Roger Scruton – Dissident wider das Einheitsdenken

Versuch eines Nachrufs


Roger Scruton, der konservative Denker gegen den Relativismus.
Roger Scruton, der konservative Denker gegen den Relativismus.

(Lon­don) Im Alter von 75 Jah­ren ist am 12. Janu­ar der bri­ti­sche Phi­lo­soph und Publi­zist Sir Roger Scrut­on einem Krebs­lei­den erle­gen. Der kon­ser­va­ti­ve Den­ker war nicht nur ein gro­ßer Unter­stüt­zer der ost­eu­ro­päi­schen Dis­si­den­ten, als der er gewür­digt wird, son­dern selbst ein Dis­si­dent gegen das vor­herr­schen­de Denken. 

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Scu­ton gewann 1962 einen Stu­di­en­platz am Jesus Col­lege der Uni­ver­si­tät Cam­bridge und stu­dier­te Phi­lo­so­phie. 1972 wur­de er mit einer Arbeit über Ästhe­tik pro­mo­viert, ein The­ma, das ihn sein Leben lang beschäf­ti­gen soll­te. Anschlie­ßend erfolg­te sei­ne Beru­fung an das Birk­beck Col­lege der Uni­ver­si­tät Lon­don, wo er Phi­lo­so­phie lehr­te. Neben­bei absol­vier­te er ein Stu­di­um der Rechts­wis­sen­schaf­ten und die Rechts­an­walts­aus­bil­dung an der Inns of Court School of Law (heu­te Teil der City, Uni­ver­si­ty of Lon­don). Obwohl als Bar­ri­ster zuge­las­sen, prak­ti­zier­te er nie als Rechtsanwalt. 

Mai ’68 – „Mir wurde klar, daß ich auf der anderen Seite stand“

Er lehr­te, zwi­schen den mit Aus­zeich­nung absol­vier­ten Stu­di­en, Ende der 60er Jah­re, an der Uni­ver­si­tät Pau in Frank­reich. Dort lern­te er sei­ne spä­te­re Frau, die Fran­zö­sin Dani­elle Laf­fit­te, ken­nen, wegen der sich Scrut­on im Mai 1968 in Paris auf­hielt und dort Augen­zeu­ge der Stu­den­ten­un­ru­hen wur­de. Als Reak­ti­on auf die­ses Erleb­nis wur­de er zum Kon­ser­va­ti­ven, was er so beschrieb:

„Mir wur­de plötz­lich klar, daß ich auf der ande­ren Sei­te stand. Was ich sah, war ein wil­der Mob von maß­los ver­wöhn­ten bür­ger­li­chen Hoo­li­gans. Als ich mei­ne Freun­de frag­te, was sie woll­ten, was sie errei­chen woll­ten, war alles, was ich zu hören bekam, die­ses lächer­li­che mar­xi­sti­sche Kau­der­welsch. Ich war davon ange­wi­dert und dach­te, daß es einen Weg zurück zur Ver­tei­di­gung der west­li­chen Zivi­li­sa­ti­on gegen die­se Din­ge geben muß. Damals wur­de ich ein Kon­ser­va­ti­ver. Ich erkann­te, daß ich Din­ge bewah­ren woll­te, anstatt sie niederzureißen.“

Die­se Klar­sicht in einem trü­ben Moment hat­te viel­leicht auch mit sei­ner Her­kunft zu tun. Er stamm­te „vom Land“ und aus ein­fa­chen Ver­hält­nis­sen. Sein Vater, ein Grund­schul­leh­rer, „sprach kein Wort mehr mit mir, als ich ihm sag­te, einen Stu­di­en­platz in Cam­bridge bekom­men zu haben“. Scrut­on stamm­te nicht aus den „bes­se­ren Krei­sen“, wes­halb er sich in Cam­bridge „sozi­al fremd, aber gei­stig zu Hau­se“ fühlte. 

Zur Gesin­nung unter den Lehr­be­auf­trag­ten und Dok­to­ran­den in den 70er Jah­ren am Birk­beck Col­lege mein­te er später:

„Ich war der ein­zi­ge Kon­ser­va­ti­ve außer der Frau, die uns im Seni­or Com­mon Room das Essen servierte.“

1974 gehör­te er zu den Grün­dern der Con­ser­va­ti­ve Phi­lo­so­phy Group, die der Kon­ser­va­ti­ven Par­tei, die sich gera­de auf einem Tief­punkt befand, neue intel­lek­tu­el­le Impul­se gab. Der Kreis lie­fer­te die intel­lek­tu­el­le Begleit­mu­sik in der Zeit des Auf­stiegs von Mar­ga­ret That­cher zur Par­tei­vor­sit­zen­den und zu ihrem Wahl­sieg 1979. Unter ihrem Nach­fol­ger John Major löste sich der Kreis des­il­lu­sio­niert auf. 2013 beleb­te Scrut­on den Kreis wie­der, der sich nun im Haus von Lord Flight in West­mi­ni­ster traf, da für ihn weder Kapi­tu­la­ti­on noch Resi­gna­ti­on eine Opti­on waren.

„Dieses lächerliche marxistische Kauderwelsch“

Was über ihn in den ver­gan­ge­nen Stun­den von füh­ren­den Medi­en berich­tet wur­de, wird nicht annä­hernd der Bedeu­tung sei­nes Den­kens gerecht. Im Tod kommt ihm damit das­sel­be Schick­sal zu, das ihn schon zu Leb­zei­ten beglei­te­te. Sei­ne Ableh­nung des „lächer­li­chen mar­xi­sti­schen Kau­der­welsch“ und die Benen­nung der „Fein­de unse­rer Zivi­li­sa­ti­on“ brach­ten ihm die erbit­ter­te Ableh­nung und Feind­schaft des ton­an­ge­ben­den Kul­tur­be­triebs ein.

Scrut­on gehör­te zu den Ersten, die schwer­wie­gen­de Fehl­ent­wick­lun­gen im Westen erkann­ten und auch benann­ten: das Ein­heits­den­ken und die Zer­stö­rung der Fami­lie. Hin­ter bei­den Ele­men­ten sah er die­sel­be selbst­zer­stö­re­ri­sche Ten­denz am Werk.

Die gefähr­lich­sten Fein­de der Zivi­li­sa­ti­on sah er – wie Bene­dikt XVI. – im „Isla­mis­mus und Rela­ti­vis­mus“. Mit fei­nem Witz, aber schar­fer Klin­ge gei­ßel­te Scrut­on vor allem die Wider­sprüch­lich­kei­ten des Rela­ti­vis­mus, denn der Isla­mis­mus kom­me von außen, der Rela­ti­vis­mus aber aus der west­li­chen Gesell­schaft. Die Bril­lanz sei­ner Sprach­ge­walt, die er dabei an den Tag leg­te, wur­de mehr als ein­mal mit jener von G. K. Che­ster­ton ver­gli­chen. Ein Beispiel:

„Wenn jemand dir sagt, daß es kei­ne Wahr­heit gibt, oder daß die Wahr­heit nur rela­tiv ist, bit­tet er dich, ihm nicht zu glau­ben. Also glaub ihm nicht.“

Die Ableh­nung, die er fand, läßt sich anhand der Über­set­zun­gen ins Deut­sche able­sen. Erstaun­lich wenig und erstaun­lich spät wur­de Scrut­on erst dem deut­schen Publi­kum zugäng­lich gemacht. Ber­tels­mann ali­as Ran­dom Hou­se nahm nur ein geist­rei­ches Neben­pro­dukt sei­nes Schaf­fens über das Wein­trin­ken in das Ver­lags­pro­gramm auf. Etwas mehr Bewe­gung kam erst seit 2010 in die Sache, seit in Deutsch­land stär­ke­rer Wider­spruch gegen die Gän­ge­lung am Nasen­ring laut wird. Neue Ver­la­ge ver­su­chen seit­her die Lücke zu schlie­ßen. So zum Bei­spiel die Edi­ti­on Tichys Ein­blick, die im ver­gan­ge­nen Okto­ber Scrut­ons „Von der Idee, kon­ser­va­tiv zu sein, Eine Anlei­tung für Gegen­wart und Zukunft“ her­aus­brach­te, und der Manu­scrip­tum Ver­lag, der im August 2019 „Bekennt­nis­se eines Häre­ti­kers. Zwölf kon­ser­va­ti­ve Streif­zü­ge“ vor­leg­te.

„Der Katholizismus ist eingeschüchtert worden“ 

Mit sei­nem 2006 in Zusam­men­ar­beit mit Giu­lia­no Fer­ra­ra auf ita­lie­nisch ver­öf­fent­lich­ten „Mani­festo dei con­ser­va­to­ri“ (Mani­fest der Kon­ser­va­ti­ven) nennt Scrut­on in der „Wie­der­ent­deckung unse­rer Reli­gi­on“ das wirk­sa­me Gegen­mit­tel gegen den Rela­ti­vis­mus und sei­ne Über­zeu­gung, nichts sei mehr von über­ge­ord­ne­ter Gül­tig­keit und objek­tiv wahr.

Vor­an­ge­trie­ben, so der Bri­te, wer­de der Rela­ti­vis­mus vom sub­ver­si­ven Ein­heits­den­ken. Als zen­tra­les Schlacht­feld mach­te Scrut­on die Fami­lie aus:

„Die Fami­lie wird als Quel­le der Unter­drückung oder als patri­ar­cha­li­sche Insti­tu­ti­on ange­pran­gert, die sich der Unter­ord­nung von Frau­en wid­met. Der intel­lek­tu­el­le Krieg gegen die Fami­lie ist ein Pro­dukt der zwei­ten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts. Die Fami­lie ist im Krieg der staat­lich geför­der­ten Kul­tur zur sub­ver­si­ven Insti­tu­ti­on gemacht geworden.“

Scrut­on, des­sen Eltern zwar christ­lich erzo­gen wur­den, wuchs in einem Eltern­haus auf, das eine „reli­gi­ons­freie Zone“ war, wie er selbst sag­te. Der Angli­ka­ner, der die Bedeu­tung des christ­li­chen Glau­bens erkann­te, nahm auch eine Schlüs­sel­rol­le der katho­li­schen Kir­che wahr. In ihr sah er die zen­tra­le Insti­tu­ti­on, die sich dem vor­herr­schen­den Den­ken wider­setzt. Des­halb erschüt­ter­te ihn 2013 der Amts­ver­zicht von Papst Bene­dikt XVI. Ein Schritt, in dem er ein besorg­nis­er­re­gen­des Signal nicht nur für die Kir­che sah:

„Der Katho­li­zis­mus ist ein­ge­schüch­tert worden.“

Was Papst Johan­nes Paul II. als “Selbst­haß” kri­ti­sier­te, nann­te Scrut­on eine „Kul­tur der Ver­leug­nung“. Die Regens­bur­ger Rede von Bene­dikt XVI. betrach­te­te der bri­ti­sche Phi­lo­soph als einen Schlüs­sel­text unse­rer Zeit. Scrut­on war kein Kon­ser­va­ti­ver zum Selbst­zweck und schon gar nicht aus blo­ßer Lau­ne. Sei­ne Hal­tung war eine Reak­ti­on auf die zer­set­zen­de Wir­kung der 68er-Bewe­gung, die er in Paris erlebt hat­te. Dar­aus erwuchs sein Bestre­ben, das sich als roter Faden durch sein gesam­tes Werk zieht, das Abend­land, heu­te Westen genannt, aus sei­ner destruk­ti­ven Lethar­gie wach­zu­rüt­teln und einen Anstoß zur Wie­der­ent­deckung des Wah­ren, Guten und Schö­nen zu geben. Beson­ders die Ästhe­tik, der er meh­re­re lesens­wer­te Bücher wid­me­te, bil­de­te dabei sei­nen bevor­zug­ten Zugang, da er über­zeugt davon war, daß sich in der Schön­heit das Erhe­ben­de und Auf­bau­en­de in immer­gül­ti­gen Maß­stä­ben erken­nen las­se und ein Schutz­damm gegen das Zer­stö­re­ri­sche und Ernied­ri­gen­de ist.

Text: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: NBQ

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