Die Wurzeln des christlichen Europas und die Bedrohung der baltischen Staaten

Unabhängigkeit und Freiheitsstreben im Baltikum


Die drei baltischen Staaten: Estland, Lettland und Litauen.
Die drei baltischen Staaten: Estland, Lettland und Litauen.

Von Rober­to de Mattei*

Anzei­ge

Gibt es in Wla­di­mir Putins Plä­nen eine Absicht zur Tren­nung der drei bal­ti­schen Repu­bli­ken (Litau­en, Lett­land und Est­land) von der Euro­päi­schen Uni­on? Dies könn­te gesche­hen, wenn Ruß­land die Suwal­ki-Lücke besetzt, einen 90 km lan­gen Land­strei­fen, der Polen mit Litau­en ver­bin­det und Weiß­ruß­land von Kali­nin­grad trennt, wo die Ost­see­flot­te der rus­si­schen Mari­ne sta­tio­niert ist. Wenn sich der Ukrai­ne-Kon­flikt aus­wei­tet und es Ruß­land gelingt, Weiß­ruß­land mit der Enkla­ve Kali­nin­grad zu ver­bin­den, wären die bal­ti­schen Staa­ten von einer mög­li­chen Ent­la­stung durch NATO-Land­streit­kräf­te iso­liert. Dies wäre nicht nur eine mili­tä­ri­sche Iso­lie­rung, son­dern auch ein Ver­such, die­se Völ­ker zu ent­eu­ro­päi­sie­ren, für die die poli­ti­schen Gren­zen der Euro­päi­schen Uni­on eben­so wie die der NATO eine Ver­tei­di­gungs­bar­rie­re gegen Ruß­land, ihren jahr­hun­der­te­al­ten Feind, darstellen.

Lett­land und Est­land spie­geln sich in der Bucht von Riga. Die Spra­che der Let­ten ist eben­so wie die der Litau­er indo­ger­ma­nisch, wäh­rend die Spra­che der Esten zum fin­no-ugri­schen Stamm gehört. Abge­se­hen von den eth­ni­schen und sprach­li­chen Unter­schie­den ist die histo­ri­sche Ver­bin­dung zwi­schen die­sen bei­den Län­dern jedoch enger als die zwi­schen ihnen und Litau­en. Letz­te­res war ein gro­ßer Staat, wäh­rend Lett­land und Est­land zwar ihren eige­nen natio­na­len Cha­rak­ter besa­ßen, aber bis ins 20. Jahr­hun­dert hin­ein frem­den Mäch­ten unter­stellt waren. Reval (Tal­linn) und Riga, die bei­den Haupt­städ­te, gehör­ten zur Han­se, einem Städ­te­bund, der zwi­schen dem spä­ten Mit­tel­al­ter und am Beginn der Neu­zeit ein Han­dels­mo­no­pol über wei­te Tei­le Nord­eu­ro­pas inne­hat­te. In den Alt­städ­ten von Riga und Reval atmet man die mit­tel­al­ter­li­che Atmo­sphä­re, die typisch für deut­sche Städ­te der Ver­gan­gen­heit ist. So stel­len wir uns Lübeck und Dan­zig vor, bevor sie im Krieg zer­stört wur­den.

Lett­land und Est­land gehör­ten im Mit­tel­al­ter zu Liv­land, einem Gebiet, das sich vom unte­ren Tal des Flus­ses Düna bis zum Golf von Riga erstreck­te. Es waren die zu Beginn des 13. Jahr­hun­derts statt­fin­den­den „Bal­ti­schen Kreuz­zü­ge“, die die­se Völ­ker in die Geschich­te des Westens ein­führ­ten. Die Sach­sen, die von Karl dem Gro­ßen unter­wor­fen wor­den waren, unter­war­fen ihrer­seits bal­ti­sche und sla­wi­sche Völ­ker mit Waf­fen­ge­walt. Riga wur­de 1201 von Albert von Bux­te­hoe­ven gegrün­det, der die Stadt zum Sitz des Schwert­brü­der­or­dens (Brü­der der Rit­ter­schaft Chri­sti von Liv­land) mach­te, der kurz dar­auf mit dem Deut­schen Orden ver­ei­nigt wur­de. Die Stadt Reval wur­de 1219 vom däni­schen König Wal­de­mar II. und dem Erz­bi­schof Anders Sune­sen von Lund gegrün­det. Auch sie war mit mäch­ti­gen Mau­ern und Wach­tür­men befe­stigt und beher­berg­te die bal­ti­schen Kreuz­fah­rer. Der Schwert­brü­der­or­den nahm die Burg 1227 mit päpst­li­chem Auf­trag in Besitz. Der erste Bischof von Liv­land war ein deut­scher Ordens­mann, der hei­li­ge Mein­hard von Sege­berg (1134–1196), des­sen Kult von Johan­nes Paul II. wäh­rend sei­nes Besuchs in der Regi­on im Jahr 1993 wie­der­her­ge­stellt wurde.

Die Han­se­städ­te waren Teil des Hei­li­gen Römi­schen Rei­ches und hat­ten den Deut­schen Orden als „Beschüt­zer“. Seit 1457 hat­te der Orden sei­nen Sitz in der von ihm gegrün­de­ten Stadt Königs­berg, die 1946 in Kali­nin­grad umbe­nannt wur­de. Die pro­te­stan­ti­sche Wel­le, die sich im 16. Jahr­hun­dert von Deutsch­land aus aus­brei­te­te, erfaß­te auch die bal­ti­schen Staa­ten. Gott­hard Kett­ler, Land­mei­ster des Deut­schen Ordens in Liv­land, kon­ver­tier­te 1561 zum Luther­tum, löste den Ordens­staat auf und wur­de Her­zog von Kur­land und Sem­gal­len [das heu­ti­ge süd­li­che Lett­land]. In den fol­gen­den Jahr­hun­der­ten kämpf­ten Polen-Litau­en, Däne­mark und Schwe­den um das Domi­ni­um maris bal­ti­ci, das jedoch im Bal­ti­kum zuneh­mend unter den Ein­fluß Ruß­lands geriet [rus­si­sche Erwer­bun­gen: 1700 Schwe­disch-Liv­land, 1721 Schwe­disch-Est­land, 1795 Kur­land und Litau­en]. Die Erben der Deutsch­or­dens­rit­ter, die „bal­ti­schen Baro­ne“, die einen gro­ßen Teil des Lan­des besa­ßen, bil­de­ten nun eine Art deut­sche „Enkla­ve“ im rie­si­gen rus­si­schen Reich. Die bal­ti­schen Festun­gen, ver­streut zwi­schen Wäl­dern und Seen in dunk­len und leuch­ten­den Far­ben, bewach­ten einst die Gren­zen des Christentums.

Der Erste Welt­krieg brach aus, und der am 3. März 1918 zwi­schen Sowjet­ruß­land und den Mit­tel­mäch­ten unter­zeich­ne­te Ver­trag von Brest-Litowsk lei­te­te den Pro­zeß der Befrei­ung der bal­ti­schen Staa­ten ein. Vor der Aner­ken­nung ihrer Unab­hän­gig­keit durch den Ver­sailler Ver­trag kam es in die­sen Gebie­ten zu gewalt­sa­men Aus­ein­an­der­set­zun­gen zwi­schen den Rus­sen der Roten Armee und der Wei­ßen Armee, den let­ti­schen und est­ni­schen Natio­na­li­sten und den von den bal­ti­schen Baro­nen rekru­tier­ten Freischaren.

Wäh­rend der Ver­trag von Brest-Litowsk im Jahr 1918 die Unab­hän­gig­keit der bal­ti­schen Staa­ten sank­tio­nier­te, wur­den sie durch den Molo­tow-Rib­ben­trop-Pakt vom 23. August 1939 aus der Geschich­te getilgt. Est­land, Lett­land und Litau­en wur­den von den Sowjets besetzt und ab 1941 zum Schau­platz von Kämp­fen zwi­schen der Wehr­macht und der Roten Armee. Sta­lin ord­ne­te die Depor­ta­ti­on von Poli­ti­kern, Beam­ten, Prie­stern, aber auch von Per­so­nen, die ein­fach nur Besitz hat­ten, nach Sibi­ri­en an. Zu ihnen gehör­te der aus dem Rhein­land stam­men­de Jesui­ten­erz­bi­schof Edu­ard Pro­fitt­lich (1890–1942), der 1931 von Pius XI. zum Apo­sto­li­schen Admi­ni­stra­tor von Est­land ernannt wur­de und damit der erste katho­li­sche Bischof war, der seit dem Mit­tel­al­ter in Est­land wirk­te. Er wur­de zum Tode ver­ur­teilt und starb am 22. Febru­ar 1942 im Gulag Kirow, bevor sein Urteil voll­streckt wur­de. Sein Selig­spre­chungs­pro­zeß wur­de eingeleitet.

Es ent­stan­den die ersten Wider­stands­or­ga­ni­sa­tio­nen gegen die Inva­so­ren. Die let­ti­schen und est­ni­schen Par­ti­sa­nen, die sich „Wald­brü­der“ nann­ten, und die Litaui­sche Frei­heits­ar­mee waren ab 1944 die Prot­ago­ni­sten eines epi­schen bewaff­ne­ten Wider­stands gegen die sowje­ti­schen Besat­zer. Gegen die anti­kom­mu­ni­sti­schen Frei­heits­kämp­fer setz­ten die Sowjets gan­ze Ein­hei­ten der Roten Armee, der Miliz und der Geheim­po­li­zei NKWD ein. Der Wider­stand ging auch nach dem Ende des Krie­ges wei­ter. Die Ame­ri­ka­ner ver­such­ten in den ersten Jah­ren, den bewaff­ne­ten Kampf mit Hil­fe von Fall­schirm­sprin­gern und Frei­wil­li­gen zu unter­stüt­zen, aber die sowje­ti­sche Infil­tra­ti­on inner­halb der CIA führ­te dazu, daß sie ihre Unter­stüt­zung bald auf­ga­ben. Die blu­ti­ge Nie­der­schla­gung des unga­ri­schen Auf­stan­des 1956 bedeu­te­te das Ende der letz­ten Hoff­nun­gen auf west­li­che Hil­fe. Tau­sen­de von Par­ti­sa­nen star­ben in dem, was als läng­ster Frei­heits­kampf im Bal­ti­kum in die Geschich­te ein­ge­hen soll­te, wie vor allem von den Histo­ri­kern Hein­rihs Strods in Lett­land (Lat­vi­an Natio­nal Par­ti­san War 1944–1956, Lat­vi­jas, Riga 2003) und Mart Laar in Est­land (War in the Woods: Estonia’s Strugg­le for Sur­vi­val, 1944–1956, Wha­les­back Books, Washing­ton D. C. 1992, dt. Aus­ga­be: Der ver­ges­se­ne Krieg: die bewaff­ne­te Wider­stands­be­we­gung in Est­land 1944–1956, Tal­linn 2005) ans Licht gebracht wur­de. C. 1992) und in Ita­li­en von Alber­to Ros­sel­li (La resi­sten­za anti­s­o­vie­ti­ca e anti­co­mu­ni­sta in Euro­pa ori­en­ta­le, 1944–1956, Set­ti­mo Sigil­lo, Roma 2004) in Erin­ne­rung geru­fen wurde.

Im Dezem­ber 1990 hat­ten die von Pli­nio Cor­rêa de Oli­vei­ra (1908–1995) geführ­ten Ver­ei­ni­gun­gen Tra­di­ti­on, Fami­lie und Eigen­tum (TFP) 5.212.580 Unter­schrif­ten zur Ver­tei­di­gung der Unab­hän­gig­keit und Frei­heit Litau­ens nach Wil­na gebracht, das von Gor­bat­schow bedroht wur­de. Am 2. Janu­ar 1991 befahl der Kreml-Chef sei­nen Pan­zern, in Litau­en ein­zu­mar­schie­ren. Die Regie­rung ver­schanz­te sich im Par­la­ment, beschützt von Mas­sen jun­ger Men­schen mit Rosen­krän­zen in den Hän­den, die Hym­nen an die Mut­ter­got­tes san­gen. Neun von ihnen star­ben hel­den­haft, aber der rus­si­sche Prä­si­dent war zum Rück­zug gezwun­gen. Das Bei­spiel ver­brei­te­te sich wie ein Lauf­feu­er, und die Sowjet­re­pu­bli­ken, allen vor­an die bal­ti­schen, lösten sich von Mos­kau und lei­te­ten damit den end­gül­ti­gen Zusam­men­bruch der UdSSR ein.

Seit April 2004 steht der bal­ti­sche Luft­raum unter der Kon­trol­le von NATO-Flug­zeu­gen, und zwar auf Ersu­chen der Völ­ker, auf denen eine tra­gi­sche histo­ri­sche Erin­ne­rung lastet. Bei einem Tref­fen mit den Staats- und Regie­rungs­chefs der drei bal­ti­schen Repu­bli­ken am 9. Mai 2005 in Riga erklär­te US-Prä­si­dent Geor­ge W. Bush, daß die sowje­ti­sche Beset­zung Ost­eu­ro­pas nach dem Zwei­ten Welt­krieg als „eine der größ­ten Unge­rech­tig­kei­ten in der Geschich­te“ in Erin­ne­rung blei­ben wer­de, und füg­te hin­zu, daß ein Gut­teil der Ver­ant­wor­tung dafür den USA zuzu­schrei­ben ist. Die Kon­fe­renz von Jal­ta 1945, so der ame­ri­ka­ni­sche Prä­si­dent, ste­he in der unge­rech­ten Tra­di­ti­on des Molotow-Ribbentrop-Pakts.

Das ukrai­ni­sche Volk, aber auch die Bewoh­ner der von Wla­di­mir Putin bedroh­ten bal­ti­schen Repu­bli­ken, blicken heu­te mit Sor­ge auf die dra­ma­ti­sche Ent­wick­lung des Krie­ges, der sich im Her­zen Euro­pas auf­ge­tan hat. In der trüb­se­li­gen Schön­heit der Musik des Esten Arvo Pärt, eines der größ­ten zeit­ge­nös­si­schen Kom­po­ni­sten, scheint der Schrei der Lie­be die­ser Län­der zu den alten Wur­zeln des christ­li­chen Abend­lan­des aus den Tie­fen des Mit­tel­al­ters auf­zu­stei­gen und neue Aus­drucks­for­men zu finden.

*Rober­to de Mat­tei, Histo­ri­ker, Vater von fünf Kin­dern, Pro­fes­sor für Neue­re Geschich­te und Geschich­te des Chri­sten­tums an der Euro­päi­schen Uni­ver­si­tät Rom, Vor­sit­zen­der der Stif­tung Lepan­to, Autor zahl­rei­cher Bücher, zuletzt in deut­scher Über­set­zung: Ver­tei­di­gung der Tra­di­ti­on: Die unüber­wind­ba­re Wahr­heit Chri­sti, mit einem Vor­wort von Mar­tin Mose­bach, Alt­öt­ting 2017 und Das Zwei­te Vati­ka­ni­sche Kon­zil. Eine bis­lang unge­schrie­be­ne Geschich­te, 2. erw. Aus­ga­be, Bobin­gen 2011.

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Über­set­zung: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: Wiki­com­mons

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