(Rom) Der Vatikan verschärft unter dem Druck westlicher Staatskanzleien seine Sprache zum Ukrainekonflikt. Der Heilige Stuhl habe seine Vermittlung angeboten, doch Rußland habe bisher nicht darauf reagiert. Der Osservatore Romano veröffentlichte auf seiner Titelseite ein Foto, um die (russischen) Greuel des Krieges zu zeigen, das allerdings im Verdacht steht, ein (ukrainisches) Fake-Bild zu sein.
Während Papst Franziskus direkte Kontakte suchte, sich in der Wortwahl aber zurückhielt, schlugen die vatikanischen Medien eine akzentuiertere Sprache an. Nach einer sprachlichen „Eskalation“ erfolgte am 12. März der Tabubruch: Das mehrsprachige Nachrichtenportal Vatican News und der Osservatore Romano veröffentlichten einen Leitartikel ihres gemeinsamen Hauptchefredakteurs Andrea Tornielli, in dem erstmals von einer „Aggression der russischen Armee in der Ukraine“ die Rede ist. Gestern wiederholte Papst Franziskus die Anklage.
Zwei Tage zuvor war dem Osservatore Romano die Schlagzeile auf seiner Titelseite zum Vorwurf gemacht worden, die nur lautete: „Sondermilitäroperation“. Damit, so die Kritiker, werde der „heuchlerischen“ Sprache Putins zugearbeitet.
Allerdings hatte die Zeitung dazu zwei großformatige Bilder von der Kinder- und Geburtenklinik in Mariupol und eine blutüberströmte Schwangere veröffentlicht, die aus dem zerstörten Krankenhaus gerettet wird. Die Bildsprache und die Schlagzeile dazu ergeben eine unausgesprochene, aber eindeutige Anklage. Antirussische Kreise aber akzeptieren derzeit keine Subtilität.
Beim gestrigen Angelus nahm Papst Franziskus erneut zum Ukrainekonflikt Stellung. Nicht zum ersten Mal, aber jedesmal um einen Ton deutlicher. Gestern sagte er:
„Brüder und Schwestern, wir haben gerade zur Jungfrau Maria gebetet. Diese Woche ist die Stadt, die ihren Namen trägt, Mariupol, zu einer Märtyrerstadt in dem erschütternden Krieg geworden, der in der Ukraine wütet. Angesichts der Barbarei der Tötung von Kindern, von unschuldigen Menschen und von wehrlosen Zivilisten gibt es keine strategischen Begründungen, die stichhaltig wären: das einzige, was es zu tun gilt, ist, der inakzeptablen bewaffneten Aggression ein Ende zu setzen, bevor sie Städte in Friedhöfe verwandelt. Mit Trauer im Herzen vereint sich meine Stimme mit jener des einfachen Volkes, das um ein Ende des Krieges fleht. In Gottes Namen, hört auf den Schrei der leidenden Menschen und laßt die Bombenangriffe und die Attacken aufhören! Setzt wirklich und entschlossen auf die Verhandlungen und sorgt dafür, daß die humanitären Korridore effizient und sicher sind. Im Namen Gottes bitte ich euch: Beendet dieses Massaker!“
Der Papst nennt Mariupol eine „Märtyrerstadt“ und spricht von einer „inakzeptablen bewaffneten Aggression“ gegen „unschuldige Menschen“, „wehrlose Zivilisten“ und von der „Barbarei der Tötung von Kindern“.
Die Nachricht und die Bilder von der Gebärklinik waren vom ukrainischen Präsidenten Selenskyj am 9. März, dem Mittwoch der Vorwoche, auf Telegram verbreitet wurden. Er schrieb:
„Mariupol. Direkter Schlag der russischen Truppen in der Entbindungsklinik. Menschen, Kinder sind unter den Trümmern. Frechheit! Wie lange wird die Welt ein Komplize sein, Terror zu ignorieren? In der Nähe der Himmel jetzt! Stoppen Sie das Töten! Sie haben Macht, aber Sie scheinen die Menschlichkeit zu verlieren.“
Die Bilder von einem Ereignis, das zu Recht in der öffentlichen Meinung kein Verständnis findet und auch nicht finden kann. Allerdings traten bereits am nächsten Tag Zweifel auf. Die russische Seite berichtete bereits am 7. März, die Klinik sei geräumt und vom ukrainischen Asow-Regiment, einer paramilitärischen ukrainischen Freischar, bezogen worden. Nur Propaganda?
Die Schwangere, die dem Schrecken der russischen Aggression ein Gesicht gegeben hat, ist Fotomodell und Beauty-Bloggerin. Sie wird in Bildern und in dem Video gleich mehrfach gezeigt. Auf Instagram erfährt man unter dem Namen „gixie_beauty“, um wen es sich dabei handelt. Sie ist wirklich schwanger, weshalb die ukrainische Version durchaus richtig sein kann. Auf Instagram hat sie zuletzt am 28. Februar etwas veröffentlicht. Sie könnte zur Entbindung in die Klinik gegangen und von den Kriegsereignissen überrascht worden sein. Seither hat sie nichts mehr geschrieben, was für professionelle Instagramer verwundert.
Wenn Zweifel dennoch berechtigt sind, dann deshalb, weil sie gleich mehrfach gezeigt wird, unterschiedlich gekleidet und zurechtgerichtet.
Es herrscht Propagandakrieg auf beiden Seiten. Westliche Medien, die stramm antirussisch ausgerichtet sind, beschuldigen Moskau nicht nur eine Gebärklinik bombardiert zu haben, sondern auch noch auf dem Rücken der geretteten Schwangeren Fake News zu verbreiten. Die Neue Zürcher Zeitung ist zum Vorfall sehr zurückhaltend.
Denn das mit den Fake News ist so eine Sache, wie man spätestens seit Corona weiß. Die Regierung Putin hat kein Monopol darauf. Mitnichten.
Kein Bild bewegt seit dem 9. März die westliche Öffentlichkeit mehr als Selenskyjs Bilder von Marianna. Zwar weiß kaum jemand, daß sie Marianna heißt, aber dem Publikum wurde unzählige Male die Szene mit der Rettung von Marianna im Fernsehen und in den Zeitungen gezeigt und in den Talk Shows in Erinnerung gerufen.
Was aber hat das mit Papst Franziskus und dem Osservatore Romano zu tun?
Am 10. März veröffentlichte auch die Tageszeitung des Papstes das Bild von Marianna auf der Titelseite, um Rußland anzuklagen. Die Schrecken der russischen Aggression haben ein Gesicht. Oder müßte man sagen, die ukrainische Fake-Propaganda hat einen Namen? Es herrscht Unsicherheit. Zurückhaltung ist geboten. Westliche Medien verbreiten unhinterfragt.
Darf man das überhaupt kritisieren? Richtet sich das nicht gegen die Opfer? Die Sache ist delikat und unangenehm, keine Frage. Dennoch: Mit falschen Bildern und Nachrichten wurden schon Kriege vom Zaun gebrochen.
Niemand wirft Papst Franziskus oder den vatikanischen Medien vor, absichtlich Fake News zu verbreiten, allerdings vielleicht leichtfertig auf einen populistischen Zug aufzuspringen. Vatikanische Medien sollten sich hüten, zu Mitteln zu greifen, mit denen die Emotionen aufgeheizt werden. Die Echtheit von Bildmaterial muß gewährleistet sein.
Papst Franziskus hält die Bilder von Marianna offenbar für echt, da er genau diesen Kontext aufgriff, denn was sonst will er sagen, wenn er ausgerechnet Mariupol als „Märtyrerstadt“ bezeichnet und seine Anklage formuliert, wie er sie formuliert hat.
Auf Kriegsdetails einzugehen ist immer heikel, da in jedem Krieg Täuschung und Falschmeldungen regieren. Man kann leicht in die Irre geführt werden. Da Papst Franziskus zu Recht anprangerte, daß es „keine strategischen Begründungen“ geben könne, die „stichhaltig wären“, wehrlose Zivilisten zu töten, sollte aber hinzugefügt werden, daß es ebenso „keine (stichhaltigen) strategischen Begründungen“ geben kann, Zivilisten als lebende Schutzschilde zu mißbrauchen, wie es ukrainische Freischärler tun.
Eine Rückblende
Das folgende Beispiel ist eines von vielen. Es gibt sie in jedem „modernen“ Krieg. Am 27. August 1914 wurde von der britischen Times die Nachricht verbreitet, deutsche Soldaten hätten in Belgien Kindern die Hände abgehackt. Die Empörung war enorm. Die Deutschen wurden zu Barbaren gestempelt. Diese Nachricht wurde auf alliierter Seite im Ersten Weltkrieg eines der relevantesten Propagandainstrumente gegen das Deutsche Reich. Zeichnungen und Karikaturen setzten das Verbrechen ins Bild. Doch in Wirklichkeit handelte es sich um eine Greuellüge. Die Medien anderer Länder übernahmen die Nachricht, da die Times als „glaubwürdige“ Quelle gilt. Das britische Unterhaus debattierte die Sache und empörte sich über das deutsche Verbrechen…, das eine Propagandalüge war. Francesco Nitti war 1919/1920, genau in der Zeit der Friedensverhandlungen in den Pariser Vororten, in denen die Verträge von Versailles und Saint-Germain entstanden, zuerst Außenminister, dann Ministerpräsident Italiens. Nitti schrieb in seinen Lebenserinnerungen:
„Während des Krieges hat Frankreich, gemeinsam mit anderen Verbündeten, einschließlich unserer eigenen Regierung in Italien, die widersinnigsten Erdichtungen in Umlauf gesetzt, um den Kampfgeist anderer Völker zu erwecken. Die den Deutschen zur Last gelegten Grausamkeiten waren haarsträubend.“
Text: Giuseppe Nardi
Bild: MiL/Osservatore Romano (Screenshots)