von Clemens Victor Oldendorf.
Wenn der Gottesdienst der Kirche als ein Gegenstand, gewissermaßen als ein Inhalt und zugleich als Form ihrer Überlieferung erscheint, ist damit nicht Nostalgie oder konfessionelle Folklore gemeint. Es geht gerade nicht um eine unverbindliche oder individuelle Vorliebe, etwa so, wie jemand sich für ein beliebiges, anderes kulturelles Erbe interessieren und engagieren kann oder davon unberührt bleibt.
Denn der Kultus strahlt sehr wohl in Kultur aus oder sollte es tun, kann aber, solange er echt bleibt, niemals in Kultur aufgehen, zu einem bloßen Kulturgut und damit greifbar werden.
Die Bindung an die Form, die die Liturgie im Gang und Fluss der Geschichte gewonnen hat, zeigt vielmehr zwei wesentliche Merkmale jedes rechtmäßigen Gottesdienstes auf: seine Unbeliebigkeit und die Tatsache, dass sich niemand, auch keine einzelne Gemeinde oder Gruppe, selbst zu seiner Feier ermächtigen kann.
Damit wird ein weiterer Riegel vorgeschoben. Wie unser Gottesdienst nie in einem Kulturgut aufgehen kann, das wir pflegen, über das wir allerdings gleichsam auch Verfügungsgewalt hätten, kann er ebensowenig unser Machwerk, die Leistung unserer Gestaltung, werden.
Gottesdienst ist Gabe an uns und Vor-Gabe für uns, die liturgische Gestalt unserer Hingabe an Gott. So wie wir in dieser Hingabe in die Hingabe Christi an den Vater im Heiligen Geist eintreten und hineingenommen werden, so müssen wir uns der vorgegebenen Form des Gottesdienstes überlassen und uns ihr fügen. Das ist der Sinn überlieferter Liturgie, und in diesem Sinne kann Liturgie, die recht sein und bleiben soll, gar nicht anders, als überlieferte Liturgie zu sein.
Vom goldenen Kalb und der Verfehlung echten Gottesdienstes
Das Provokative dieser Gedankenschritte sah der Theologe Joseph Ratzinger bezeichnenderweise in der Erzählung vom goldenen Kalb verdichtet. Dazu schrieb er in seinem Buch „Vom Geist der Liturgie“:
„Dieser vom Hohenpriester Aaron geleitete Kult sollte keineswegs einem heidnischen Götzen dienen. Die Apostasie ist subtiler. Sie geht nicht offen von Gott zum Götzen über, sondern bleibt scheinbar durchaus bei demselben Gott: Man will den Gott verherrlichen, der Israel aus Ägypten geführt hat, und glaubt, in der Gestalt des Jungstiers seine geheimnisvolle Kraft richtig abzubilden. Scheinbar ist alles in Ordnung, vermutlich durchaus auch das Ritual den Vorschriften gemäß. Und doch ist es ein Abfall von Gott zum Götzendienst. Zweierlei bewirkt diesen äußerlich zunächst kaum wahrnehmbaren Sturz. Zum Einen der Verstoß gegen das Bilderverbot: Man hält es bei dem unsichtbaren, dem fernen und geheimnisvollen Gott nicht aus. Man holt ihn zu sich herab, ins Eigene, ins Anschauliche und Verständliche. So ist Kult nicht mehr ein Hinaufsteigen zu ihm, sondern ein Herunterziehen Gottes ins Eigene: Er muss da sein, wo er gebraucht wird, und er muss so sein, wie er gebraucht wird“ (Ratzinger, J., Der Geist der Liturgie. Eine Einführung, jetzt in: Theologie der Liturgie. Die sakramentale Begründung christlicher Existenz, GS Joseph Ratzinger, hrsg. von Gerhard Ludwig Müller, Bd. 11, Freiburg im Breisgau, 3. Aufl. 2010, S. 27–189, hier: S. 39).
An die Stelle des Hinaufstiegs tritt der Versuch, Gott ins Eigene herabzuziehen, statt sich in die Weite Gottes versetzen zu lassen. Gerade in diesem gemachten Herabziehen blockiert der Mensch den freien Herabstieg Gottes; die Begegnung mit ihm.
Unschwer erkennt man in den von Ratzinger benannten Gefahren, der – gutgemeinten – Anschaulichkeit und Verständlichkeit, Kriterien, mit denen man nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil oftmals zugunsten der anschließenden Liturgiereform zu argumentieren suchte. Eine vornehme, jedoch deutliche Kritik an deren konkretem Verlauf und Ergebnis.
Das Zitat setzt sich fort:
„Wenn Mose zu lange wegbleibt und damit Gott selbst unzugänglich wird, dann holt man ihn eben herbei. Dieser Kult wird so zum Fest, das die Gemeinde sich selber gibt; sie bestätigt darin sich selbst. Aus Anbetung Gottes wird ein Kreisen um sich selber (…) Der Tanz um das goldene Kalb ist das Bild dieses sich selbst suchenden Kultes, der zu einer Art von banaler Selbstbefriedigung wird. Die Geschichte vom goldenen Kalb ist eine Warnung vor einem eigenmächtigen und selbstsüchtigen Kult, in dem es letztlich nicht mehr um Gott, sondern darum geht, sich aus Eigenem eine kleine, alternative Welt zu geben. Dann wird Liturgie allerdings wirklich zu leerer Spielerei.“ (a. a. O., S. 40).
Integration statt Isolation, Öffentlichkeit und Offenheit von Liturgie
Mit dem Motu Proprio Summorum Pontificum vom 7. Juli 2007, auf das die Feier der überlieferten Römischen Liturgie gestützt ist, wollte Papst em. Benedikt XVI. beiden Gefahrengeflechten wehren, die er schon als Theologe benannt hatte. Die Versuchung, die im zweiten Teil des Zitates anklingt, betrifft auch und vielleicht gerade diejenigen, die nach dem Zweiten Vaticanum der überlieferten Gestalt des Gottesdienstes und des Glaubens der Kirche die Treue halten wollen: die Versuchung, letztlich nur sich selbst zu suchen, eigene, gewohnte Anschauungen und Sicherheiten bestätigt zu finden und sich eine kleine, alternative Welt zu schaffen.
Dies bedeutet eine faktische Isolation, wo es Ratzinger, beziehungsweise Benedikt XVI., um Integration ging. Abkapslung sollte durch Einbindung geheilt werden. Deswegen verkürzt das Anliegen, wer diese Integration quasi-soziologisch nur als die Absicht begreifen möchte, ein „traditionalistisches“ Ghetto aufzusprengen und dessen Kritik und Opposition ruhigzustellen.
Die Integration, um die es eigentlich geht, ist eine liturgische und theologische, aufgrund der inneren Struktur und kosmischen Offenheit christlichen Kultes: „Christliche Liturgie ist niemals die Veranstaltung einer bestimmten Gruppe, eines bestimmten Kreises oder einer bestimmten Ortskirche“ (a. a. O., S. 60) und deshalb – so können wir ergänzen – ist sie auch nicht Veranstaltung und Selbstzweck derer, die aus irgendwelchen individuellen, vordergründigen, subjektiven, vielleicht auch sozio-psychologischen Gründen eine bestimmte Vorliebe für liturgische Traditionen haben.
Hier ist also nicht nur an die zu denken, die in der Spontaneität des Augenblicks und der eigenen Gruppe jeden Gottesdienst ins Formlose auflösen wollen und sich nicht durch die Verbindlichkeit der Gesamtkirche gebunden fühlen, sondern nicht weniger an diejenigen, die Verbindlichkeit der liturgischen Tradition gleichsam als willkommenes Mittel dem Zweck eigener Selbstbestätigung, Abgrenzung und Überheblichkeit unterordnen.
Summorum Pontificum: Auftrag und Reichweite
Beiden Gefahren müsste eine echte Reform der Liturgie und gottesdienstlichen Praxis entgegentreten: Der Versuchung, sich selbstherrlich über die Vorgabe liturgischer Gestalt hinwegzusetzen einerseits und andererseits jener, sich ebenfalls der Liturgie zu bemächtigen, indem man unter dem – möglicherweise unbewussten – Vorwand der Traditionstreue, die überlieferte Liturgie und den darin zum Ausdruck gebrachten Glauben als das exklusiv Eigene reklamiert, sich dadurch in einem ideologischen Ghetto abkapselt und den Rest der Kirche ausschließt, oder auch, indem die überlieferte Liturgie letztlich als eine Art Hobby und Liebhaberei einer elitären, im weitesten Sinne kulturellen Szene betrieben wird, wodurch sie zur Spielerei herabsinkt, die nicht mehr beanspruchen will, für die Gesamtkirche Maßstab zu sein und die dies auch nicht mehr ernstlich beanspruchen könnte.
Das Motu Proprio Summorum Pontificum wollte die Grundlage und Basis einer echten Liturgiereform sein. Das Pontifikat Benedikt‘ XVI. bot sie uns an. Damit sie möglich bleibt und vielleicht eines Tages wirklich umgesetzt werden kann, stehen wir geduldig und ausdauernd zu Summorum Pontificum, das Erbe und Auftrag an den Heiligen Vater Franziskus, sowie künftige Pontifikate und Generationen von Katholiken ist, um das große Wort von der Liturgia semper reformanda tatsächlich mit Leben zu erfüllen.
Text: Clemens Victor Oldendorf
Bild: Accion Liturgica