
(Berlin) „Die Dunkelziffer“ der Abtreibungen in der Bundesrepublik Deutschland „ist zwei bis dreimal so hoch wie die Statistik.“ Diese Schockmeldung stammt nicht von einem Lebensschützer, sondern vom Abtreibungsarzt Christian Fiala. Dies berichtete das Wochenmagazin Focus am vergangenen Samstag mit der Schlagzeile: „Experte sicher: Warum in Deutschland viel mehr Frauen abtreiben, als die Statistik zeigt“.
Zahl der getöteten Kinder „muß in Deutschland pro Jahr auf bis zu 300.000 korrigiert werden“
Fiala muß es wissen: Er ist Österreichs Oberabtreiber. Der Arzt betreibt zwei Abtreibungsambulanzen, je eine Wien und in Salzburg. Als Mitglied des österreichischen Ablegers des weltgrößten Abtreibungskonzerns Planned Parenthood, der Österreichischen Gesellschaft für Familienplanung (ÖGF), und als ehemaliger Vorsitzender der internationalen Abtreibervereinigung FIAPAC gilt er als ausgewiesener, wenn auch makabrer Fachmann in Sachen „Kultur des Todes“.

Seit etlichen Jahren meldet das Statistische Bundesamt für Deutschland kontinuierlich rückläufige Abtreibungszahlen. Das klingt nach Entwarnung an der Lebensrechtsfront. 2015 wurden weniger als 100.000 Tötungen ungeborener Kinder gemeldet. Auch in konservativen Kreisen war ein leiser Seufzer der Erleichterung zu hören. Man müsse sich für den Lebensschutz, das große Tabuthema, nicht mehr so exponieren. Es gehe ja in die richtige Richtung.
Die Wirklichkeit sieht jedoch ganz anders aus, so Fiala. Diese Zahlen „können nicht stimmen“, zitiert Focus den Abtreibungsarzt. Die Zahl der getöteten Kinder „müsse in Deutschland pro Jahr auf bis zu 300.000 korrigiert werden“.
Abtreiber Fiala bestätigt den Sozialwissenschaftler Manfred Spieker
Der Abtreiber Fiala bestätigt damit den Sozialwissenschaftler Manfred Spieker. Spieker beklagt seit Jahren eine hohe „Dunkelziffer“. Durch „Meldedefizite“ sei selbst nach „restriktiven Schätzungen“ die Zahl der vom Statistischen Bundesamt gemeldeten jährlichen Abtreibungen „zu verdoppeln“, so Spieker. Der inzwischen emeritierte Professor der Universität Osnabrück wies in einer Studie allein für das Jahr 1996 ein Meldedefizit „von rund 55 Prozent“ nach. Gegen die „offiziellen“ Zahlen einer Bundesbehörde schien Spieker ein einsamer Rufer in der Wüste. Mit der Wortmeldung Fialas von der Gegenseite erhalten die Aussagen des Sozialwissenschaftlers eine späte, aber umso kräftigere Bestätigung.
Eine einheitliche statistische Erfassung gibt es in Deutschland erst seit 1996. Von 1996 bis 2004 meldete das Statistische Bundesamt konstant rund 130.000 Abtreibungen pro Jahr. Spieker errechnete für diesen Zeitraum mindestens 260.000 Abtreibungen pro Jahr.
Nun weist der Abtreibungsarzt Fiala auf weitere Defizite in den offiziellen Statistiken hin und unterstellt sogar, daß die deutschen Behörden die Abtreibungsstatistiken aus „politischen Gründen“ gezielt manipulieren.
Fiala: „Deutsche Statistik ist und bleibt mir ein Rätsel“
Seit 2004, also seit 13 Jahren, weist die offizielle Statistik einen kontinuierlichen Rückgang der Abtreibungen aus. Ein Rückgang, den sich niemand so recht erklären könne, und den Fiala kategorisch in Frage stellt. „Die deutsche Statistik ist und bleibt ihm ein Rätsel“, so Focus. Es stimme, daß die Zahl der Frauen im gebärfähigen Alter in Deutschland zurückgehe. Der Rückgang der Abtreibungen sei jedoch doppelt so stark wie der Rückgang der Frauen im gebärfähigen Alter, und das stimme, so Fiala, nicht zusammen.
Stutzig mache grundsätzlich, daß Deutschland „mit dem langjährigen und stetigen Rückgang an Abbrüchen allein auf weiter Flur“ steht, auch das sei nicht überzeugend.
Laut Fiala sei wegen äußerer Faktoren nicht von einem Rückgang, sondern vielmehr von einer „Zunahme der Abtreibungen“ in Deutschland auszugehen. Als Begründung führt er an, daß Hartz-IV-Empfängern die Verhütungsmittel nicht mehr gezahlt werden, es eine generell steigende Angst vor hormonellen Verhütungsmitteln gibt und die Zahl der Geburten in den vergangenen dreizehn Jahren gestiegen sind, obwohl die Zahl der Frauen im gebärfähigen Alter gesunken ist. Er wisse aber „aus Erfahrung“, daß mit einer erhöhten Geburtenrate auch eine erhöhte Abtreibungsrate einhergehe. Die aber sinke laut offizieller Statistik. Das passe alles nicht zusammen.
Frankreichs „ehrlichere“ Statistik – Deutsche Auskunftspflicht „nicht kontrollierbar“
Die französische Statistik mit 218.100 Abtreibungen im Jahr 2015 sei aussagekräftiger und ehrlicher, so Fiala. Umgerechnet auf die Bundesrepublik Deutschland ergebe die französische Statistik nicht die vom Statistischen Bundesamt genannten 99.237 getöteten Kinder, sondern 266.000.

Das Statistische Bundesamt betone zwar Transparenz und Zahlenehrlichkeit, in Wirklichkeit, so Fiala, seien die deutschen Abtreibungszahlen „nicht kontrollierbar“. Offiziell gebe es zwar für Ärzte und Kliniken „Auskunftspflicht“, doch werde nicht nachgeprüft. Wegen der „anonymisierten“ Angaben sei ohnehin nichts „rückverfolgbar“.
Beim Statistischen Bundesamt begnügt man sich auf Nachfrage von Focus mit der lapidaren Feststellung, man habe „keine Hinweise darauf, dass Ärzte ihrer gesetzlichen Meldepflicht nicht nachkommen“. So einfach kann man es sich machen.
Der Abtreibungsarzt Fiala sieht das jedenfalls anders. Er sagt, daß die Meldung „zusätzliche Bürokratie bedeutet“, und die erspare sich jeder, der nur kann, auch die deutschen Abtreibungsärzte, zumal sie ja mangels Nachprüfbarkeit „können“. Von seinen bundesdeutschen Abtreibungskollegen wisse er, daß sie die Abtreibungsstatistik für „sinnlos“ erachten. Niemand verschwende also Zeit dafür. Die Bürokratie in den Praxen und Kliniken sei ohnehin bereits „kaum zu bewältigen“.
Da nur bis zu 14. Schwangerschaftswoche abgetrieben werden darf, finden spätere Abtreibungen „schwarz“ statt, und werden natürlich nicht gemeldet, so Fiala. Auch die gesetzlich vorgeschriebene Beratung zur Erlangung eines Abtreibungsscheines werde von manchen Frauen als „Schikane“ empfunden. Die zahlen dann selber, und so laufe alles „am Finanzamt vorbei“ ab. Fiala sagt es nicht, bestätigt aber damit indirekt, daß es erst recht viele Männer hinter den schwangeren Frauen gibt, die lieber zahlen, aber eine Abwicklung „in schwarz“ wollen.
Politisch motivierte „Manipulation der Abtreibungsstatistik“?
Fiala geht noch weiter. Er unterstellt dem Statistischen Bundesamt eine politisch gewünschte Manipulation der Abtreibungszahlen. Das hänge mit der Abtreibungsdebatte in Deutschland zusammen, so der Abtreibungsarzt. Die sei nach der Wiedervereinigung massiv entbrannt. 1993 wurde sie durch das Bundesverfassungsgericht dadurch beendet, daß die Tötung ungeborener Kinder unter bestimmten Bedingungen „vorübergehend“ straffrei gestellt wurde. Die Abtreibung gilt in Deutschland als unrechtmäßig und damit als Straftat, die aber unter bestimmten Bedingungen „straffrei“ bleibt.
Das Bundesverfassungsgericht legte 1993 fest, daß die Straffreistellung der Abtreibung nur eine Übergangsregelung sei, bis das Gesetz „den Schutz des ungeborenen Lebens“ gewährleistet. Dazu, das sagt Fiala nicht, läßt es aber als Kenner der Szene unterschwellig anklingen, gibt es aber keinen politischen Willen, weder in der Bundesrepublik Deutschland noch in Fialas Österreich. Die Abtreibung gilt der politischen Klasse im deutschen Sprachraum, anders als in den USA, als Tabuthema.
Wenn die offizielle Abtreibungsstatistik konstant hoch ist oder sogar zunehmen würde, erhöhe sich aber der Druck, daß dieser gesetzliche Schutz des ungeborenen Lebens politisch eingefordert wird. Genau das sei 2004 der Fall gewesen, so Fiala. Damals drängte der CDU-Bundestagsabgeordnete und Lebensschützer Hubert Hüppe wegen der „konstant hohen“ Abtreibungszahlen auf die „Umsetzung der Nachbesserungspflicht“ und berief sich dabei auf das Bundesverfassungsgericht. Dafür fand er Unterstützung bei anderen CDU- und CSU-Abgeordneten. Hüppe verwies in einer Anfrage darauf, daß das Ziel des Gesetzes, die Abtreibungen zu reduzieren, mit den derzeitigen Bestimmungen nicht erfüllt werden, wie die Statistik zeige.
Hüppes Vorstoß und die seither wundersam sinkenden Abtreibungszahlen
Nach Hüppes Wink mit dem Zaunpfahl, ernst zu machen mit der Forderung nach „Nachbesserung“ des Abtreibungsgesetzes, begannen ab 2005 die Abtreibungsstatistiken plötzlich wundersam zu sinken. Fiala findet den „zeitlichen Zusammenhang“ mit Hüppes Vorstoß „interessant“ und sieht „politische Gründe hinter der auffälligen Statistik“, die das Statistische Bundesamt seither Jahr für Jahr vorlegt. Focus zitiert Fiala mit den Worten:
„Sinkende Abbruchzahlen waren damals die einzige Möglichkeit, eine Änderung des Paragrafen 218 zu vermeiden.“
Mit anderen Worten: Solange die Abtreibungsstatistik jährlich sinkt, besteht für die Bundesregierung in Berlin keine Gefahr, daß eine erneute Abtreibungsdebatte auf die Tagesordnung gesetzt wird. Gibt es also eine interne Regierungsorder, die Abtreibungszahlen nach unten zu manipulieren? Der Lebensschützer Manfred Spieker und der Abtreiber Christian Fiala sind sich jedenfalls einig, daß die vorgelegten Zahlen des Statistischen Bundesamtes falsch sind und um bis das Dreifache nach oben korrigiert werden müssen.
Damit aber ist die Bundespolitik mehr denn je zur Umsetzung der Nachbesserungpflicht gefordert. Über ihr lastet zudem der Vorwurf einer gezielten Zahlenmanipulation. Sollten Fialas und Spiekers Einschätzungen richtig sein, hätten die zu niedrigen oder sogar gezielt nach unten manipulierten Abtreibungszahlen des Statistischen Bundesamtes den Bundestag von der „Umsetzung der Nachbesserungspflicht“ abgehalten. Dieser Unterlassung wären dann seit 2005 2,3 Millionen ungeborene Kinder zum Opfer gefallen, die in der offiziellen Statistik nicht erfaßt sind. Eine Anklage gegen Bundesregierung und Bundestag und ein Weckruf, tätig zu werden.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: InfoVaticana/Focus (Screenshot)