Von Wolfram Schrems*
Dieser Teil schließt unmittelbar an den 1. Teil vom 03.03.21 an. Wie angekündigt, wird hier ein Paragraph im Ignatianischen Exerzitienbuch vorgestellt, der aus dem Gesamtzusammenhang gerissen zu Fehlentwicklungen führen kann.
Damit gehen wir ins Detail:
Exerzitienbuch Nr. 22: die Aussagen des Nächsten „retten“
Zunächst der volle Text des Paragraphen 22:
„Damit sowohl der, der die geistlichen Übungen gibt, wie der, der sie empfängt, einander jeweils mehr helfen und fördern, haben sie vorauszusetzen, daß jeder gute Christ mehr bereit sein muß, eine Aussage des Nächsten zu retten, als sie zu verdammen. Vermag er sie aber nicht zu retten, so forsche er nach, wie jener sie versteht, und wenn er sie übel versteht, so verbessere er ihn mit Liebe, genügt dies aber nicht, so suche er alle passenden Mittel, daß jener, sie richtig verstehend, sich rette“ (Ignatius von Loyola, Die Exerzitien, übertragen von Hans Urs von Balthasar, Johannes Verlag Einsiedeln, 11. Auflage 1993, S. 17)1.
Zunächst stellt man fest: Der Wortsinn dieser Stelle ist auf den ersten Blick nicht vollständig klar. Denn wie kann man jemanden anleiten, dessen eigene Aussage „richtig zu verstehen“? Derjenige, der die Aussage tätigt, wird wohl selbst wissen, wie diese verstanden werden soll. Vom Wortlaut bleibt daher unklar, ob „jeder gute Christ“ seinem Gesprächspartner etwas regelrecht einreden soll, was dieser nicht meint und nicht intendiert. Während das ein manipulativer, also mißbräuchlicher Einsatz dieser Regel wäre, wird man den richtigen Einsatz der Regel herausstreichen müssen, nämlich genau zuzuhören und dann allenfalls dort zu korrigieren, wo es notwendig ist (in Anlehnung an Mt 18,15ff):
Berechtigung dieser Regel…
Positiv kann aus dieser Regel herausgezogen werden, daß jeder Christ seinem Gesprächspartner gut zuhören soll, damit er genau versteht, was dieser eigentlich sagen will. Das ist ein Gebot der Nächstenliebe. Es gilt innerhalb des Exerzitienbetriebs, der natürlich ein hochsensibler Bereich ist, und außerhalb. Allerdings ist der Redende auch zu Wahrhaftigkeit verpflichtet.
Die Nächstenliebe gebietet darüber hinaus, seinem Gesprächspartner nicht mit sinnlosen und irrelevanten Worten die Zeit zu stehlen (vgl. Mt 12,36).
Als historisches Vorbild für das genaue Zuhören, soweit es die Wissenschaft betrifft, kann der hl. Thomas von Aquin gelten. Dieser gibt in den einzelnen Artikeln der Summa theologiae zunächst Einwände gegen seine eigene Meinung wieder. Er hört die andere Seite (nach der juristischen Maxime audiatur et altera pars) und formuliert deren Position in eigenen Worten, um zu demonstrieren, daß er sie verstanden hat. Dann formuliert er einen Widerspruch (sed contra), die Konklusion und die Widerlegungen gegen die Einwände. Das ist ein vorbildliches Vorgehen. Allerdings waren diejenigen Autoren, mit denen sich Thomas auseinandersetzte, ernstzunehmende Autoritäten (abgesehen davon, daß Thomas auch Bibelstellen anführt, die seiner eigenen Meinung auf den ersten Blick widersprechen). Diese Situation ist heute überhaupt nicht mehr gegeben, da bekanntlich auch und besonders Professoren und Intellektuelle häufig Papageien von Modeströmungen oder Agenten von Regierungen sind. Oder – paradoxerweise – im Zeichen des Skeptizismus jede Möglichkeit von Wahrheitserkenntnis ohnehin bestreiten. Warum soll man sie dann überhaupt anhören?
Weiterhin kann aus dieser Regel herausgezogen werden, daß „jeder gute Christ“ auch bereit sein muß, bei seinem Gesprächspartner gegebenenfalls nachzufragen, wenn etwas unklar ist, oder ihn sogar zu korrigieren. Ziel dieser Vorgangsweise ist, dem Gesprächspartner zu helfen, sich „zu retten“, also das Seelenheil zu erlangen. Dafür ist die bedingungslose Liebe zur Wahrheit wesentlich. Genau betrachtet vertritt Ignatius also keinerlei Relativismus. Es geht auch nicht um naive Gutgläubigkeit. Diese Anweisung steht ja im Rahmen des Exerzitienbuches, das seinerseits im Rahmen des überlieferten katholischen Glaubens steht. Daraus ist zu folgern, daß derjenige, der die Exerzitien gibt, und derjenige, der sie empfängt, an die Vorgaben des katholischen Glaubens gebunden sind.
Davon hat man sich aber auch im jesuitischen Exerzitienbetrieb in vielen Fällen entfernt. Daher kann diese Regel falsch interpretiert werden:
… und mögliche Fehlentwicklung
Eine Fehlentwicklung kommt also zustande, wenn aus dieser Regel des Exerzitienbuches gefolgert wird, man müsse schlechterdings in jeder Situation jedem Wahrhaftigkeit und guten Willen konzedieren. Das wäre naiv und unrealistisch.
Problematisch wäre auch folgende Annahme: Falls man beim Gesprächspartner keinen guten Willen ausmachen kann, könne man den Gesprächspartner dennoch immer durch geduldige Korrekturen auf einen guten Weg bringen. Denn damit würde man sich erpreßbar machen und sich viel Zeit und Energie für ein ungewisses Resultat stehlen lassen.2
Um wieviel mehr gilt das für berufsmäßige Sophisten und Lügner im Dienst totalitärer Propaganda. Diese hatte Ignatius bei der Abfassung des Exerzitienbuches und somit der gegenständlichen Regel aber auch nicht im Auge.
Wie wir um uns sehen, hat sich diese Regel gleichsam verselbständigt und ausgeweitet. Dabei kann man ohne aufwendige Forschung nicht sagen, inwieweit die Propagandisten des (fast) uneingeschränkten „Dialogs“ sich explizit auf diese Regel beriefen. Klar ist jedenfalls, daß man heutzutage seitens der Kirche im allgemeinen und seitens der Jesuiten im besonderen jedem zutraut, ein würdiger Gesprächspartner zu sein.
Allgegenwärtiger und unrealistischer „Dialog“ – aber natürlich nicht mit jedem
Denn genau diese Haltung ist seit der Zeit des II. Vaticanums in der Kirche vorherrschend: „Dialog“ wird um jeden Preis propagiert, auch mit denen, von denen wir wissen, daß sie geschworene Feinde der Kirche sind. Einen prominenten Ausdruck fand diese Haltung in der Enzyklika Pacem in terris (1963) von Papst Johannes XXIII., in der dieser den Kommunismus zwar kritisiert, den Kommunisten aber eine erhabene Menschenwürde zuerkennt und zum „Dialog“ aufruft.
Ausgenommen vom „Dialog“ und von der Zuerkennung von erhabener Menschenwürde sind immer nur – wirkliche oder vermeintliche – „Nazis“. Es ist heutzutage unvorstellbar, daß Vertreter der Kirchenhierarchie oder des Jesuitenordens auch nur mit Vertretern „populistischer“ Parteien oder der Identitären Bewegung in einen Dialog treten würden. Aber sonst wird „Dialog“ auf Teufel komm raus betrieben.
Es wird hier nicht behauptet, das Exerzitienbuch hätte die unterwürfige Haltung des genannten „Dialogs“ etwa mit dem Sowjetkommunismus durch Papst Johannes XXIII. determiniert. Es wird allerdings festgestellt, daß heutzutage eine unrealistische, irenistische Haltung des „Dialogs“ gegenüber den Feinden der Kirche und der Wahrheit existiert. Diese Haltung ähnelt auf den ersten Blick der betreffenden Anweisung des Exerzitienbuches. Manchmal beruft sie sich wohl auch auf diese, allerdings nachdem sie sie aus dem Gesamtzusammenhang des katholischen Glaubens und Denkens gerissen hat.
Diese Haltung eines universellen „Dialogs“ wurde ab der Amtszeit des schon genannten P. Pedro Arrupe als Generaloberen der Jesuiten (1965–1981) in der Arbeit des Jesuitenordens dominant. Ausgenommen waren natürlich auch da – wie schon gesagt – „Rechte“. Ausgenommen waren auch die einhundert spanischen Jesuiten, die sich an die Kirchenführung wandten, weil sie den traditionellen Glauben und Lebensstil der Jesuiten bewahren wollten und dafür von Arrupe aufgesucht und ohne viel „Dialog“ zur Schnecke gemacht wurden.
Dialog, „Zuhören“, „Verstehenwollen“ u. dgl. sind nicht immer indiziert
Es ist die Haltung, die (um Josef Pieper zu paraphrasieren) der Tugend der Tapferkeit keinen Wert mehr beimessen kann, weil alles verhandelbar geworden ist. Da in dieser Haltung auch ein Gegner in einem bestimmten Konflikt als letztlich guten Willens gesehen wird und durch die richtige „Konfliktbewältigungsstrategie“ zur Beilegung des Konflikts gebracht werden kann, braucht es weder (nach Thomas von Aquin in der Darstellung Piepers) den (gegebenenfalls notwendigen) Angriff auf das Übel (insilire, „anspringen“) noch das (gegebenenfalls notwendige) Standhalten gegenüber dem übermächtigen Übel (perseverare, „durchhalten“). Es gibt keine Feinde der Kirche mehr, es ist alles nur ein Mißverständnis. Dieses kann durch „Dialog“ gelöst werden.
Es ist naturgemäß unmöglich, daß Ignatius bei der Abfassung des Exerzitienbuches die ganze Raffinesse „moderner“ Propagandamethoden mit ihrer Auswirkung auf die Masse im Auge gehabt haben soll. Weder die Public Relations des Edward Bernays, noch die Psychologie der Massen von Gustave Le Bon, noch die diabolische Suggestivkraft der Sowjetpropaganda und des Nationalsozialismus standen vor dem geistigen Auge des Heiligen. Er hat sich vermutlich nicht vorstellen können, wie sehr die Propaganda des 20. und 21. Jahrhunderts förmlich Milliarden von Menschen bewogen hat, bestimmte Doktrinen zu glauben. Die „öffentliche Meinung“ der Gegenwart ist geradezu flächendeckend manipuliert (Klima, Covid, Migration, Internationalismus u. a.).
Soll man auch die Aussagen solcherart Irregeleiteter „retten“? Nein. Kann man sie anleiten, sie „richtig zu verstehen“? Vielleicht. Auch das wäre ein sinnvoller Einsatz dieser Regel etwa der Kirchenhierarchen. Denn diese haben ja auch und vor allem die Verantwortung für die ihnen anvertrauten Gläubigen, denen sie kein Ärgernis geben dürfen. Aber das passiert nicht.
Bestimmt konnte Ignatius sich nicht vorstellen, daß innerhalb der Kirchenhierarchie eine Mentalität einziehen würde, die den Außenstehenden, ja auch den Feinden der Kirche blind und faktenresistent Vertrauensvorschuß gewähren würde. Genau das ist eingetreten. Und gelegentlich stößt man auf einen Bischof oder einen Jesuiten, der genau unter expliziter Berufung auf Exerzitienbuch 22 zur Offenheit gegenüber dem Falschen aufruft (so etwa der damalige Innsbrucker Bischof Manfred Scheuer bei der Chrisammesse 2011 im Innsbrucker Dom).
Resümee
Somit können wir resümieren:
Aus dem katholischen Kontext gerissen und von den Absichten des hl. Ignatius losgelöst, kann sich Exerzitienbuch §22 als Mittel zur Unterminierung von Kirche und Christentum erweisen. Denn wenn immer jedem guter Wille zu konzedieren ist, beraubt man sich selbst der Abwehr gegen das Böse, das nunmehr explizit oder implizit geleugnet wird.
Das ist im großen Maßstab geschehen.
Der zweite Punkt ist heikler. Dazu im dritten Teil.
*Wolfram Schrems, Mag. theol., Mag. phil., Katechist, Pro Lifer
Bild: Wikicommons/MiL
1 Diese Übersetzung wurde Ende der 1990er Jahre vom österreichisch-schweizerisch-litauischen Noviziat in Innsbruck verwendet. Man gestand ihr seitens der Oberen also sprachliche Korrektheit zu. (Dieses Noviziat existiert übrigens seit Jahren nicht mehr.)
2 Ein literarisches Beispiel für Erpressung durch eine Person, die schlechten Willens ist und partout nicht die Wahrheit über sich anerkennen will, ist der Zwerg mit dem Tragöden in C. S. Lewis‘ berühmtem Roman Die große Scheidung (The Great Divorce) von 1945.