Von Roberto de Mattei*
Im Dezember 1918 feierte Europa nach vier Jahren des ununterbrochenen Blutvergießens sein erstes Weihnachtsfest in Frieden. Die Welt, die im Entstehen war, war jedoch nicht mehr die Welt von gestern. Am 3. November hatte Österreich-Ungarn in Padua den Waffenstillstand von Villa Giusti mit den alliierten Mächten unterzeichnet.
Am 7. November erhielt der deutsche Reichskanzler Max von Baden das Ultimatum der deutschen Sozialisten, die am Freitag, dem 8. November mittags die Abdankung von Kaiser Wilhelm II. forderten. Der Großherzog von Baden teilte dem Herrscher, der sich in seinem Hauptquartier in Spa befand, mit, daß auf die Armee nicht mehr sicher gezählt werden könne und man auf einen Bürgerkrieg zusteuere. Bis zum Morgen des 8. November bekundete der Souverän die Absicht, an der Spitze seiner Truppen die Ordnung wiederherzustellen und die Revolution zu bändigen.
Doch in der Nacht vom 8. auf den 9. November brach alles zusammen. Die in Spa versammelten militärischen und zivilen Berater des Kaisers drängen darauf, daß der Kaiser abdankt und nach Holland geht. Am 9. November gab Wilhelm seine Abdankung als Deutscher Kaiser, aber nicht als König von Preußen bekannt, und übertrug Generalfeldmarschall von Hindenburg das Kommando über das Heer mit dem Auftrag, den Waffenstillstand auszuhandeln. Noch am selben Tag verließ der Kaiser das Deutsche Reich und kehrte nicht mehr zurück.
Am 8. November sprach sich die Führung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschösterreichs öffentlich für eine „demokratische und sozialistische Republik Deutschösterreich“ aus. Um Mitternacht rief Kaiser Karl I. die beiden engsten Berater, Graf Hunyadi und Freiherr Werkmann, in sein Arbeitszimmer im Schloß Schönbrunn.
Um Mitternacht rief Kaiser Karl I. seine beiden engsten Berater„ in sein Arbeitszimmer im Schloss Schönbrunn und erklärte in aller Ruhe: „Auch Österreich wird nach dem Beispiel der deutschen Revolution zusammenbrechen. Sie werden die Republik ausrufen und es wird niemanden mehr geben, der die Monarchie verteidigt… Ich will nicht abdanken und ich will nicht aus dem Land fliehen…“.
Es folgten hektische Momente, in denen jeder im Gefolge des Kaisers unterschiedliche Vorschläge und Anregungen vorbrachte, wie man mit der dramatischen Situation umgehen könnte. Admiral Miklós Horthy, der von der Adria gekommen war, um die Übergabe der Flotte an die Kroaten zu besprechen, stand stramm vor dem Monarchen und schwor mit der ausgestreckten rechten Hand unaufgefordert: „Ich werde nicht Ruhen, bevor ich Eure Majestät nicht wieder auf den Thron von Wien und Budapest gesetzt habe.“
Drei Jahre später sollte es General Horthy, Reichsverweser des Königreichs Ungarn, sein, der vor den Toren Budapests gegen seinen Herrscher zu den Waffen griff und ihn sogar verhaften und deportieren ließ, um die Macht in Ungarn zu behalten.
Am 11. November um elf Uhr vormittags erschienen Ministerpräsident Heinrich Lammasch und Innenminister Edmund von Gayer in Schönbrunn und überbrachten den mit Politikern des alten und des neuen Regimes abgestimmten Text der Abdankung Karls.
Das Dokument war vom Wiener Fürsterzbischof Friedrich Gustav Kardinal Piffl genehmigt worden, der genau eine Woche zuvor, am 4. November, den Namenstag Karls mit einer feierlichen Messe im Stephansdom begangen hatte. Einer seiner Priester, Ignaz Seipel, war es, der die Kompromißformel vorschlug, wonach der Herrscher auf die Regierungsgeschäfte verzichtete, ohne das Wort „Abdankung“ auszusprechen.
Für den Fall, daß der Kaiser nicht unterschreibe, sagte von Gayer dem Herrscher: „Noch heute nachmittag werden wir die Arbeitermassen vor Schönbrunn sehen… und dann werden die wenigen, die sich weigern, Eure Majestät aufzugeben, bei dem Versuch, Widerstand zu leisten, ihr Leben verlieren, und mit ihnen werden auch Eure Majestät und seine erhabene Familie getötet werden.“
Die Minister verlangten, die Unterschrift sofort zu leisten, ohne sich auch nur einige Stunden Bedenkzeit zu lassen. Der Kaiser zögerte. Er war ein Mann von großem Adel, aber er hatte nicht die Energie seiner Frau Zita, die in diesem Moment als einzige mit aller Kraft protestierte und sich mit folgenden Worten an Karl wandte: „Niemals kann einer Herrscher abdanken! Er kann abgesetzt werden und seine Hoheitsrechte können für verwirkt erklärt werden. Aber abdanken … niemals, niemals! Lieber würde ich hier an deiner Seite sterben. Denn dann bliebe Otto, und selbst wenn wir alle umkämen, gäbe es andere Habsburger!“
Am Mittag des 11. November 1919 unterzeichnete der Kaiser die Verzichtserklärung auf seinen Anteil an den Regierungsgeschäften, in der er „die Entscheidung, die Deutschösterreich für seine künftige Verfassungsform treffen wird“, im Voraus anerkannte.
Am Nachmittag verabschiedeten sich der Kaiser und seine Familie nach einem Gebet in der Schloßkapelle von den letzten Würdenträgern und begaben sich zu den Autos, die sie zu ihrem Jagdschloß Eckartsau bringen sollten. „Entlang der Arkaden“, erinnerte sich Zita, „standen in einer Doppelreihe unsere Kadetten der Militärakademie, Jugendliche zwischen sechzehn und siebzehn Jahren, mit strahlenden Augen, aber stramm stehend und dem Kaiser bis zuletzt treu ergeben, in jeder Hinsicht würdig dem Motto, das sie einst von Maria Theresia erhalten hatten: ‚Allzeit getreu‘.“
Am 12. November wurde in Wien offiziell die Republik ausgerufen. Am Tag zuvor war in einem Eisenbahnwaggon in den Wäldern bei Compiègne der Waffenstillstand zwischen dem Deutschen Reich und den Alliierten unterzeichnet worden. Dieser Akt bedeutete das militärische Ende des Ersten Weltkriegs.
Am 4. Dezember 1918 verließ das Schiff „George Washington“ mit Präsident Woodrow Wilson und der amerikanischen Delegation für die Friedenskonferenz den New Yorker Hafen in Richtung Frankreich. Wilson hatte unter Verletzung des Völkerrechts persönlich bei den provisorischen sozialistischen Regierungen Deutschösterreichs und des Deutschen Reichs interveniert, um einen institutionellen Wandel zu erzwingen.
Am 14. Dezember traf der amerikanische Präsident den französischen Premierminister Georges Clemenceau in Paris. Die beiden Politiker waren die wichtigsten Architekten der Republikanisierung Europas nach dem Ersten Weltkrieg. Clemenceau, ein Mystiker des Jakobinismus, sah im Sieg die Erfüllung der Ideale der Französischen Revolution. Wilson wollte den Globus in eine Konföderation strikt gleicher Republiken nach dem Vorbild der Vereinigten Staaten von Amerika verwandeln.
Das Haupthindernis, das es zu überwinden galt, war Österreich-Ungarn, der letzte Widerschein der mittelalterlichen Christianitas. Charles Seymour, einer der amerikanischen Unterhändler des Versailler Vertrages, erinnerte daran: „Die Friedenskonferenz sah sich in der Position eines echten Liquidators des Habsburger-Staates. (…) Aufgrund des Prinzips der Selbstbestimmung der Völker oblag es den Donaunationen, ihr eigenes Schicksal zu bestimmen.“
Am 18. Januar 1919 wurde die Friedenskonferenz in Paris eröffnet. In diesen Tagen erreichte die schreckliche „Spanische Grippe“ ihren Höhepunkt. In Italien forderte sie 600.000 Menschenleben, genauso viele wie die Kriegsjahre zusammen. Zwei der drei Seher von Fatima, Jacinta und Francisco, erkrankten im Dezember 1918 ebenfalls an der Krankheit. Francisco starb am 4. April 1919. Jacinta wurde in ein Krankenhaus in Lissabon eingeliefert, wo sie am 20. Februar 1920 starb.
Am 22. Dezember äußerte Papst Benedikt XV. seine Hoffnung auf „die Beschlüsse, die vom Areopag des Friedens nicht mehr lange auf sich warten lassen werden, an den sich jetzt die Seufzer aller Herzen wenden“. 1919, so schrieb die italienische Tageszeitung L’Illustrazione italiana am 22. Dezember 1918, „wird das Jahr der Verklärung der Welt sein“. Doch die Illusionen der „Goldenen Zwanziger“ wurden schon bald von einem neuen Kriegssturm hinweggefegt, der seinen Ausgangspunkt in den 1919/1920 in Paris geschlossenen Friedensverträgen hatte.
Das darauf folgende Jahrhundert gilt als das schrecklichste in der Geschichte des Abendlandes. Die Verse von William B. Yeats lassen sich darauf anwenden: „Things fall apart; the centre cannot hold; Mere anarchy is loosed upon the world“ („Alles fällt auseinander; das Zentrum trägt nicht mehr; bloße Anarchie ist auf die Welt losgelassen“). Das Heilige Römische Reich war 1806 offiziell von Napoleon aufgelöst worden, aber Österreich-Ungarn erfüllte dessen Aufgabe weiter bis 1918 und bildete das Zentrum des Gleichgewichts und der Stabilität in Europa.
Dann öffnete sich der Strudel der Instabilität, der heute von der politischen Sphäre auch auf die religiöse Sphäre übergegangen ist, und versetzte Millionen von Menschen in Angst und Schrecken. Aber die Kirche übersteht die Stürme, die die Reiche fortreißen, und das Jesuskind lädt uns jedes Jahr zu Weihnachten ein, uns ihm mit großem Vertrauen hinzugeben, wie Kinder, die in den Armen ihrer Mutter schlafen.
*Roberto de Mattei, Historiker, Vater von fünf Kindern, Professor für Neuere Geschichte und Geschichte des Christentums an der Europäischen Universität Rom, Vorsitzender der Stiftung Lepanto, Autor zahlreicher Bücher, zuletzt in deutscher Übersetzung: Verteidigung der Tradition: Die unüberwindbare Wahrheit Christi, mit einem Vorwort von Martin Mosebach, Altötting 2017, und Das Zweite Vatikanische Konzil. Eine bislang ungeschriebene Geschichte, 2. erw. Ausgabe, Bobingen 2011.
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Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Corrispondenza Romana