Papst Franziskus, Dom Guéranger und der christliche Sinn für Geschichte

Zu Äußerungen getrieben vom politischen Wunsch, seinen Gesprächspartnern zu gefallen


"Der christliche Sinn der Geschichte", die bedeutende Schrift von Dom Guéranger, wurde ins Englische übersetzt. Eine deutsche Ausgabe steht noch aus.
"Der christliche Sinn der Geschichte", die bedeutende Schrift von Dom Guéranger, wurde ins Englische übersetzt. Eine deutsche Ausgabe steht noch aus.

Von Rober­to de Mattei*

Anzei­ge

„Wer bin ich, um zu urtei­len?“ Die­se Wor­te von Papst Fran­zis­kus, die er am 28. Juli 2013 auf dem Rück­flug von Bra­si­li­en als Ant­wort auf die Fra­ge eines Jour­na­li­sten nach Homo­se­xu­el­len sag­te, sind in die Geschich­te ein­ge­gan­gen. Sie zei­gen nicht die sub­jek­ti­ve Hal­tung der Barm­her­zig­keit, die jeder Katho­lik in einem kon­kre­ten Fall gegen­über einem Sün­der haben muß, son­dern die Wei­ge­rung, mit Klar­heit ein eige­nes Urteil über eine objek­ti­ve, vom Kate­chis­mus der katho­li­schen Kir­che ver­ur­teil­te Sün­de zu äußern. Es stimmt zwar, daß „die Wege des Herrn Barm­her­zig­keit und Wahr­heit sind“ (Psalm 24,10), aber die Barm­her­zig­keit ist erst dann auf den kon­kre­ten Fall anzu­wen­den, nach­dem die Wahr­heit zwei­fels­frei bekräf­tigt wur­de. Kein Wun­der also, daß die­ser Satz welt­weit als eine Ände­rung oder Auf­wei­chung der kirch­li­chen Leh­re zur Homo­se­xua­li­tät inter­pre­tiert wur­de. Das war ver­mut­lich nicht die Absicht des Pap­stes, der zu die­sen Äuße­run­gen von dem poli­ti­schen Wunsch getrie­ben wur­de, sei­nen Gesprächs­part­nern zu gefal­len, aber das Ergeb­nis war katastrophal.

Die Wor­te von Papst Fran­zis­kus zu Chi­na am 15. Sep­tem­ber 2022 auf dem Rück­flug von Kasach­stan als Ant­wort auf einen Crux-Jour­na­li­sten drücken die­sel­be poli­ti­sche Kom­pro­miß­li­nie aus. Um den Dia­log des Hei­li­gen Stuhls mit dem kom­mu­ni­sti­schen Regime von Xi Jin­ping zu recht­fer­ti­gen, wei­ger­te sich der Papst, Chi­na als unde­mo­kra­ti­sches Land zu bezeich­nen, und spiel­te die Schwe­re des lau­fen­den Pro­zes­ses gegen Kar­di­nal Josef Zen in Hong­kong her­un­ter. „Chi­na als anti­de­mo­kra­tisch zu bezeich­nen, hal­te ich nicht für rich­tig, denn es ist ein so kom­ple­xes Land… Ja, es stimmt, daß es Din­ge gibt, die uns unde­mo­kra­tisch erschei­nen, das ist rich­tig. Kar­di­nal Zen, betagt, steht in die­sen Tagen vor Gericht, glau­be ich. Er sagt, was er fühlt, und man kann sehen, daß es da Gren­zen gibt. Mehr als zu qua­li­fi­zie­ren, denn das ist schwie­rig, und ich füh­le mich nicht, zu qua­li­fi­zie­ren, es sind Ein­drücke; mehr als zu qua­li­fi­zie­ren, ver­su­che ich, den Weg des Dia­logs zu unterstützen.“

Kar­di­nal Ger­hard Mül­ler bezeich­ne­te den Pro­zeß gegen Kar­di­nal Zen kürz­lich als „unge­recht“ und „sehr schwer­wie­gend“ und beklag­te, daß es weder vom Dekan der Kar­di­nä­le, Kar­di­nal Re, noch von Staats­se­kre­tär Paro­lin und nicht ein­mal vom Papst ein Wort der Soli­da­ri­tät mit ihm gab. Die Berich­te für 2022 der wich­tig­sten inter­na­tio­na­len Insti­tu­tio­nen, World Watch, UNO und Amne­sty Inter­na­tio­nal, wei­sen auf die Ver­bre­chen gegen die Men­schen­rech­te hin, für die Chi­na ver­ant­wort­lich ist. Vier­zig Jah­re lang hat sie die Ein-Kind-Poli­tik durch Abtrei­bung durch­ge­setzt, und auch heu­te noch gibt es jähr­lich etwa 9,5 Mil­lio­nen Abtrei­bun­gen, fast so vie­le wie die 10,6 Mil­lio­nen Gebur­ten im Jahr 2021. Die Tech­no­lo­gie dient der Unter­drückung, und die Unter­drückung dient kri­mi­nel­len Akti­vi­tä­ten, wie dem Han­del mit mensch­li­chen Orga­nen. Eine im Jahr 2020 ver­öf­fent­lich­te und von der Vic­tims of Com­mu­nism Memo­ri­al Foun­da­ti­on finan­zier­te Stu­die pran­gert mit zahl­rei­chen Zeu­gen­aus­sa­gen die Ermor­dung poli­ti­scher Gefan­ge­ner in Chi­na an, um eini­ge der Kran­ken­häu­ser, die Her­zen, Lebern, Lun­gen und Nie­ren an chi­ne­si­sche und aus­län­di­sche Pati­en­ten trans­plan­tie­ren, mit deren Orga­nen zu versorgen.

Papst Fran­zis­kus will die chi­ne­si­sche kom­mu­ni­sti­sche Dik­ta­tur nicht als unde­mo­kra­tisch „qua­li­fi­zie­ren“, aber sei­ne Auf­ga­be ist es gera­de, zu qua­li­fi­zie­ren, zu beur­tei­len, zu defi­nie­ren, das Wah­re vom Fal­schen, das Gerech­te vom Unge­rech­ten zu unter­schei­den. Dies muß nach einer prä­zi­sen Regel gesche­hen: den Inter­es­sen der Kir­che, die von Jesus Chri­stus gestif­tet wur­de, des­sen Stell­ver­tre­ter auf Erden der Papst ist. Die Kri­te­ri­en der Beur­tei­lung sind für den Papst wie für jeden Katho­li­ken nicht poli­tisch, sozio­lo­gisch oder phi­lo­so­phisch, son­dern über­na­tür­lich. Dar­an erin­nert uns Dom Gué­ran­ger in einem gol­de­nen und sehr aktu­el­len Büch­lein, das gera­de ins Eng­li­sche über­setzt wur­de (The Chri­sti­an Sen­se of Histo­ry, Calx Mariae Publi­shing, Lon­don 2022, mit einer Ein­füh­rung von Pater Albert M. Schmitt, Mönch von Soles­mes). In Ita­li­en wur­de das Buch 2005 von Edi­zio­ni Pia­ne ver­öf­fent­licht [auf deutsch liegt es noch nicht vor].

Dom Pro­sper Gué­ran­ger wur­de am 4. April 1805 in der Nähe der ehe­ma­li­gen Bene­dik­ti­ner­ab­tei Soles­mes gebo­ren, die 1790 wäh­rend der Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on auf­ge­ho­ben wur­de, und starb am 30. Janu­ar 1875, nach­dem er die Abtei und damit den Bene­dik­ti­ner­or­den wie­der­her­ge­stellt hat­te. Im Jahr 2005 wur­de sein Selig­spre­chungs­pro­zeß in der Diö­ze­se Le Mans ein­ge­lei­tet. Weni­ge Mona­te nach sei­nem Tod ver­öf­fent­lich­te Pius IX. einen Brief zu sei­nen Ehren, in dem es hieß, daß er, „aus­ge­stat­tet mit einem star­ken Genie, einer wun­der­ba­ren Gelehr­sam­keit und einer tie­fen Kennt­nis der kano­ni­schen Regeln, sein gan­zes Leben lang die Leh­re der katho­li­schen Kir­che und die Vor­rech­te des römi­schen Pap­stes in sei­nen wert­voll­sten Schrif­ten mutig ver­tei­digt hat“ (Bre­ve Eccle­sia­sti­cis viris vom 19. März 1875).

Dom Gué­ran­ger war ein Ver­tre­ter der ultra­mon­ta­nen Strö­mung, die in Frank­reich die Namen von Lou­is Veuil­lot und Kar­di­nal Pie, in Eng­land von Pater Fred­rick W. Faber und Kar­di­nal Man­ning, in Spa­ni­en des hei­li­gen Anto­ni­us Maria Cla­ret trug. Die Ultra­mon­ta­nen waren die­je­ni­gen, die die gro­ßen Akte des Pon­ti­fi­kats des seli­gen Pius IX. enthu­sia­stisch unter­stütz­ten: die Ver­kün­di­gung der Unbe­fleck­ten Emp­fäng­nis (1854), die Ver­ur­tei­lung des Libe­ra­lis­mus mit dem Syl­labus (1864) und die Defi­ni­ti­on der Dog­men vom Pri­mat und der Unfehl­bar­keit des Pap­stes (1870).

In The Chri­sti­an Sen­se of Histo­ry („Der christ­li­che Sinn der Geschich­te“) bekräf­tigt Dom Gué­ran­ger nach­drück­lich, daß sich der Katho­lik nicht auf eine mensch­li­che und natu­ra­li­sti­sche Les­art der geschicht­li­chen Ereig­nis­se beschrän­ken darf, da wir von Gott zu einer über­na­tür­li­chen Bestim­mung beru­fen sind. Die Ver­nunft ist ohne Glau­ben nicht in der Lage, die­ses Schick­sal zu ver­ste­hen. „Die über­na­tür­li­che Offen­ba­rung war an sich nicht not­wen­dig: Der Mensch hat­te kein Recht auf sie; aber Gott hat sie gege­ben und ver­kün­det. Seit­dem reicht die Natur allein nicht mehr aus, um den Men­schen zu erklä­ren“ (S. 10). Des­halb, so Dom Gué­ran­ger, „ist jedes histo­ri­sche System, das die über­na­tür­li­che Ord­nung bei der Dar­stel­lung und Inter­pre­ta­ti­on der Tat­sa­chen außer acht läßt, ein fal­sches System, das nichts erklärt und die mensch­li­che Geschich­te in stän­di­gem Cha­os und Wider­spruch beläßt“ (S. 12). Die Schwä­chen und Miß­bräu­che der Kir­chen­män­ner über­ra­schen den katho­li­schen Histo­ri­ker nicht, der die Rich­tung, den Geist, den gött­li­chen Instinkt der Kir­che zu erken­nen weiß. Er betrach­tet nicht die poli­ti­sche Sei­te der Ereig­nis­se, son­dern „nennt gut, was die Kir­che für gut hält, schlecht, was die Kir­che für schlecht hält“ (S. 18); „der Christ beur­teilt Tat­sa­chen, Men­schen, Insti­tu­tio­nen vom Stand­punkt der Kir­che aus; er ist nicht frei, anders zu urtei­len, das ist sei­ne Stär­ke“ (S. 57).

Die Kir­che hält immer stand, trotz der inne­ren und äuße­ren Angrif­fe, denen sie aus­ge­setzt ist. „Häre­si­en, Skan­da­le, Abtrün­ni­ge, Erobe­run­gen, Revo­lu­tio­nen haben sie nicht erschüt­tert; von einem Land abge­lehnt, ist sie in ande­re vor­ge­drun­gen; immer sicht­bar, immer katho­lisch, immer sieg­reich und immer auf die Pro­be gestellt“ (S. 26).

Bei der Rück­kehr des Pap­stes aus Ast­a­na, wo er am Sieb­ten Kon­gress der Welt­re­li­gio­nen teil­ge­nom­men hat, konn­te man die Wahr­heit der kri­ti­schen Wor­te von Dom Gué­ran­ger gegen­über die­sen „neu­tra­len Plät­zen, auf denen sich bestimm­te Gläu­bi­ge und Ungläu­bi­ge tref­fen, um eine Art von Kon­gres­sen abzu­hal­ten, von denen alle so zurück­keh­ren, wie sie gegan­gen sind“, nicht über­se­hen. (S. 85). Die Gesell­schaft braucht kei­ne mul­ti­re­li­giö­sen Tref­fen, aber kon­se­quen­te Leh­ren und kom­pro­miß­lo­se Katho­li­ken. „Wenn es eine Aus­sicht auf Ret­tung für die Gesell­schaft gibt, dann liegt sie in der Stand­haf­tig­keit der Chri­sten“ (S. 64). In der Tat ist mit dem „vol­len und voll­stän­di­gen Bekennt­nis des Glau­bens“ (S. 64) eine Gna­de ver­bun­den: „Der Christ hat nicht nur die Pflicht zu glau­ben, son­dern auch die Pflicht, das zu ver­kün­den, was er glaubt“ (S. 55). Der Papst, die Bischö­fe und die Prie­ster soll­ten vor der Welt ver­kün­den, daß Jesus Chri­stus der König der Geschich­te und der ein­zi­ge Erlö­ser ist. „Sehen wir also die Mensch­heit in ihrer Bezie­hung zu Jesus Chri­stus, ihrem Füh­rer; neh­men wir sie nie aus dem Blick, weder wenn wir urtei­len noch wenn wir die Geschich­te erzäh­len; und wenn unser Blick auf die Welt­kar­te gerich­tet ist, den­ken wir zual­ler­erst dar­an, daß wir das Reich Got­tes und der Men­schen und Sei­ner Kir­che vor Augen haben“ (S. 28).

Im Zeit­al­ter des Natu­ra­lis­mus und der Säku­la­ri­sie­rung, in dem wir leben, erin­nern uns die Sei­ten von Dom Gué­ran­ger dar­an, daß die Bestim­mung des Men­schen­ge­schlechts nicht irdisch, son­dern himm­lisch ist. Nur die Kir­che hat die Schlüs­sel, die die Türen zur über­na­tür­li­chen Bestim­mung der Mensch­heit öff­nen. Alle ande­ren Wege sind falsch und unwahr, ganz gleich, wie gut die Absich­ten derer sind, die sie beschreiten.

*Rober­to de Mat­tei, Histo­ri­ker, Vater von fünf Kin­dern, Pro­fes­sor für Neue­re Geschich­te und Geschich­te des Chri­sten­tums an der Euro­päi­schen Uni­ver­si­tät Rom, Vor­sit­zen­der der Stif­tung Lepan­to, Autor zahl­rei­cher Bücher, zuletzt in deut­scher Über­set­zung: Ver­tei­di­gung der Tra­di­ti­on: Die unüber­wind­ba­re Wahr­heit Chri­sti, mit einem Vor­wort von Mar­tin Mose­bach, Alt­öt­ting 2017 und Das Zwei­te Vati­ka­ni­sche Kon­zil. Eine bis­lang unge­schrie­be­ne Geschich­te, 2. erw. Aus­ga­be, Bobin­gen 2011.

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Über­set­zung: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: Cor­ri­spon­den­za Romana

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