
(Asuncion) Im Juli 2015 besuchte Papst Franziskus Paraguay. Dabei trat kurzzeitig das tragische Schicksal eines jungen Mannes ins Rampenlicht.
Der Kommunikationsstil von Papst Franziskus wird in der aktuellen Ausgabe der römischen Jesuitenzeitschrift La Civiltà Cattolica gelobt. Die Kehrseite dieses Kommunikationsstils wurde vor vier Jahren bei seinem Besuch in dem lateinamerikanischen Land deutlich.
Am 11. Juli 2015 fand in Asuncion eine Begegnung des Papstes mit Vertretern der Zivilgesellschaft statt. In seiner Ansprache fügte Franziskus mit freien Worten etwas hinzu, das der Vatikanist Sandro Magister einen „kapitalen Bock“ nannte:
„Es gibt Dinge, auf die ich noch Bezug nehmen möchte, bevor ich schließe. Und da hier Politiker anwesend sind – auch der Präsident der Republik –, sage ich es in brüderlicher Form. Jemand hat mir gesagt: ‚Hören Sie, der Herr Soundso ist durch das Heer entführt worden. Tun Sie etwas!‘ Ich sage nicht, ob es wahr ist oder nicht, ob es gerecht ist oder nicht, aber eine der Methoden, welche die diktatorischen Ideologien des vergangenen Jahrhunderts anwendeten, von denen ich eben sprach, bestand darin, die Leute zu entfernen, entweder durch Exil oder durch Gefangenschaft, oder – im Fall der nazistischen und stalinistischen Vernichtungslager – sie entfernten sie durch den Tod. Damit es eine wirkliche Kultur in einem Volk gibt, eine politische Kultur und eine Kultur des Gemeinwohls, braucht es zügig klare Prozesse, transparente Prozesse. Eine andere Art von Winkelzug ist nicht dienlich. Eine transparente, klare Justiz. Das wird uns allen helfen. Ich weiß nicht, ob es so etwas hier gibt oder nicht; ich sage es mit allem Respekt. Man hat es mir gesagt, als ich eintrat, man sagte es mir hier. Und ich möge für – ich weiß nicht wen – bitten; ich habe den Namen nicht gut verstanden.“

„Jemand“ hatte Papst kurz zuvor etwas gesagt, von dem er nicht wußte, „ob es wahr ist oder nicht“, und den Namen hatte er „nicht gut verstanden“. Keine geeigneten Voraussetzungen für jemand in seiner Position, draufloszureden. Dennoch trat das Kirchenoberhaupt auf die Bühne, sprach von „diktatorischen Ideologien“, „nazistischen und stalinistischen Vernichtungslagern“ und der Tötung von Personen, die einem Regime unliebsam sind.
Katholisches.info schrieb damals:
„Obwohl Papst Franziskus selbst zugab, nichts über den Fall zu wissen und noch nicht einmal den Namen des Betroffenen verstanden zu haben, schreckte er nicht davor zurück, in völliger Unkenntnis der Sachlage ‚brüderlich‘ und öffentlich die paraguayische Regierung und ausdrücklich den Staatspräsidenten eines Verbrechens zu bezichtigen, das er in einen Zusammenhang mit den schlimmsten Untaten von Nationalsozialisten und Kommunisten stellte.“
Es handelte sich um eine direkte Anklage, denn ein Mann sei „durch das Heer“, also die paraguayische Armee entführt worden. Franziskus stellte Staatspräsident Horacio Cartes in eine Reihe mit lateinamerikanischen Diktatoren, die das Militär oder „Todesschwadronen“ gegen ihre Gegner einsetzen. Als Argentinier wußte der Papst wovon er sprach. Dort verschwanden während der Militärdiktatur der 70er/80er Jahre zahlreiche Menschen. Wußte er es wirklich? Leider nicht.

Den Namen, den Franziskus „nicht gut verstanden“ hatte, war der von Edelio Morinigo. Er war nicht von der paraguayischen Armee oder „Todesschwadronen“ entführt worden, sondern von einer marxistisch-leninistischen Terrororganisation, die sich selbst Paraguayische Volksarmee (Ejército del Pueblo Paraguayo, EPP) nennt. Ziel des 2008 gegründeten EPP ist der Sturz der Regierung und die Errichtung eines kommunistisches Regimes.
Der Vatikanist Sandro Magister schrieb damals zur Reaktion des desavouierten Staats- und Regierungschefs:
„Hut ab, vor der Haltung des paraguayischen Staatspräsidenten Horacio Cartes, der ohne jede Reaktion den beeindruckenden öffentlichen Affront an sich abprallen ließ.“
Entstanden ist die Terrororganisation durch Seminaristen, die der marxistischen Befreiungstheologie nahestanden. 1992 wurden acht Seminaristen aus dem zentralen, paraguayischen Priesterseminar in Asuncion entlassen wegen radikaler politischer Überzeugungen und Beteiligung an politischen Aktivitäten, die nicht mit der katholischen Kirche vereinbar waren. Vier von ihnen, Alcides Oviedo, Gilberto Setrini, Osvaldo Martínez und Pedro Maciel, radikalisierten sich immer mehr und wurden mit anderen zu den Gründern der Paraguayischen Volksarmee EPP für den bewaffneten Kampf.

Die paraguayischen Bischöfe hatten die Eltern des Entführten zum Papstempfang ins Stadion León Condou eingeladen. Sie sorgten auch dafür, daß Edelio Morinigo in den Fürbitten genannt wurde. Die Mutter des entführten Polizisten, Obdulia Florenciano, hatte 2015, wenige Tage vor dem Papstbesuch, gegenüber Medien gesagt:
„Der Papst ist meine letzte Hoffnung.“
Allerdings wurde fast ein schwerer diplomatischer Zwischenfall daraus. Die vatikanische Diplomatie bemühte sich umgehend um Glättung der Wogen. Vor allem wurde gegenüber den Medien der Zusammenhang zwischen dem vom Papst nicht genannte Namen mit dem in den Fürbitten erwähnten Entführungsopfer hergestellt, denn es ging ja um einen (mißglückten) Appell zur Freilassung dieser und anderer Geiseln.
Das polternde Vorgehen des Papstes sorgte auch deshalb für Aufsehen, weil das Kirchenoberhaupt bei seiner Südamerika-Reise seine politischen Sympathien deutlich verteilte. So demonstrativ freundlich Franziskus zuvor dem – inzwischen gestürzten – linksradikalen Staatspräsidenten von Bolivien, Evo Morales, begegnet war, so demonstrativ kühl trat er dem nationalkonservativen Staatspräsident von Paraguay, Horacio Cartes, gegenüber. Das warf Fragen auf: War die politische Gesinnung des Präsidenten das eigentliche Motiv für die empörte, päpstliche Anklage? Wurde der Papst gar ein Opfer seiner eigenen, politischen Klischees?
Was ist seither geschehen?
Edelio Morinigo konnte nicht nach Hause zurückkehren. Mehr als fünf Jahre sind seit seiner Entführung vergangen. Im Oktober 2015 erhielten seine Eltern noch Post aus dem Vatikan. Sie hatten dem Papst eine ausführliche Dokumentation über die Entführung ihres Sohnes zukommen lassen und ihn um Hilfe gebeten. Die Antwort kam von einem hohen Beamten des vatikanischen Staatssekretariats, war aber ziemlich formal gehalten. Die Eltern wurden aber des päpstlichen Gebets versichert. Eine Erwähnung, daß der Papst erst drei Monate zuvor den Fall, ungewöhnlich genug, öffentlich zur Sprache gebracht hatte, fehlte. Wußte der Assessor der Sektion für Allgemeine Angelegenheiten des Staatssekretariats nichts davon oder wollten die Vatikandiplomaten sich an den peinlichen Vorfall nicht mehr erinnern? Der unterzeichnende Assessor wurde jedenfalls kurze Zeit später von Papst Franziskus zum Apostolischen Nuntius und Titularerzbischof befördert.

Seither gab es aus dem Vatikan kein Zeichen mehr für die Eltern und insgesamt im Fall Edelio Morinigo. Appelle der paraguayischen Ortskirche fielen ins Leere. Die Eltern organisieren jedes Jahr einen „Friedensmarsch“, um das Schicksal ihres Sohnes in Erinnerung zu rufen. Sie geben die Hoffnung nicht auf. Offiziell ist der Fall offen, in Sicherheitskreisen wird aber bezweifelt, daß der junge Unteroffizier nach so langer Zeit noch am Leben sein könnte.
Die Chronologie der Entführung
- 5. Juli 2014: Edelio Morinigo wird in Yby Yaú von der marxistischen Terrororganisation EPP entführt.
- 22. Oktober 2014: Die Familie erhält ein Video der Entführer, das vier Tage zuvor aufgenommen worden war. Es sollte der einzige Lebensbeweis sein. Die Terroristen fordern im Austausch die Freilassung von sechs gefangenen EPP-Mitgliedern.
- Die Familie, Polizeikollegen, verschiedene Gruppen organisieren in den folgenden Monaten Gebetsvigilen, Kundgebungen und Friedensmärsche für die Freilassung ihres Sohnes
- 1. November 2014: Die Frist der Entführer läuft aus, ohne daß die Forderung erfüllt wird. Die Regierung will sich von den kommunistischen Terroristen nicht erpressen lassen.
- 25. Dezember 2014: Der ebenfalls vom EPP entführte Arlan Fick, Sohn eines deutschstämmigen, brasilianischen Landwirts, wird freigelassen. Er bestätigt, daß Morinigo noch am Leben ist. Fick befand sich bereits seit April in der Hand der Terroristen. Seine Familie erfüllte alle Forderungen des EPP, die unter anderem eine halbe Million US-Dollar Lösegeld gefordert hatte. Morinigos Familie lebt in sehr einfachen Verhältnissen.
- 11. Juli 2015: Papst Franziskus sagt, die paraguayische Armee habe jemand entführt und beschuldigt Staatspräsident Cartes indirekt des Staatsterrorismus.
- 14. Oktober 2015: Die Eltern Morinigos erhalten ein formales Schreiben des Vatikans.
- 5. Juli 2016: Die Familie organisiert jährlich am Jahrestag der Entführung einen Friedensmarsch, um die Freilassung von Edelio Morinigo zu fordern.
- Seit 2016 sind die meist deutschstämmigen Mennoniten zur Zielscheibe des EPP geworden. Wahrscheinlich, weil sie eine „leichte Beute“ sind, sagen Sicherheitskräfte.
- Februar 2017: Der EPP entführt weitere neun Personen, drei werden getötet, fünf später gegen Zahlung von Lösegeld freigelassen.
- 12. April 2018: Die zur Bekämpfung des EPP geschaffene Sondereinheit Fuerza de Tarea Conjunta (FTC) findet Flugblätter, in denen auf den Tod von Edelio Morinigo angespielt wird.
- 130 mennonitische Familien verlassen wegen des EPP die Provinz Concepcion und ziehen in den unwirtlichen, aber sichereren Chaco.
- 5. Juli 2019: Fünfter Jahrestag der Entführung von Morinigo.
- 19. November 2019: Edelio Morinigo befindet sich seit 1.964 Tagen in der Hand des EPP – wenn er noch am Leben ist.
Insgesamt hält die Terrororganisation aktuell 13 Personen in Geiselhaft.
Das Bekennervideo des EPP von Oktober 2014.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Youtube/Vatican.va/La Verdad/UH (Screenshots)