
(Kiew) In der Ukraine kommt die Orthodoxie nicht zur Ruhe. Zugleich kommt es zu neuer Bewegung in dem Land, das eine Übergangszone zwischen lateinischer und griechischer Kirche bildet. Der Metropolit der neuen Ukrainisch-Orthodoxen Kirche und der mit Rom unierte Großerzbischof der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche sollen über die Möglichkeit einer Vereinigung gesprochen haben. Unter welchen Vorzeichen?
Die Ukraine gehört historisch zum Einzugsbereich der Ostkirche und unterstand ursprünglich dem Patriarchat von Konstantinopel. Wegen des in der Orthodoxie geltenden Territorialprinzips ist dieser Umstand im Bereich der Jurisdiktion auch heute von Bedeutung ist.
Die mit Rom unierten Ukrainer
Der Westen des Landes stand aber lange Zeit und polnischem und litauischem, also katholischem Einfluß. Auf der Grundlage der Wiedervereinigung von Ost- und Westkirche beim Konzil von Florenz 1439 stellte im 16. Jahrhundert ein Teil der ukrainischen Orthodoxie die Einheit mit Rom her. Grund war die eigenmächtige Erhebung Moskaus als „Drittes Rom“ zum Patriarchat, nachdem Konstantinopel mit dem historischen Patriarchensitz von den Muslimen erobert worden war.
Die mit Rom unierte Ukrainische Griechisch-Katholische Kirche ist die stärkste Religionsgemeinschaft in den drei westlichsten Regionen der Ukraine, in Lemberg, Tarnopol und Iwano-Frankiwsk (Stanislau), die bis 1918 als Teil des Königreichs Galizien und Lodomerien zu Österreich gehörten. Auch sie zelebrieren wie die Orthodoxen im Byzantinischen Ritus.
Der weitaus größte Teil der heutigen Ukraine ist orthodox, zerfällt aber in mehrere, untereinander zerstrittene Kirchen. Die Bruchlinien verlaufen entlang der Frage der Eigenstaatlichkeit und dem Verhältnis zu Moskau.
Als die Hauptstadt des Byzantinischen Reiches 1453 von den Osmanen überrannt wurde, trat Moskau im russischen Raum an die Stelle Konstantinopels, was in der Ukraine zur Spaltung führte und Anlaß für die Union der ukrainischen Orthodoxen in Polen-Litauen mit Rom war.
Der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche gehören heute fast zehn Prozent der Ukrainer an. Sie leben vor allem im äußersten Südwesten des Landes. Die Zahl der römischen Katholiken ist mit nicht einmal einem Prozent sehr gering. Alle Katholiken zusammen machen laut Stand vom April 2018 heute etwa 10,5 Prozent der Ukrainer aus.
Ukrainische Unabhängigkeitsbewegung und Orthodoxie
Im Zuge der ersten Unabhängigkeit der Ukraine 1919 und der zweiten Unabhängigkeit 1991 entstanden mit der Ukrainischen Autokephalen Orthodoxen Kirche und der Ukrainisch-orthodoxen Kirche Kiewer Patriarchats autokephale, das heißt, von Moskau unabhängige, orthodoxe Kirchen, die vom Moskauer Patriarchat aber nicht anerkannt werden.
Nach langen Konflikten schlossen sich die beiden autokephalen Kirchen der Ukraine 2018 zur Orthodoxen Kirche der Ukraine (Ukrainisch-Orthodoxe Kirche) zusammen, die am 6. Januar 2019 vom Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel als kanonische Nationalkirche anerkannt wurde. Für die Anerkennung durch Konstantinopel wurde auf das bereits 1991 errichtete Kiewer Patriarchat verzichtet.

Am 15. Dezember 2018 wurde Bischof Epiphanius im Rang eines Metropoliten in der Kiewer Sophienkathedrale zum ersten Oberhaupt der neuen, autokephalen Nationalkirche gewählt.
Der moskautreue Teil der ukrainischen Orthodoxie ist in der autonomen Ukrainisch-Orthodoxen Kirche Moskauer Patriarchats zusammengeschlossen.
Die drei von 1991 bis 2018 bestehenden, orthodoxen Kirchen konkurrierten um die Anerkennung als legitime Nationalkirche. Dabei ging es vor allem auch um den Besitz der Kirchengebäude. Die ukrainische Regierung unterstützte die Bildung einer autokephalen Nationalkirche, um die staatliche Unabhängigkeit zu stärken und parallel zum politischen auch den religiösen Einfluß Moskaus zu verringern. Mit dem 2018 erfolgten Zusammenschluß der beiden eigenständigen, ukrainisch-orthodoxen Kirchen wurde dieses Ziel gegen den Protest der russisch-orthodoxen Kirche verwirklicht.
Zwei Drittel der Ukrainer bekennen sich als orthodoxe Christen. Der anhaltende Konflikt zwischen Moskau und Kiew führt aber dazu, daß ein Teil der Orthodoxen sich nicht der einen oder der anderen der beiden Kirchen zurechnen will. Die verschiedenen Zahlenangaben zur Kirchenzugehörigkeit der orthodoxen Ukrainer können daher erheblich schwanken. Die neuesten Zahlen stammen vom Razumkov Center in Zusammenarbeit mit dem All-Ukrainischen Kirchenrat von April 2018. Demnach gehören heute 47 Prozent der Ukrainer der ukrainisch-orthodoxen Nationalkirche an, die vor allem in der Nordwest- und der Zentralukraine stark ist. Zur russisch-orthodoxen Kirche bekennen sich etwa 14 Prozent der Ukrainer, die sich vor allem im Osten des Landes und auf der Krim konzentrieren.
Patriarch Filaret mit seiner Rolle unzufrieden
Die autokephale Nationalkirche wird seit ihrer kanonischen Anerkennung durch Konstantinopel von einem Metropoliten geleitet, obwohl die Ukrainisch-orthodoxe Kirche Kiewer Patriarchats von 1991–2018 von einem Patriarchen geleitet wurde. Die meiste Zeit davon, von 1995–2018, war Filaret ihr Oberhaupt.
Der heute 90jährige Filaret ist Ehrenpatriarch der neuen Ukrainisch-Orthodoxen Kirche. Seit einigen Wochen befindet er sich jedoch im Konflikt mit seinem Nachfolger und ehemaligen Sekretär, Metropolit Epiphanius. Filaret drohte jüngst sogar, Epiphanius die Gefolgschaft aufzukündigen und ein unabhängiges Patriarchat zu gründen. Der betagte Patriarch gilt als zentrale Gestalt der kirchlichen Unabhängigkeit der Ukraine. Vor kurzem wurde er als „Held der Ukraine“ mit der höchsten Auszeichnung des Landes geehrt.

1990 galt Filaret als möglicher Anwärter auf das Moskauer Patriarchat. Dazu kam es aber nicht. Als 1991 die Sowjetunion zerbrach, stellte er sich auf die Seite der ukrainischen Unabhängigkeitsbewegung und trennte sich vom Moskauer Patriarchat. Mit diesem Schritt legte er den Grundstein zur ukrainischen Autokephalie.
Hauptgrund für das nunmehrige Zerwürfnis ist, daß Epiphanius nach Meinung Filarets nicht ausreichend seine Nähe sucht. Der Ehrenpatriarch ist in Sorge über die Zukunft der ukrainischen Autokephalie seit bei den Präsidentschaftswahlen am 21. April der bisherige „Protektor der Kirche“, Petro Poroschenko, abgewählt wurde. Als neuer Staatspräsident der Ukraine wird in wenigen Tagen Wolodymyr Selenskyj vereidigt werden, der sich bisher weder durch Nähe zur Nationalkirche noch überhaupt durch Nähe zur Religion hervortat.
Selenskyj traf sich nach seinem Wahlsieg mit Metropolit Epiphanius, ohne dem Oberhaupt der Nationalkirche konkrete Zusagen zu machen. Epiphanius kündigte dennoch die Unterstützung des künftigen Staatsoberhaupts an.
Filaret verlangt zudem als Patriarch, in allen Liturgien genannt zu werden, was nur in einem Teil der Kirchen der Fall ist, während Epiphanius überall genannt wird. Filarets Briefpapier trägt weiterhin die Aufschrift „Patriarchat von Kiew“. Er ist der Überzeugung, daß der Rechtsstatus als Patriarch fortbesteht. Patriarch Bartholomäus von Konstantinopel habe ihn 2018 im Gegenzug für die Anerkennung der Autokephalie zum Rückzug gezwungen, sonst wäre er heute Kirchenoberhaupt und die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche hätte Patriarchalstatus. Moskau ist das einzige Patriarchat der Orthodoxie, das sich unter Einsatz der Ellbogen unter die historischen Patriarchate von Konstantinopel, Alexandria, Jerusalem und Antiochien schieben konnte. Filaret will diesen Anspruch auf Kiew ausweiten, weil die heutige Hauptstadt der Ukraine ursprünglich die „Mutter der ganzen Rus“ war.
Zusammenschluß von Orthodoxen und Unierten?
Epiphanius nahm bisher nicht zur Kritik von Filaret Stellung. Dafür sorgen andere Aussagen des Metropoliten für Diskussionen. In einer Stellungnahme für Espresso.TV sprach er von der „Zulässigkeit“ einer möglichen Union mit der mit Rom unierten Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche, die von Großerzbischof Swjatoslaw Schewtschuk geführt wird. Zwischen Metropolit Epiphanius und Großerzbischof Swjatoslaw herrscht sehr gutes Einvernehmen.

Gegenüber Espresso.TV sagte der Metropolit: „Wir verwirklichen mit den Griechisch-Katholischen viele, wichtige Projekte und nehmen gemeinsam an zahlreichen Veranstaltungen teil“. Die beiden Kirchenführer sollen bereits über eine mögliche Vereinigung der beiden Kirche gesprochen haben. Wörtlich sagte Epiphanius:
„Bei einer Begegnung mit seiner Seligkeit Swjatoslaw haben wir darüber gesprochen, unsere Zusammenarbeit weiter zu vertiefen. Darin entfalten wir einen Dialog und wissen nicht, bis wohin er uns führen wird. Theoretisch ist es möglich, bis zur Union zu gelangen.“
Epiphanius ist der Überzeugung, daß alle orthodoxen Ukrainer dazu bestimmt sind, sich zu vereinen, womit er sowohl die orthodoxen Ukrainer des Moskauer Patriarchats als auch die griechisch-katholischen Ukrainer meint.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: AsiaNews