Am 26. Februar wurde vom Bundesverfassungsgerichtshof in Karlsruhe die „Sterbehilfe“ erlaubt. So lautet der euphemistische Ausdruck, mit dem das Wort Euthanasie umgangen wird. Das Urteil wurde von den Vorsitzenden von Deutscher Bischofskonferenz (DBK) und Evangelischer Kirche in Deutschland (EKD) in einer gemeinsamen Erklärung verurteilt. Nicht erst mit diesem Urteil stellt sich eine drängende Frage: Was nützt das beste Grundgesetz, wenn es eine Handvoll Verfassungsrichter aushebeln können?
Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland heißt es:
„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“ (GG 1,1).
„Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt“ (GG 2,1).
„Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden“ (GG 2,2).
Tötung, in welcher Form auch immer, ist eine Tat gegen Leib und Leben und verstößt damit gegen die verfassungsmäßige Ordnung und das Sittengesetz. Auch die Würde des Menschen wird damit verletzt. Das ist christliches Denken, werden alte und neue Heiden einwerfen. Mag sein, doch der Begriff der Menschenwürde, wie er im Grundgesetz steht, ist christlich.
Das Urteil, das gestern der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichtes fällte, wäre bis vor kurzem noch undenkbar gewesen. Das ist der entscheidende Punkt. Wie kann das Grundgesetz heute eine andere Interpretation finden als in den vergangenen 70 Jahren? Dahinter steht das Verständnis eines Rechtspositivismus, der von einem reinen Formalismus ausgeht, will sagen: Wer die Mehrheit hat und den formal vorgesehenen Weg geht, kann jedes Recht ändern.
Genau dieses Denken wollten die Gründungsväter der Bundesrepublik Deutschland mit dem Grundgesetz, zumindest was die Grundrechte betrifft, ausschließen. Sie haben es nach den Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus und dem Zweiten Weltkrieg unüberhörbar deutlich zum Ausdruck gebracht. Den unumstößlichen Kern des Grundgesetzes, so die Verfassungsväter, sollten die Menschenwürde, die Menschenrechte und die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens bilden. Genau in dieser logischen Reihung. Der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg hatten schmerzlich erleben lassen, wie wertlos ein Menschenleben nach rechtspositivistischen Kriterien sein kann. Der formalistische Bezug auf legal zustandegekommene Normen bedeutet letztlich nichts anderes als die Herrschaft des Stärkeren. Ein Extrembeispiel: Hitler machte gegen Ende seiner Herrschaft sein Wort zum Gesetz. Selbst wenn der ganze Rest des Volkes anderer Meinung gewesen wäre, wäre er formaljuristisch der Stärkere gewesen.
Dem Bundesverfassungsgerichtshof kommt die Aufgabe zu, das Grundgesetz in der Intention der Väter des Grundgesetzes gegen die Politik und notfalls auch gegen untergeordnete Gerichtsinstanzen zu verteidigen. Diesen Auftrag erfüllt das Gericht aber nur bedingt, und das nicht erst seit gestern.
Das Dilemma sind die Richter selbst. Die gewünschte Stabilität und zeitlose Rechtsgarantie, die vor wechselnden politischen Mehrheiten und dem Zeitgeist schützt, kann nicht erreicht werden, weil die Richter ein zeitlich befristetes Mandat haben, ohnehin nicht ewig leben und zudem von jemand ernannt werden müssen, und das ist die Politik. Was das für den Zweiten Senat bedeutet, zeigt folgende Aufstellung:
Andreas Voßkuhle, (SPD)
Peter M. Huber, (CDU/CSU)
Monika Hermanns, (SPD)
Sibylle Kessal-Wulf, (CDU/CSU)
Peter Müller, (CDU/CSU)
Doris König, (SPD)
Ulrich Maidowski, (SPD)
Christine Langenfeld, (CDU/CSU)
In Klammern stehen die Parteien, von denen der jeweilige Ernennungsvorschlag kam. Bundesverfassungsrichter Voßkuhle ist Vorsitzender des Zweiten Senats und zugleich Präsident des Bundesverfassungsgerichts.
Die Verfassungsrichter entscheiden mit Mehrheit, es genügen daher fünf Richter, um die ganze Republik in eine bestimmte Richtung zu treiben. So ist die Mehrheit gestern zur vermeintlichen Erkenntnis gelangt, daß im Grundgesetz ein Recht auf „selbstbestimmtes Sterben“ festgeschrieben sei, das „die Freiheit einschließt, sich das Leben zu nehmen“. Staat und Gesellschaft hätten das „zu respektieren“.
„Die Freiheit sich das Leben zu nehmen, umfasst auch die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen, und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen.“
Aus diesem Grund befanden die Verfassungsrichter auch, daß ein Verbot der „geschäftsmäßigen Sterbehilfe“ verfassungswidrig sei, weil es die Suizidwilligen in der Umsetzung ihrer „persönlichen Freiheit“ zu sehr „einschränkt“.
Im Klartext: Es geht ums Geschäft. Das war auch der Grund, weshalb sich die Richter überhaupt mit der Frage zu befassen hatten.
Das Grundgesetz, das vor fast 71 Jahren in Kraft trat, wollte ein Schutzdamm um das elementarste aller Menschenrechte sein, das Recht auf Leben. Der Zustand der Wertlosigkeit des Lebens, wenn man den NS-Machthabern in die Quere kam, oder den Kommunisten, oder bei Kriegsende als Deutscher das Pech hatte, sich außerhalb der heutigen Grenzen im Osten und Südosten zu befinden, sollte sich nicht wiederholen – nie wieder. Daher sollte zu diesem ersten aller Menschenrechte auch nicht der gern vorgebrachte Vorwand gelten: „Die Zeiten ändern sich“. Für das elementarste aller Menschenrechte, das Recht auf Leben, sollte sich die Zeit nicht „ändern“. Das Grundgesetz, so die Absicht, soll ein zeitloses Grundrecht definieren.
Von einem „Nie wieder“ kann in der Bundesrepublik Deutschland aber keine Rede sein, seit ab 1974 die Tötung ungeborener Kinder im großen Stil durchgeführt werden kann. Eine Tötungsmaschine, die seither laut offiziellen Angaben mehr als sechs Millionen, nach realistischeren Schätzungen sogar mehr als elf Millionen deutschen Kindern das Leben gekostet hat. Gleichzeitig jammern dieselben Kreise, die hinter dem „Abtreibungskonsens“ stehen, einschließlich Bundesregierung und Wirtschaft, daß es dringend mehr Einwanderung brauche. Aber das nur nebenbei, um die größeren Zusammenhänge zu verdeutlichen, über die nicht gesprochen wird.
Die Verfassungsrichter haben zwar in mehr als 95 Prozent der Fälle die Abtreibung für verfassungs- und rechtswidrig erklärt, doch schert es weder die Politik noch letztlich die Verfassungsrichter, die sich seit 45 Jahren mit der Feststellung der Rechtswidrigkeit begnügen.
Im 70. Jahr des Grundgesetzes ist nun eine Handvoll Richter zur Meinung gelangt, daß ein weiteres Vergehen an Leib und Leben eine Frage der persönlichen Selbstbestimmung sei. Nach dem Lebensrecht der ungeborenen Kinder, wo der Selbstbestimmung der Frau Vorrang vor dem Lebensrecht des Kindes eingeräumt wird, wurde gestern auch das Leben an sich in Frage gestellt.
Die Richter gehen dabei scheibchenweise vor. Neue Richtergenerationen rücken nach und bringen den Ballast ihrer Formung und Sozialisierung mit. Das ist nichts anders als Rechtspositivismus in getarnter Form. Und so sind es die Höchstrichter, die dabei mithelfen, daß der „Staat als Tötungsspezialist“ (Alexander Kissler in Cicero, 2013) auftritt – schon wieder.
Was noch funktioniert, zumindest in der Bundesrepublik Deutschland: Die Verfassungsrichter haben ausgeschlossen, daß jemand zur Mitwirkung an einer Tötung gezwungen werden kann. Die Gewissensfreiheit wurde einmal mehr bestätigt. In anderen Staaten ist selbst das keine Selbstverständlichkeit.
Der Begriff Selbstmord, der die eindeutige Verwerflichkeit des Handelns zum Ausdruck bringt, wird seit Jahren still und leise verdrängt, denn Begriffe prägen das Denken. Die Verdrängung durch wohlklingendere Bezeichnungen, die das Geschehen verschleiern, soll den Weg bereiten. Dahinter steht ein Individualismus, der sich nicht einmal potentiell in seinem völlig autonomen Handeln einschränken lassen will. Er ist gegen Abtreibung, aber für den Fall, daß er sie doch brauchen sollte, möchte er darauf zurückgreifen können. Er denkt nicht daran, sich umzubringen, aber für den Fall, daß sich doch irgendwann irgendwie die Situation ergeben sollte, will er die Möglichkeit dazu haben. Dieses utilitaristische Denken macht die Abwehr schwer.
Mit derselben Logik, mit der gestern die Tür Richtung Euthanasie aufgetan wurde, kann sie morgen von anderen Richtern noch weiter aufgemacht werden. So ist das mit dem Rechtspositivismus, dem ewiggültige und unumstößliche Prinzipien fehlen.
Jeder nach seiner Façon, meinen an dieser Stelle die ewig Toleranten, sprich Gleichgültigen, da sie selbst von der absoluten Selbstbestimmung des Menschen überzeugt sind. Sie übersehen aber die Aufgabe des Staates, der Tötungsdelikte kategorisch auszuschließen hat, außer in extremis um das Leben anderer zu schützen, das konkret bedroht wird. Das Gegenteil behaupten die Verfassungsrichter. Solange jemand mit seiner Selbsttötung nicht das Leben Dritter gefährdet, müßten Staat und Gesellschaft das „respektieren“. Und es dürfe auch ein Angebot dafür geben, sprich, jemand soll auch ein Geschäft damit machen können.
Der deutsche Staat hat sich gestern durch die Entscheidung einer Handvoll Richter ein großes Stück weiter von seinen christlichen Wurzeln entfernt. Die Verfassungsrichter haben an diesen Wurzeln gesägt, die für den Baum des Staatswesens und die Gesellschaft überlebenswichtig sind. An dieser Stelle hilft auch keine Berufung auf andere historische Grundlagen, denn das antike Rom und das antike Athen haben nur insofern einen wichtigen Beitrag zum christlichen Abendland geleistet, als ihr philosophisches Denken und ihr Rechtsdenken durch das Christentum nutzbar und fruchtbar gemacht wurde.
Auf die bange Frage, wie man das Grundgesetz vor den Politikern schützen kann, lautet die Antwort: durch die Gewaltenteilung, konkret durch die Verfassungsrichter.
Auf die bange Frage aber, wie man das Grundgesetz vor den Richtern schützen kann, steht die Antwort aus. Seit gestern mehr denn je.
Text: Giuseppe Nardi