(Rom) Zu den Kritikern von Papst Franziskus von ganz unerwarteter Seite gehört Loris Zanatta, Professor für Lateinamerikanische Geschichte an der Universität Bologna. Zanatta wirft Papst Franziskus vor, ein „typischer Vertreter des lateinamerikanischen Populismus“ zu sein. Diese Kritik erneuert er in einem ausführlichen Kommentar in der argentinischen Tageszeitung La Nacion vom 30. Juni. Das „mystische Verständnis von Volk“, wie es Papst Franziskus vertritt, sei „eine Gefahr für die Demokratie“, so der Vorwurf, den Zanatta bereits in der Überschrift formulierte. Ist Zanattas Kritik allerdings hilfreich, um das Denken und Handeln des Papstes zu verstehen?
Am 1. August 2017 wurde im Leitartikel der zweiten großen Tageszeitung Argentiniens, Clarín, das „lärmende Schweigen“ von Papst Franziskus zur anhaltenden Staatskrise in Venezuela kritisiert. Der Autor, Ricardo Roa, verwies dabei auf Zanatta. In der August-Ausgabe des argentinischen Wirtschaftsmagazins Fortuna war ein Interview mit dem Peronismus-Experten veröffentlicht worden.
Zanatta sagte darin über Papst Franziskus:
„Es ist keine Beleidigung, zu sagen, daß er ein typischer Vertreter des lateinamerikanischen Populismus ist. Seine Vorstellung ist, daß es ein Volk gibt, das über den politischen Vereinbarungen und dem verfassungsmäßigen Volk steht und der Bewahrer der historischen Legitimität ist: das Volk Gottes. Kein Papst hat so oft das Wort Volk verwendet. Papst Franziskus unterscheidet nicht den Wirtschaftsliberalismus vom politischen Liberalismus. Er verwendet häufig das Wort Pluralismus gegen den Markt, der, wie er sagt, die Welt homogenisiert, Kulturen und Völker zerstört. Seine Idee von Pluralismus ist die der Völker und Kulturen, die generell nicht pluralistisch sind. Seine Sichtweise ist die des lateinamerikanischen Katholizismus: die Armen sind die Bewahrer der katholischen Tugenden. Sie sind das wahre Volk. Die Anderen sind es nicht, auch wenn sie Wahlen gewinnen.“
Die Analyse Zanattas beschränkte sich auf sein Fachgebiet Lateinamerika. Sie konnte daher nicht erklären, warum Papst Franziskus durch die insistente Forderung nach einer schrankenlosen Masseneinwanderung die Völker Europas in ihrer Existenz gefährden will, wie ihm kurz zuvor, im Juli 2017, der ehemalige Präsident des Italienischen Senats und persönliche Freund von Benedikt XVI., Marcello Pera, vorgeworfen hatte.
In seinem nun veröffentlichten Aufsatz in La Nacion greift Zanatta eine Aussage von Franziskus auf, wie er sie exemplarisch auf dem Rückflug von Mexiko am 17. Februar 2016 geäußert hatte:
„Ein Volk kann man nicht einfach erklären, weil das Wort ‚Volk‘ nicht eine logische Kategorie, sondern eine mystische ist.“
Der Historiker kommt gleich zur Sache:
„Ich habe nie verstanden, was er meinte. Oder vielleicht habe ich es so gut verstanden, daß es mir angst macht, darüber nachzudenken.“
Der Papst habe sein Verständnis von Volk damit begründet, daß man es deshalb nicht einfach „erklären“ könne, weil „wir in den Geist, das Herz, das Wirken, die Geschichte und den Mythos seiner Traditionen eintreten müssen“.
Daraus leitet Zanatta drei Merkmale des päpstlichen Denkens ab:
„Erstens, daß das Volk eine Einheit ist, einheitlich ist seine Tradition, einheitlich sind seine Werte;
Zweitens, daß das Volk ein natürlicher Organismus ist und als solcher mehr ist als die Summe der Individuen, aus dem es sich zusammensetzt, denn das Ganze sei mehr als die Teile, wie Franziskus wiederholt betone; als Organismus habe das Volk „ein Herz“ und eine moralische Persönlichkeit;
Drittens, wenn das Volk eine Einheit ist, eine einzige, einheitliche Geschichte und eine einzige, einheitliche Tradition hat, was ist mit jenen, die diese nicht teilen?“
Im mystischen Verständnis des Volkes sieht Zanatta jedoch eine Idee am Werk, „die dem Pluralismus am fernsten ist, der das Salz der Demokratie ist“.
Zanatta sei der Satz von Papst Franziskus über das Volk eingefallen, als er in den Nachrichten hörte, daß Pablo Iglesias, der Anführer der linksradikalen, spanischen Bewegung Podemos, zusammen mit seiner Lebensgefährtin Irene Montero, ebenfalls Podemos-Politikerin, sich eine teure Villa kaufte.
Der Kauf sorgt in Spanien für Aufsehen und auch Empörung. In Deutschland regt es hingegen nicht auf, daß die Anführer der radikalen Linken, Oscar Lafontaine und Sarah Wagenknecht, in einer weit teureren Villa zusammenleben.
Die Worte des Papstes mit einem Hauskauf in Verbindung zu bringen klinge, so Zanatta, „grotesk“, doch „grotesk ist diese Geschichte“. Sie enthülle, daß auch die beiden Podemos-Führer „eine mystische Vorstellung vom Volk haben“.
„Der Kauf an sich, macht mir nichts aus: Sie sollen glücklich sein. Mich interessiert auch nicht die Heuchelei und Doppelmoral. Was soll über jemand sagen, der für sich in Anspruch nimmt, was er an anderen kritisiert?“
Urkomisch sei in der ganzen Sache die Berufung auf „das Volk“ mit der bejahenden Frage, ob der der Kauf eines Hauses den „Werten diese Volkes“ würdig sei?
„Weder Gott noch das Gewissen, sondern ‚das Volk‘ bestimmt, was moralisch und was unmoralisch ist. Das mystische Volk spricht los oder verurteilt, ist Richter über Laster und Tugenden. Die Verantwortung des Individuums geht vor dem ‚Geist‘ des Volkes in die Knie. Der Papst oder Iglesias meinen es sicher nicht so, aber es gibt Völker, die im Namen ihrer ‚Geschichte‘ und ihrer ‚Tradition‘ und ihres ‚Herzens‘ es moralisch finden, Ungläubige auszurotten, Mädchen zwangszuverheiraten, Witwen zu verbrennen.“
„Das Volk“ werde, so Zanatta, heute von verschiedener Seite in Anspruch genommen, vor allem in der Form, daß „im Namen des Volkes“ gesprochen werde.
„Es ist kein Zufall, daß man in Podemos seine peronistische Herkunft erkennt: Nicht weil seine Anführer Peronisten sind, oder weil der Papst oder all die anderen Peronisten sind. Vereinfachen wir nicht. Der Punkt ist, daß sie alle, Peronismus mit eingeschlossen, zweieiige Zwillinge sind, Angehörige derselben historischen Familie, einer Familie, die ihre Inspiration in einer Volksidee findet, die mit vom Papst mit solcher Unschuld und von Podemos mit solchem Zynismus zum Ausdruck gebracht wird.“
Und weiter:
„Das mystische Verständnis von Volk, das sie vereint, obwohl sie es vielleicht gar nicht kennen, geht der Aufklärung voraus und widerspricht dieser. Es ist ein Volk ohne Individuen, ein ‚ethisches‘ Volk, das seine Werte als kollektive Moral aufzwingen will, ein Volk, das zur Verteidigung seiner Identität versucht sein könnte, jene als eine Krankheit zu zermalmen, die sich dagegen stellen.“
Das könne in einer sehr „homogenen Gemeinschaft funktionieren“, aber nicht in einer „modernen, fragmentierten und pluralen Gesellschaft“.
„Das mystische Volk unserer Tage ist das populistische Volk. Es ist der Erbe eines alten Begriffs. Durch die Berufung auf die Geschichte, die Natürlichkeit oder die Moral wird der Anspruch erhoben, die verlorenen oder bedrohte Einigkeit wiederherzustellen. Die Inquisition und der Gulag, die Lager und der heilige Krieg sind die Kinder dieser Idee: Alle diese Verfolgungen wurden im Namen einer moralischen Reinheit eines mystischen Volkes begangen.“
Zanatta gelangt zum Schluß, daß – „Unschuld“ hin oder her – auch Papst Franziskus wegen seines mystischen Verständnisses von Volk eine „Gefahr für die Demokratie“ sei. Wie hilfreich ist aber eine solche Analyse in der Sache und speziell, um das Denken und Handeln des amtierenden Papstes zu verstehen?
Zweifel scheinen angebracht.
Vor allem differenziert Zanatta nicht, daß Papst Franziskus seine Aussagen vom „pueblo“ (Volk) ausschließlich im lateinamerikanischen Kontext tätigte; daß Franziskus eine weitere – von Zanatta nicht berücksichtigte – Ebene des „Volkes der Armen“ kennt, die nich minder kryptisch ist, wovon er auch auf anderen Kontinenten [Afrika) sprach; daß Franziskus gegenüber den europäischen Völkern eine ganz andere Haltung einnimmt, worauf Marcello Pera sehr drastisch hinwies.
Meint Zanatta gar, das Volk sei eine Bedrohung der Demokratie?
Zanatta scheint jenem Denken das Wort zu reden, das aus den Völkern nur mehr eine beliebige und zufällige Ansammlung von Individuen machen wollen, beispielsweise aus dem deutschen Volk nur mehr eine deutsche Bevölkerung. Dahinter steckt ein Denken, das mit dem Individuum die Gemeinschaft abschaffen will.
Damit stellt sich die Frage, ob dieses Verständnis einer Überbetonung des Individuums gegenüber dem Volk nicht derzeit möglicherweise sogar eine größere Bedrohung für die Demokratie darstellt, als das „mystische Volksverständnis“ von Papst Franziskus.
Dies um so mehr, da es Franziskus nur mit Blick auf Lateinamerika vertritt, und darin der antieuropäische und antikapitalistische Einfluß des deutschstämmigen Philosophen und Anthropologen Rodolfo Kusch unüberhörbar ist. Gemeint ist ein Denken, das zwar ganz europäisch geprägt ist, sich aber bewußt genau davon „befreien“ will. Letztlich handelt es sich dabei mehr um ein Anti-Volks-Verständnis. Mit Hilfe eines fiktiven, idealisierten, „indigenen“ Volkes soll das traditionelle europäische Verständnis von Volk überwunden werden.
Auch chronologisch geht daher die Kritik Zanattas ins Leere, wenn er von einem voraufklärerischen Volksverständnis spricht. Wenn schon müßte er von einem präkolumbischen Verständnis sprechen. Aber da bewegen wir uns bereits im fiktionalen Raum.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: La Nacion/Wikicommons (Screenshots)