinander. So lautete seine Aufforderung an die Jugend beim Weltjugendtag in Rio de Janeiro am Beginn seiner Amtszeit. Derselbe Franziskus sagte nun aber zu italienischen Seminaristen, sie sollten für ihn und nicht gegen ihn beten. Es ist kein Geheimnis, daß in der Kirche – in manchen Kreisen sogar sehr intensiv – nicht „gegen“ den derzeitigen Papst, aber für einen glaubenstreuen, heiligen und fähigen Nachfolger gebetet wird. Das weiß auch Papst Franziskus, wie das genannte Beispiel zeigt.
Franziskus betonte vielfach, er wolle „nur“ Prozesse anstoßen, von denen er aber möchte, daß sie „irreversibel“ sind. In der Tat hat er einen Prozeß angestoßen, der gar nicht auf seiner Agenda steht. Eine gesunde Optimierung des Verständnisses des Papsttums im gläubigen Volk.
Es gab in der Kirchengeschichte, im gebotenen Rahmen, immer Kritik an Päpsten. Die Würde des Amtes verlangt, daß diese respektvoll und konstruktiv ist, aber nicht, daß sie verboten sei. Es war der Zeit nach dem Ersten Vatikanischen Konzil geschuldet, daß eine gewisse Engführung erfolgte und die Papstkritik kategorisch zu einer Art von Majestätsbeleidigung, wenn nicht zu noch Schlimmerem wurde. Diese Haltung war mit den Fehlentwicklungen des Zweiten Vatikanischen Konzils überholt, wirkte im katholischen Bewußtsein aber noch lange nach. Papst Franziskus sorgt unbewußt für die notwendige Korrektur. Glaubenstreue Katholiken, die etwa im deutschen Sprachraum ihren Ortsbischöfen durch deren Kurs oft längst entfremdet sind, konnten sich unter Johannes Paul II. und Benedikt XVI. auf Rom berufen und und im Papst einen Orientierungspunkt finden. Mit Franziskus wurde ihnen auch diese Möglichkeit entzogen. Das verlangt nach einer Neuorientierung. Das hat einige Zeit gedauert, doch sie findet statt.
Weigel ist eine Stimme aus den USA, wo die katholische Kirche und die gläubigen Laien etwas anders ausgerichtet und organisiert sind als etwa im deutschen Sprachraum. Papst Franziskus ist es in den vergangenen zehn Jahren trotz zahlreicher Initiativen, Interventionen, Neubesetzungen und Sticheleien nicht gelungen, die starke und lebendige konservative und auch traditionalistische Katholizität in den USA umzupolen bzw. zu zertrümmern. Operation gescheitert. Darin dürfte der Hauptgrund zu sehen sein, weshalb Ivereigh in so gereiztem Ton gegen Weigel losgelassen wurde.
Es wäre blind, wer nach zehn Jahren noch meinen sollte, die Schwerpunkte der päpstlichen Agenda hätten nicht die Durchsetzung ideologischer Vorstellungen zum Ziel. Man beachte nur, was Franziskus in den vergangenen zehn Jahren über Kommunisten und ihre Ideologie sagte, während Weigel Vorstandsmitglied der Victims of Communism Memorial Foundation ist. Anders ausgedrückt: Zu penibel wurde die Wahl von Franziskus vorbereitet, um etwas Gegenteiliges annehmen zu können. Zu passend greifen die Zahnräder zwischen Kirche und Welt ineinander und zwar jeweils dort, wo die Kirche sich der Welt anpaßt, während umgekehrt nichts dergleichen feststellbar ist. Das argentinische Pontifikat versteht sich offenbar als Einbahnstraße.
Dennoch, der Mensch denkt und Gott lenkt. Soviel steht schon einmal fest: Die Welt von morgen wird für die Kirche und die Gläubigen ganz anders aussehen, als es sich die Mafia von Sankt Gallen und die Kirchenfeinde vorgestellt haben.
Bild: Twitter (Screenshot)