Tradition als Provokation – eine Buchbesprechung


Papst Pius IX. regierte von 1846 bis 1878.
Papst Pius IX. regierte von 1846 bis 1878.

Von Cle­mens Vic­tor Oldendorf.

Anzei­ge

Der Mün­ste­ra­ner Kir­chen­hi­sto­ri­ker Hubert Wolf hat in sei­ner schon bekann­ten, gelun­ge­nen Art der nar­ra­ti­ven Schil­de­rung auch sprö­der Stof­fe der Kir­chen­ge­schichts­schrei­bung pünkt­lich zum 150. Jubi­lä­um des Unfehl­bar­keits­dog­mas am 18. Juli 2020 im Münch­ner Ver­lag C. H. Beck die nicht grund­los bio­gra­phisch auf die Per­son Pius IX. kon­zen­trier­te Dar­stel­lung Der Unfehl­ba­re vorgelegt.

Die pro­vo­kan­te The­se ist bereits im Unter­ti­tel ange­ge­ben: Pius IX. und die Erfin­dung des Katho­li­zis­mus im 19. Jahr­hun­dert.

Leicht kann man sich aus­ma­len, dass vie­le heu­ti­ge katho­li­sche Tra­di­tio­na­li­sten, aber genau­so Katho­li­ken, die sich selbst bloß als gedie­gen kon­ser­va­tiv ver­ste­hen wür­den, im ersten Moment eine sol­che Behaup­tung als Krän­kung und Angriff auf die Posi­tio­nen, die sie selbst ein­neh­men, auf­fas­sen und je nach Tem­pe­ra­ment als moder­ni­sti­sche Unver­schämt­heit von sich wei­sen. Tat­säch­lich kann man nicht über­se­hen, dass Wolf den Stand­punkt der Tra­di­tio­na­li­sten nach dem Zwei­ten Vati­ca­num teils bewusst ver­ein­facht und pau­scha­lie­rend beschreibt, sich jeden­falls gezielt auf sol­che Ver­tre­ter des tra­di­ti­ons­treu­en Katho­li­zis­mus bezieht, die ein ent­spre­chend ver­ein­fach­tes Bild einer ein­heit­lich mono­li­thi­schen Tra­di­ti­on haben.

Wer sich von die­sem vor­der­grün­di­gen Aspekt an Wolfs Werk nicht von vorn­her­ein mani­pu­lie­ren lässt, wird dar­in sogar vie­le Argu­men­te fin­den, die für die Kri­tik pro­mi­nent etwa eines Erz­bi­schofs Lefeb­v­re am Zwei­ten Vati­ka­ni­schen Kon­zil und an der nach­kon­zi­lia­ren Ent­wick­lung seit­her sprechen.

Die The­se, Pius IX. habe eine Neu­kon­zep­ti­on der katho­li­schen Kir­che geschaf­fen, eine neue Tra­di­ti­on kon­stru­iert, den (ultra­mon­ta­nen) Katho­li­zis­mus an die Stel­le einer tra­di­tio­nell viel­fäl­ti­gen Katho­li­zi­tät gesetzt, wird anhand einer Neu­ent­deckung und Neu­in­ter­pre­ta­ti­on des Kon­zils von Tri­ent von Wolf ent­fal­tet, die das Erste Vati­ca­num mit sich gebracht habe: So sei der triden­ti­ni­sche Bischof, die triden­ti­ni­sche Semi­nar­aus­bil­dung des Kle­rus und die triden­ti­ni­sche Mes­se erfun­den wor­den, jeweils als Aus­druck und Erfül­lungs­in­stru­men­ta­ri­um eines strikt römi­schen, eben ultra­mon­ta­nen Zen­tra­lis­mus und Papa­lis­mus.

Mythos Trient und Neubestimmung dessen, was Tradition ist

Die Wahr­neh­mung eines Bru­ches mit der Tra­di­ti­on ist der übli­che Ansatz­punkt der Tra­di­tio­na­li­sten nach dem Zwei­ten Vati­ca­num. Wenn man aber Wolfs Buch liest, stellt sich die Fra­ge, ob das Pro­blem von Bruch und Kon­ti­nui­tät nicht schon und viel inten­si­ver mit dem Ersten Vati­ca­num bereits irrever­si­bel fest­ge­legt ist.

Frei­lich: Dann ist das Zwei­te Vati­ka­ni­sche Kon­zil nicht der Befrei­ungs­schlag aus die­ser Sack­gas­se, son­dern, bild­lich gespro­chen ist die­se Sack­gas­se die Kon­zil­s­au­la, in der das Zwei­te Vati­ca­num über­haupt erst mög­lich wer­den und tagen konnte.

Damit wäre auch die nach­kon­zi­lia­re Lit­ur­gie­re­form Pauls VI. nicht End­punkt oder Über­win­dung der römisch-triden­ti­ni­schen Ein­heits­lit­ur­gie, die, wie Wolf rich­tig schil­dert[1] und es auch vie­le Alt­ri­tua­li­sten selbst­re­dend wis­sen, so von Tri­ent ursprüng­lich gar nicht beab­sich­tigt war. Nur dort, wo es infol­ge der pro­te­stan­ti­schen Refor­ma­ti­on  kei­ne eige­ne, intak­te Über­lie­fe­rung katho­li­scher Lit­ur­gie mehr gab, soll­te die durch den Sitz Petri und die Päp­ste als intakt ver­bürg­te Lit­ur­gie der Kir­che Roms ein­ge­führt wer­den. Die Mis­sa nor­ma­ti­va der Bischofs­syn­ode von 1967, der Pro­to­typ des Novus Ordo Mis­sae von 1969/​70 – genau hun­dert Jah­re nach dem Ersten Vati­ca­num, ist dann der Höhe­punkt einer glo­bal ver­ein­heit­lich­ten und nor­mier­ten Lit­ur­gie, nicht der Abschied davon, ganz egal, wie vie­le Vari­an­ten und Wahl­mög­lich­kei­ten die Lit­ur­gie Pauls VI. vor­sieht und wel­che Frei­hei­ten sich Zele­bran­ten und Gemein­den in der kon­kre­ten Pra­xis zusätz­lich her­aus­neh­men. Auch wird des­we­gen ver­ständ­lich, wes­halb eine von Rom oder dem Papst aus­ge­hen­de Lit­ur­gie­re­form prin­zi­pi­ell nicht mehr in ihrer Legi­ti­mi­tät oder gar Gül­tig­keit infra­ge gestellt wer­den kann.

Wolf schreibt so, dass auch brei­te­re Schich­ten für die Lek­tü­re gewon­nen wer­den und aus ihr Gewinn zie­hen kön­nen. Das geht nicht ohne man­che Ver­grö­be­rung, die der Autor sei­ner­seits begeht und in Kauf nimmt. So weiß der lit­ur­gie­ge­schicht­lich eini­ger­ma­ßen Ori­en­tier­te durch­aus, dass die Lit­ur­gie der Latei­ni­schen Kir­che trotz vie­ler loka­ler oder mit Ordens­ge­mein­schaf­ten ver­knüpf­ten Usus auch vor Tri­ent längst einen weit­ge­hen­den Kern der ritu­el­len Ein­heit und Gemein­sam­keit mit Rom besaß. Nicht nur, aber vor allem die Ein­zig­keit des Mess­ka­nons und des­sen fest­ste­hen­de Struk­tur und Gestalt.

1854 als Vorwegnahme von 1870, aber auch der Kontinuität Benedikts XVI.

Ohne die päpst­li­che Unfehl­bar­keit bereits defi­niert zu haben, nahm Pius IX. sie am 8. Dezem­ber 1854 de fac­to bereits in Anspruch und vor­weg. Wolf schreibt dazu und zitiert im wei­te­ren Ver­lauf sei­ner­seits Wal­ter Kas­per: „Pius IX. hat­te mit dem Dog­ma von 1854 zwei Zie­le erreicht, die bei­de eine kirch­li­che Tra­di­ti­on vor­aus­set­zen, die es so bis dahin nicht gege­ben hat­te: Er ehr­te die Got­tes­mut­ter in einem Devo­ti­ons­dog­ma, obwohl Schrift und Tra­di­ti­on den Inhalt des Dog­mas nicht her­ga­ben. An ihre Stel­le trat der schwam­mi­ge Begriff des Glau­bens­be­wusst­seins der Kir­che, das nur der Papst allein adäquat erfas­sen und aus­drücken konn­te. Der Dog­ma­ti­ker und Kuri­en­kar­di­nal Wal­ter Kas­per spricht in die­sem Zusam­men­hang von einem ‚lehramtszentrierte[n], ja lehramtsmonopolistische[n] Tra­di­ti­ons­ver­ständ­nis‘ und hebt her­vor: ‚Die Gefahr, dass dabei Schrift wie Tra­di­ti­on letzt­lich ent­mün­digt wer­den, war in einer sol­chen Kon­zep­ti­on letzt­lich nicht von der Hand zu wei­sen.‘“[2] Und an genau die­sem Punkt liegt doch das Pro­blem einer Kon­ti­nui­tät und Über­ein­stim­mung des Zwei­ten Vati­ka­ni­schen Kon­zils mit der Tra­di­ti­on, die im Zwei­fels­fal­le nur behaup­tet, aber nicht wirk­lich sub­stan­ti­iert wer­den muss.

Jeder, der sich im Freun­des- und Bekann­ten­krei­se als jemand outet, der in die alte, latei­ni­sche Mes­se geht oder sonst mehr oder weni­ger lefeb­vria­ni­sche Sicht­wei­sen teilt, hat es so oder ähn­lich schon erlebt: „Ach so, Du bist alt­ka­tho­lisch!“ Natür­lich wird das jeder anstän­di­ge heu­ti­ge Tra­di­tio­na­list ent­rü­stet ver­nei­nen und post­wen­dend rich­tig­stel­len. Und doch sind im Ansatz Gemein­sam­kei­ten der spä­te­ren Alt­ka­tho­li­ken und heu­ti­ger Tra­di­tio­na­li­sten aller Schat­tie­run­gen offen­kun­dig. Bemer­kens­wert ist die Schnel­lig­keit, mit der erste­re damals bereit­wil­lig viel vom Katho­li­schen der Kir­che vor 1870 preis- und auf­ga­ben, und heu­te, wie sehr es noch gelingt, eine Pra­xis wie am Vor­abend des Zwei­ten Vati­ka­ni­schen Kon­zils fort­zu­set­zen. Das Bei­spiel der Alt­ka­tho­li­ken ist War­nung. Aber die Ein­schät­zung Lefeb­v­res, das, was er Kir­chen­kri­se nennt, wer­de in einem Jahr­zehnt oder viel­leicht fünf­zehn Jah­ren enden, wovon er offen­sicht­lich ursprüng­lich aus­ge­gan­gen war, hat sich nicht bewahr­hei­tet und auch bis heu­te nicht ein­ge­stellt, und je län­ger die Situa­ti­on anhält, desto schwie­ri­ger wird die Glau­bens­wei­ter­ga­be auch inner­halb aller Krei­se und Grup­pen, die für sich in Anspruch neh­men, einen tra­di­ti­ons­treu­en Katho­li­zis­mus zu reprä­sen­tie­ren.

Vor allem Sedis­va­kan­ti­sten (oder sol­che, die mit deren Theo­rie erst seit dem aktu­el­len Pon­ti­fi­kat flir­ten) soll­ten Hubert Wolfs neu­es Buch unbe­dingt zur Kennt­nis neh­men. Letzt­lich befin­den sie sich in der glei­chen Sack­gas­se, von der vor­hin die Rede war und von der gesagt wur­de, dass das Zwei­te Vati­ka­ni­sche Kon­zil in ihr statt­ge­fun­den hat.

Eine Nachfrage an den Autor

Wenn Wolf sagt, die Unfehl­bar­keit des Pap­stes sei nach ihrer Defi­ni­ti­on 1870 nur ein ein­zi­ges Mal, näm­lich am 1. Novem­ber 1950, in Anspruch genom­men wor­den, als Pius XII. die Auf­nah­me Mari­ens in den Him­mel mit Leib und See­le zum Glau­bens­satz erho­ben habe[3], wie­der­um und bekannt­lich auch in der Ein­schät­zung des Theo­lo­gen Joseph Ratz­in­ger eine Defi­ni­ti­on wie 1854, die Wolf als Devo­ti­ons­dog­ma bezeich­net hat, müss­te man den Autor fra­gen, wie er die Ent­schei­dung Leos XIII. zur Ungül­tig­keit der angli­ka­ni­schen Wei­hen in Apo­sto­li­cae curae von 1896 und die Apo­sto­li­sche Kon­sti­tu­ti­on Sacra­men­tum ordi­nis von 1947 ein­ord­net, ins­be­son­de­re wegen der 1439 vor­aus­ge­gan­ge­nen Lehr­aus­sa­ge Eugens IV. über die Mate­rie der ein­zel­nen Stu­fen des Wei­he­sa­kra­men­tes im Arme­nier­de­kret Exsul­ta­te Deo des Kon­zils von Flo­renz; schließ­lich, wie er Ordi­na­tio sacer­do­ta­lis ein­stuft, womit Johan­nes Paul II. 1994 hin­sicht­lich der Prie­ster­wei­he end­gül­tig und mit fei­er­li­cher Auto­ri­tät einen Wei­he­vor­be­halt lehrt, der den getauf­ten Mann als Emp­fän­ger voraussetzt.

Benedikt XVI. und Franziskus

Der syn­oda­le Gedan­ke, von dem Fran­zis­kus ger­ne spricht, könn­te eine Rück­ge­win­nung plu­rif­or­mer Katho­li­zis­men[4] aus­drück­lich machen, die es unter der Hand doch längst gibt (und hin­ter der Fas­sa­de stren­ger Uni­for­mi­tät letzt­lich unter­schwel­lig immer gege­ben hat). Bene­dikt XVI. hat sie schon vor­be­rei­tet, etwa durch Sum­morum Pon­ti­fi­cum oder Angli­ca­n­o­rum Coe­ti­bus. So para­dox es auch klin­gen mag, ist es aller­dings aus­ge­rech­net Papst Fran­zis­kus, der von allen Päp­sten nach Pius IX. – so erkennt man mit jeder Sei­te, die man in Der Unfehl­ba­re liest, mehr und deut­li­cher –  der mit Pius IX. die stärk­sten Gemein­sam­kei­ten in Macht- und Auto­ri­täts­be­wusst­sein, Amts­ver­ständ­nis und per­sön­li­chen Cha­rak­ter­zü­gen auf­weist. Fran­zis­kus unter­streicht das selbst immer wie­der, indem er ener­gisch in Orts­kir­chen oder Ordens­ge­mein­schaf­ten ein­greift und im ent­schei­den­den Moment stets frag­los als Zen­tra­list agiert.

Wolfs Buch Der Unfehlbare und die Diskussion um Stellung und Status des Zweiten Vatikanischen Konzils

Das Buch, das Wolf zu Pius IX. und zu des­sen Vati­ka­ni­schem Kon­zil von 1869/​70 geschrie­ben hat, bie­tet schließ­lich auch einen Hoff­nungs­schim­mer für die Dis­kus­si­on und Debat­te um das Vati­ca­num von 1962 bis 1965 und sei­ne anschlie­ßen­de Rezep­ti­on und Wir­kung. Wolf dis­ku­tiert das Erste Vati­ca­num unvor­ein­ge­nom­men und zeigt Dis­kon­ti­nui­tä­ten und Brü­che sowie Neu­schöp­fun­gen auf, die es gebracht hat. Und obgleich dar­aus sogar for­mel­le Dog­men erwach­sen sind, wür­de nie­man­dem ernst­haft ein­fal­len, Wolfs Auf­ar­bei­tung brin­ge ihn in Kon­flikt mit römisch-katho­li­scher Recht­gläu­big­keit.

Das Zwei­te Vati­ca­num hat nichts dog­ma­ti­siert. Umso frei­er kann man es dis­ku­tie­ren, auf­ar­bei­ten und ent­spannt hin­ter sich las­sen und zugleich unbe­stritt­ten römisch-katho­lisch sein. Viel­leicht noch nicht jetzt, aber auch von die­sem Kon­zil wer­den die Kir­che ein­mal hun­dert­fünf­zig Jah­re tren­nen. Fünf­und­fünf­zig davon sind schon fast geschafft.

Hubert Wolf: Der Unfehl­ba­re. Pius IX. und die Erfin­dung des Katho­li­zis­mus im 19. Jahr­hun­dert, C. H. Beck, Mün­chen 2020. Das Buch kann über unse­re Part­ner­buch­hand­lung bezo­gen werden.

Bild: MiL


[1] Wolf, H., Der Unfehl­ba­re, vgl. S. 142–144.

[2] Ebd., S. 213.

[3] Vgl. ebd., S. 285f.

[4] Vgl. ebd., S. 88f.

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