(Rom) Papst Franziskus setzte vor einem Jahr eine geheimnisvolle Kommission ein, die sich der bedeutendsten und umstrittensten Enzyklika von Papst Paul VI. annehmen sollte. Humanae vitae wird von Lebensschützern und glaubenstreuen Katholiken als „prophetische“ Enzyklika gesehen, während sie von progressiven Kirchenkreise offen abgelehnt wird – und das seit dem Tag ihres Erscheinens 1968. Bedenken und Sorgen, die vor einem Jahr auftraten, erhalten nun eine Bestätigung, da gestern zum bevorstehenden 50. Jahrestag der Enzyklika erste Ergebnisse der Kommission vorgelegt werden.
Am 30. August 1968, das war nur einen Monat nach der Veröffentlichung der Enzyklika durch Rom, setzten die Bischofskonferenzen von Deutschland und von Belgien einen Akt des öffentlichen Ungehorsams. In einer konzertierten Aktion legten sie am selben Tag jeweils eine Erklärung vor, mit der sie sich von Humanae vitae distanzierten und die Gläubigen ihrer Länder von deren Beachtung dispensierten. Eine Rebellion dieser Art war beispiellos in der Kirchengeschichte. Dem bundesdeutschen und belgischen Vorbild folgten weitere Bischofskonferenzen, darunter jene von Österreich und der Schweiz.
Diese Wunde, die der Kirche damit zugefügt wurde, ist bis heute nicht geheilt worden. Keine der rebellischen Bischofskonferenzen nahm die damalige Erklärung offiziell wieder zurück. Dieser seit einem halben Jahrhundert fortdauernde Ungehorsam erklärt viel von der Kirchen- und Glaubenskrise in den betroffenen Ländern.
Die geleugnete Kommission
Im Mai 2017 waren erste Gerüchte aufgetaucht, daß Papst Franziskus eine Geheimkommission eingesetzt habe, um Humanae vitae einer „Überprüfung“ zu unterziehen. Die Nachricht ließ aufhorchen und manche sogar aufschrecken. Eine Frage lautete: Was habe man sich von einer solchen „Überprüfung“ durch ein Pontifikat zu erwarten, das unter dem Einfluß jener Kreise steht, die 1968 die Rebellion gegen Humanae vitae angeführt haben?
Am 14. Juni schlug der bekannte katholische Intellektuelle Roberto de Mattei Alarm und veröffentlichte bereits Namen von Mitgliedern der Kommission, deren Existenz vom Heiligen Stuhl noch immer geleugnet wurde. Diese Reaktion des Vatikans auf die Enthüllung war wenig geeignet, Bedenken auszuräumen. Nach zweieinhalb Monaten der Geheimniskrämerei und der Dementis wurde Ende Juli, doch deren Existenz zugeben.
Warum dieses Versteckspiel? Es ließ erst recht Spekulationen darüber aufkommen, daß Rom hinter den Kulissen etwas vorbereite.
Vor allem die Zusammensetzung der Kommission verstärkte die Zweifel. Zentrale Figur ist der Theologische Anthropologe Gilfredo Marengo, der sich in der Vergangenheit negativ zu Humanae vitae geäußert hatte.
Msgr. Marengo bestätigte noch im Juli 2017, daß die von Franziskus eingesetzt „Studienkommission“ den Auftrag habe, die Entstehung der Enzyklika zu untersuchen. Zwischen den Zeilen klang durch, daß es offenbar darum gehe, die exakte Intention zu erfassen, die Paul VI. zu Humanae vitae und vor allem zu den umstrittensten Stellen bewogen hatte.
Grund der Rebellion ganzer Bischofskonferenzen war das Verbot der künstlichen Verhütungsmittel, das Paul VI. inmitten der damals stattfindenden „Sexuellen Revolution“ bekräftigte. Das hielten viele Kirchenvertreter für eine inhaltliche, zumindest jedenfalls eine taktische Katastrophe, weil auch viele Katholiken auf der Welle der „sexuellen Befreiung“ mitschwammen und zudem zeitgleich vom neo-malthusianischen Club of Rome die Geburteneindämmung durch Geburtenkontrolle zum weltbewegenden Thema stilisiert wurde. Die Rebellen-Bischöfe erklärten im Gegensatz zum Papst, daß der Gebrauch der Pille und anderer Verhütungsmittel eine Sache des persönlichen Gewissens sei. Mit anderen Worten: Das sei Privatsache und gehe niemanden etwas an, auch nicht den Papst. Auch damals gab es unter den Bischöfen die „Trendsetter auf dem Weg zur Moderne“.
Das Pontifikat von Papst Franziskus, die Frage der wiederverheirateten Geschiedenen zeigte es, will die Kluft zwischen der „Lebenswirklichkeit“ ungehorsamer Katholiken und der Kirche beseitigen. Deshalb wird befürchtet, daß auch das so angefeindete Verhütungsverbot von Paul VI. durch eine „Neuinterpretation“ entsorgt werden könnte.
Gilberto Marengo legt erste Ergebnisse vor
Gestern wurde ein Buch vorgelegt, das sich mit den Ergebnissen der 2017 eingesetzten Studienkommission befaßt. Es stammt vom Kommissionsvorsitzenden Gilberto Marengo. Der Avvenire, die Tageszeitung der Italienischen Bischofskonferenz, veröffentlichte in der gestrigen Ausgabe einen Vorbericht.
Demnach sei die Geschichte von Humanae vitae „neu zu schreiben“. Der nächste Satz läßt aufhorchen: Das gelte in Richtung „ihrer verbissenen Gegnern“, aber auch in Richtung jener, die diese Enzyklika noch immer für „unfehlbar und unabänderlich“ halten. Dazu die Plattheit: „Wie in den meisten menschlichen Dingen liegt die Wahrheit in der Mitte“.
Der kommende 25. Juli ist der 50. Jahrestag der Veröffentlichung von Humanae vitae. Das ist der Anlaß, weshalb die Studienkommission Ergebnisse vorlegt. Sie verkündet, folgt man dem Avvenire, eine „Ja, aber“-Position. Anderes war kaum zu erwarten.
Das „Ja“: Paul VI. habe den „grundlegenden Wert“ der „engen Einheit von Liebe und Fruchtbarkeit“ herausgestrichen.
Das „aber“: Aber er blieb in der normativen Umsetzung „in der Furche der Tradition“.
Der Avvenire verdeutlicht das Gesagte mit dem Hinweis, daß Paul VI. damit in der Sache „auf halbem Weg“ stehengeblieben sei.
Dieses Bild wird von progressiven Kreisen übrigens auch mit Blick auf das Zweite Vatikanische Konzil bemüht. Nach dem Konzil habe es kräftige Schritte der „Reform“ gegeben, dann aber habe Paul VI. der Innovationsmut verlassen und schließlich habe mit der Wahl von Johannes Paul II. und von Benedikt XVI. eine „restaurative Phase“ eingesetzt. Dadurch seien das Konzil und der dadurch aufgebrochene „Frühling“ für die Kirche auf „halbem Weg“ steckengeblieben.
Das Vorwort zu Marengos Buch stammt von Pierangelo Sequeri, dem neuen Direktor des von Papst Franziskus umgewandelten Päpstliches Theologisches Institut Johannes Paul II. für Ehe- und Familienwissenschaften, dem vormaligen Päpstliches Institut Johannes Paul II. für Studien zu Ehe und Familie. Sequeri, der selbst der „Geheimkommission“ angehört, meint, das Buch werde ein wertvoller Beitrag sein gegen „das Übermaß an Oberflächlichkeit“, das seines Erachtens die Diskussion über Humanae vitae beherrsche.
War Paul VI. Opfer einer „zu strengen“ Kurie?
Paul VI. sei, so die „Neuinterpretation“ zwischen zwei gegensätzlichen Positionen hin und her gerissen gewesen. Er selbst erkannte die Notwendigkeit des Neuen, habe aber Rücksicht auf die Haltung der Glaubenskongregation und des Staatssekretariats nehmen müssen, die „noch eindeutig auf die Verteidigung der immerwährenden Positionen“ ausgerichtet waren.
Damit zeichnen sich in der Darstellung die Ingredienzien der Neuauslegung ab. Ein guter Papst, immerhin wird Paul VI. im kommenden Oktober von Franziskus heiliggesprochen, habe das Richtige erkannt, sei aber durch widrige Umstände und rückwärtsgewandte Hardliner zu Kompromissen gezwungen gewesen. Das Ergebnis war Humanae vitae.
An dieser Stelle kann bereits der weitere Verlauf der Geschichte erahnt werden: Nun sei es an der Zeit, die wahren Intentionen Pauls VI. in ihrer ganzen Reinheit freizulegen und, da die damaligen Zwänge nicht mehr gegeben sind, gegen die damals aufgezwungenen Kompromisse zur Geltung zu bringen. So sagt es Marengo natürlich nicht.
Er sagt es folgendermaßen:
Paul VI. mußte vor allem die „Klippen“ einer anderen Enzyklika überwinden, die von der Römischen Kurie (Glaubenskongregation und Staatssekretariat) vorbereitet worden war und den Namen De nascendi prolis tragen sollte. Diese Enzyklika sei, so Avvenire, „voller Doktrin und restriktiver Normen“ gewesen. Die offizielle lateinische Fassung war bereits gedruckt und sollte am 23. Mai 1968 veröffentlicht werden.
Dem aber habe sich Paul VI. in einer „wirklich prophetischen Entscheidung“ widersetzt.
Er ließ die vorbereitete Enzyklika einstampfen und suchte einen Ausweg in einem Kompromiß.
Wir ein neues Deutungsmonopol begründet?
„Dieses überraschende Kapitel in der Geschichte der umstrittensten und am meisten außer acht gelassenen Enzyklika des päpstlichen Lehramtes“, so Avvenire, wird nun in einem „wertvollen Sachbuch“ erzählt. Das Buch ist im Vatikanverlag erschienen und trägt den Titel „Die Entstehung einer Enzyklika. Humanae vitae im Licht der Vatikanischen Archive“ (La nascita di un’enciclica). Autor des Buches ist Msgr. Gilfredo Marengo.
Papst Franziskus habe ihm im vergangenen Jahr den Auftrag zu dieser Studie erteilt und die Erlaubnis gegeben, die „noch nie“ untersuchten Dokumente zur Enzyklika in den Archiven einzusehen, die mit Archivsperren von 70 Jahren (also bis 2038) belegt sind.
Damit wird für Marengos Buch ein Deutungsmonopol postuliert. Denn vor ihm und außer ihm kenne sonst niemand diese Dokumente. Eine vergleichbare Position sicherte sich die progressive „Schule von Bologna“ mit ihrer Geschichte des Zweiten Vatikanischen Konzils, die finanziell auch von der Deutschen Bischofskonferenz gesponsert wurde. Es dauerte Jahre bis sich andere Autoren die Mühe machten, die dort enthaltenen Angaben auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Einer, der sich dieses Verdienst erworben hat, ist der bereits erwähnte Historiker Roberto de Mattei. Ein etabliertes Deutungsmonopol zu brechen, ist aber eine mühevolle Aufgabe. In der Zwischenzeit können unter falschen Prämissen weitergehende Schritte und vollendete Tatsachen geschaffen worden sein.
Studie „ohne irgendein seltsames Komplott“
Avvenire selbst weiß worum es geht. Anders lassen sich Formulierungen wie folgende nicht erklären:
„Nun erlebt diese weder geheime noch vom Geheimnis irgendeines seltsamen Komplotts umrankte Studie ihr Licht und zeigt, daß es sich wirklich gelohnt hat.“
Die „aufsehenerregendste Neuheit“, so Avvenire, betrifft ein bereits gedruckter und von Paul VI. approbierter Enzyklikatext, der am 23. Mai 1968 veröffentlicht werden sollte.
Humanae vitae sei demnach ein neuer Text gewesen, weil Paul VI. einer strengen Normbetonung entgehen, aber zugleich keinen Bruch mit der Glaubenskongregation und dem Staatssekretariat provozieren wollte. Man glaubt, Papst Franziskus und seinen Bannstrahl gegen die „Gesetzeslehrer“ zu hören.
Mit der Abfassung des neuen Textes habe Paul VI. den Dominikaner Mario Luigi Ciappi beauftragt, der damals päpstlicher Haustheologe war, und den er später zum Kardinal kreierte. Ciappi hatte bereits im Herbst-Winter 1967 an einem Projekt der Glaubenskongregation mitgearbeitet, das Paul VI. in Auftrag gegeben hatte, nachdem er den Abschlußbericht der Päpstlichen Kommission zur Frage der Verhütungsmittel für „nicht zufriedenstellend“ erachtete. Diese hatte ihm mit übergroßer Mehrheit empfohlen, die Verwendung von künstlichen Verhütungsmitteln freizugeben.
Das klingt alles nicht nach der übrigen, „neuen“ Ausdeutung Marengos. Doch darauf wird nicht näher eingegangen.
Die verworfene Enzyklika De nascendae prolis
Der vorbereitete und von Paul VI. approbierte Enzyklikatext De nascendae prolis sei eine „zu strenge“ Betonung der Morallehre gewesen. Daran habe sich Paul VI. gestoßen, so der Avvenire. Das aber kann eigentlich nicht stimmen, sonst hätte er ihn in einem ersten Moment kaum approbiert.
Marengo weiter: Der Text habe die Frage zu sehr im Licht von Casti connubii von Papst Pius XI. von 1930 betrachtet. „Ein bißchen zu sehr auch für jene Zeit“, also 1968, so Avvenire, um damit zu sagen, daß es 2018 erst recht „zu viel“ wäre. Genau zu dieser Frage schrieb Roberto de Mattei vor wenigen Tagen Humanae vitae im Licht von Casti connubii lesen. Und nicht im Licht von Amoris laetitia ist der Vollständigkeit halber zu ergänzen.
Als De nascendae prolis in die Hand der Übersetzer kam, hätten vor allem französische und spanische Theologen (unter anderem der spätere Kurienkardinal Paul Poupard und der Vatikandiplomat und spätere Kurienkardinal Eduardo Martinez Somalo) einen Aufstand gemacht und gegen eine „eindeutig vorkonziliare Ausrichtung“ protestiert. Kardinal Giovanni Benelli, Substitut im Staatssekretariat, habe die Sache dem Papst vorgebracht, und dieser habe die Enzyklika nach „einer kurzen Prüfung sofort auf Eis gelegt“. Spätestens an dieser Stelle treten zahlreiche Fragen auf.
Der Dominikaner Benoit Duroux, Consultor der Glaubenskongregation, sei dann beauftragt worden, aber auch dessen Text habe „nicht ganz“ zufriedengestellt. Anfang Juli 1968 habe Paul VI. selbst den „ganzen pastoralen Teil“ bearbeitet. Damals habe er auch den neuen Arbeitstitel Vitae tradendae munus in Humanae vitae abgeändert. Im Marengo-Buch wurde der Text mit allen handschriftlichen Änderungen durch Paul VI. abgedruckt. Interessant wäre ein direkter Vergleich von De nascendae prolis und Humanae vitae.
Frühe Syondalität? Die große Schar der Schweiger
Eine „Überraschung“ sei auch, so Marengo, daß Paul VI. im Herbst 1967 alle Synodenväter der damals stattfindenden ersten Bischofssynode um ihre Meinung zur Geburtenkontrolle fragte. „Der Wille des Papstes alle Mitglieder der Synodalversammlung zu konsultieren, ist sehr wichtig, weil nach der Veröffentlichung von Humanae vitae einer der am häufigsten wiederholten Vorwürfe lautete, daß seine Entscheidung nicht kollegial erfolgt sei.
Der Avvenire schwächt selbst diese Aussage ab, denn „wirklich kollegial“ sei das doch nicht gewesen, da nur 26 von fast 200 Synodalen dem Papst eine Antwort zukommen ließen. Der Großteil zog es vor, zu schweigen. Ein Phänomen, das die Kirche auch heute erlebt, wie jüngst erneut beklagt wurde. Und 19 der 26 Synodalen, die geantwortet haben, sprachen sich für die Zulassung von künstlichen Verhütungsmitteln aus, was belegt, daß die Neuerer eine aktive Minderheit waren. Und die aktiven Verteidiger bereits damals eine noch kleinere Minderheit darstellten: Nur sieben Synodalen die Stellung nahmen, betonten die Unrechtmäßigkeit einer Verhütungsmentalität.
Soweit die historische Darstellung, die allein aber nicht der Sinn und Zweck der Studienkommission gewesen sein dürfte.
Der Schlußsatz des Avvenire läßt die erhoffte Stoßrichtung erkennen:
„Wir wissen, wie die Sache endete. Auch wenn man vielleicht auf das letzte Worte noch warten muß.“
Im Klartext: Das letzte Wort zu Humanae vitae und der Frage der Verhütungsmittel könnte noch nicht gesprochen sein.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Corrispondenza Romana/Wikicommons