
Oder: Warum wird Sr. Lucia nicht selig gesprochen?
Nach der Veröffenlichung des Ersten Teils am 10. Oktober 2014 und des Zweiten Teils am 19. Oktober beginnt heute die Veröffentlichung des abschließenden Dritten Teils. Aus aktuellem Anlaß behandelte der Zweite Teil die Seligsprechung von Papst Paul VI. (1963–1978) und ging auf die Frage von Kanonisierungen als Politikum ein. Aufgrund der Fülle der darzulegenden Überlegungen wurde entschieden, ihn zur besseren Lesbarkeit aufzuteilen. Im heutigen Beitrag behandelt der Wiener Theologe und Publizist die unterlassenen Kanonisierungen aufgrund politischer Widerstände, um sich dann mit einer ebenso spannenden wie akribischen Spurensuchen der mit Fatima verbundenen Frage zuzuwenden, warum Schwester Lucia dos Santos noch nicht kanonisiert wurde.
von Wolfram Schrems*
Im Anschluß an die beiden ersten Teile, die den Hintergrund der Problematik aufreißen sollten, soll nunmehr zum Kern der Frage vorgestoßen werden. Aufgrund der äußerst komplizierten Sachlage und der sich daraus ergebenden Weitschweifigkeit der Darstellung muß dieser dritte Teil aus Gründen der Lesbarkeit seinerseits unterteilt werden.
Unterlassungen von Kanonisierungen als Politikum
Genauso wie Heiligsprechungen ein Politikum sind, so ist es auch die Unterlassung derselbigen. In Österreich hatte man z. B. die Seligsprechung des Wehrdienstverweigerers aus Gewissensgründen Franz Jägerstätter vorangetrieben und erreicht. Aus verschiedenen Gründen erschien das auch opportun. Für manche war es aus politischen Gründen hochwillkommen. Es muß daher festgehalten werden, daß es ein großes Ärgernis ist, wie dieser tiefgläubige Mann, der ein österreichischer Patriot und übrigens auch kein Pazifist war, von den linken Deutungsmonopolisten ausgeschlachtet und mißbraucht wird.
Jägerstätter kam also einem bestimmten Milieu sehr zupaß.
Völlig inopportun erscheint aber die noch mehr gerechtfertigte Seligsprechung von Bundeskanzler Engelbert Dollfuß und anderer Märtyrer des NS-Regimes, wie Hans Georg Heintschel-Heinegg und Hans Karl Zessner-Spitzenberg. Denn die waren auf eine Weise „konservativ“, wie man es eben seit dem Konzil nicht mehr haben will.
Wichtig wäre auch, die Seligsprechung von „Sandwirt“ Andreas Hofer zu postulieren. Immerhin war der Widerstandskrieg der Tiroler gegen Napoleon und seine bayrischen Knechte ein katholischer Kampf gegen die Greuel einer sich selbst zu Unrecht so nennenden „Aufklärung“.
Schließlich gäbe es viele rezente Märtyrer des Kommunismus oder des Islam, man denke nur an die Opfer des Armeniergenozids 1915, dem auch viele Katholiken zum Opfer fielen, dem Vergessen zu entreißen. Und höchstwahrscheinlich viele unscheinbare und unbekannte kontemplative Ordensleute, die ihr strenges Büßerleben in heroischer Weise lebten und zu einem vorbildlichen Abschluß brachten. Damit würde der Primat des Kontemplativen über das Aktive wieder gebührend ins Bewußtsein der Gläubigen gebracht werden.
Zuletzt wäre es höchst angemessen, hebräische Katholiken zur Ehre der Altäre zu erheben. Viele haben sich ihren Schritt in die Kirche vieles kosten lassen, wie etwa Eugenio Pio Zolli, der „Rabbi von Rom“ und würden offizielle Würdigung verdienen.
Aufgrund von Opportunismus oder Feigheit oder politischer Ränkeschmiede tut sich aber leider hier nichts.
Genausowenig wie mit Sr. Lucia.
Nach der Seligsprechung von Jacinta und Francisco Marto: Warum nicht Lucia dos Santos?
Sr. Lucia ist derzeit also offensichtlich unerwünscht.
Warum? Versuchen wir dieser Frage gleichsam „sokratisch“ auf den Grund zu gehen:
Für eine Seligsprechung wird bekanntermaßen das Leben des Kandidaten genau durchleuchtet. Es müssen alle relevanten Details untersucht werden.
Die Frage ist, was im gegenständlichen Fall dabei herauskommen würde. Soweit man sich mit Fatima beschäftigt hat, wird man mutmaßen müssen, daß eine Untersuchung des Lebens von Sr. Lucia in ein Wespennest stechen würde.
Das ist vermutlich noch dezent formuliert.
Von verschiedenen Seiten hört man nämlich, daß Sr. Lucia in den 80er und 90er Jahren ihren früheren Aussagen widersprechen würde. Wenn man dem nachgeht, stellt sich heraus, daß ihre Aussagen in der Zeit nach dem Konzil tatsächlich in diesem Sinne wiedergegeben werden. Sr. Lucia habe die Gültigkeit der Weihe Rußlands durch Papst Johannes Paul II. bestätigt und sie habe bestritten, daß das „Dritte Geheimnis“ zur Publikation für die ganze Welt bestimmt sei. Außerdem habe sie der vatikanischen Deutung des publizierten Teils des „Dritten Geheimnisses“ durch Kardinal Sodano zugestimmt. U. dgl.
(Die ganze Geschichte ist sehr kompliziert und kaum in Kürze darzustellen. Für die gegenständliche Frage siehe überblicksmäßig allenfalls die Seite)
Wie kann man sich das erklären?
Meines Erachtens gibt es nur drei Möglichkeiten:
Entweder Sr. Lucia hat ihre Mission unter dem auf sie ausgeübten massiven Druck durch Kirchenvertreter verraten, oder aber ihre Aussagen sind durch die kirchlichen Behörden offen gefälscht worden, oder aber, die Person, die sich solcherart geäußert hat, ist gar nicht Sr. Lucia.
Rekapitulation der Ereignisse
Treten wir noch einmal einige Schritte zurück:
Da ist ein Kind, das vom Himmel selbst erschütternde Botschaften erhalten hat. Dieses Kind hat in einem Augenblick die Hölle gesehen. Es wurde mit einem ersten Auftrag an den Papst betraut. Das Sonnenwunder vom 13.10.1917 (und später die unheimliche rote Färbung des Nachthimmels am 25.01.1938) bestätigt den Gehalt der Visionen und Auditionen, deren dieses Kind gewürdigt wurde. Niemand bestreitet die Faktizität dieser Ereignisse – auch die säkulare und kirchenfeindliche Presse mußte damals zähneknirschend die Realität unerklärlicher Ereignisse zugestehen.
Das Kind wird erwachsen. Die junge Frau tritt in Spanien in den Dorotheerinnenorden ein. Nach dem Weltkrieg wechselt sie in den Karmel. Sie unterwirft sich einer noch strengeren Ordensregel, einschließlich einer so gut wie vollständigen Isolation von der Welt. Der regierende Papst, Pius XII., hat unterdessen (1942) zwei der drei Teile des Fatimageheimnisses publik gemacht und in unzähligen Ansprachen erwähnt. Nach dessen Tod 1958 wartet die Welt auf die Publizierung des dritten Teiles.
Aber die kommt nicht.
Der neue Papst, der mit einer raffinierten propagandistischen Diktion als Il Papa buono ausgerufen wird (geradeso, als wären die früheren Päpste nicht „gut“ gewesen), verweigert jede Bezugnahme auf diese Botschaft (also nicht nur auf das „Dritte Geheimnis“ sondern auch auf die bekannten Teile) und lenkt sein Pontifikat in eine ganz andere Richtung. Das „Dritte Geheimnis“ wird im vatikanischen Archiv begraben. Nach vier Jahren stirbt er und hinterläßt ein immenses Chaos.
Dessen Nachfolger Paul VI. besucht zum 50. Jubiläum 1967 (eher widerwillig) Fatima und – so berichten es mehrere Autoren [1]Jörg Ernesti, Paul VI. – Der vergessene Papst, Herder, Freiburg 2012: „In Fátima traf Paul VI. ebenfalls mit Schwester Lucia dos Santos (1907 – 2005) zusammen, die 1917 als kleines Mädchen … Continue reading – weigert sich, trotz inständiger Bitten von Sr. Lucia mit ihr unter vier Augen zu sprechen. Die Seherin ist unter Gehorsam nach Fatima beordert worden.
In seiner Ansprache bezieht sich der Papst in keiner Weise auf die Botschaft von Fatima, sondern macht Propaganda für seine humanistischen Ideale und für das Konzil („Menschen, seid Menschen!“).
Man kann sich vorstellen, wie sich ein Prophet fühlen muß, dessen Botschaft vom Adressaten, für den diese bestimmt war, abgeschmettert wird. Als literarisches Beispiel dafür sei die Darstellung des Propheten Jeremia durch Franz Werfel genannt. Dieser fühlt sich in Höret die Stimme mit großer Empathie in das stundenlange dumpfe Brüten des Propheten ein, nachdem der König Zidkija sich definitiv geweigert hat, die allerletzte Chance auf die Rettung Jerusalems anzunehmen und der rettenden Anweisung Gottes zu gehorchen (vgl. Jer 38,17).
Auf den in Büchern und im Internet publizierten Photos anläßlich des Papstbesuches 1967 ist Sr. Lucia aber bester Laune (vgl. auch die Illustration zum 2. Teil dieser Serie). Sie scheint sich mit Papst Paul VI. sehr wohl zu fühlen.
Eines dieser Photos würde ich ob der gleichsam konspirativen Mimik geradezu als verstörend bezeichnen. Diese Frau hat als Kind die Hölle gesehen und weltumstürzende Botschaften erhalten, fühlt sich aber augenscheinlich in der Gegenwart desjenigen Papstes in bester Stimmung, der die Annahme ihrer Botschaft bzw. der Botschaft des Himmels, sogar ein Gespräch verweigert!?
Er, der noch dazu quasi ein Prophet des „Dialogs“ ist (Enzyklika Ecclesiam suam, 1964), will nicht mit ihr reden?
Immer vorausgesetzt, die Photos sind nicht irgendwie gefälscht: Sie machen angesichts der Berichte tatsächlich wenig Sinn. Selbst wenn man in Rechnung stellen muß, daß ein Papst natürlich ex officio Respektsbezeugung verlangt, sind die Bilder ob ihrer ausgestrahlten Harmonie verwirrend.
Sodann lassen auch die Bilder von Sr. Lucia mit Papst Johannes Paul II. einige Jahre später nicht erkennen, daß auch dieser Papst nicht das vollständig umsetzte, was die Muttergottes von Fatima gefordert hatte. Ein Ereignis wie das interreligiöse Treffen von Assisi, Begegnungen mit Götzenpriestern und der Korankuß kann im Gegenteil „oben“ keine Freude ausgelöst haben.
Sr. Lucia scheint sich aber sehr harmonisch mit dem Papst zu benehmen. Ein allfälliger Dissens, der sich aus den kirchenpolitischen und doktrinären Entscheidungen des Papstes einerseits und dem Auftrag von Fatima andererseits ergibt, ist auf diesen Bildern nicht erkennbar.
Das päpstliche Amt ließ natürlich für eine kontemplative Ordensfrau kaum einen öffentlich ausgetragenen Dissens zu, wie schon bei Paul VI. Dazu kam sicher der persönliche Charme des Papstes bzw. dessen schauspielerisch geübte Suggestivkraft. Wenn es wahr ist, daß Sr. Lucia weder Paul VI. noch Johannes Paul II. in Fatima hatte treffen wollen, sondern unter Gehorsam dorthin beordert worden war, dann ist damit ein Dissens mit dem Papst ohnehin deutlich ausgedrückt.
Trotzdem bleibt ein merkwürdiges Gefühl angesichts der Pressephotos.
Schließlich hat Sr. Lucia durch Gestik und Mimik der Interpretation des „Dritten Geheimnisses“ durch Kardinal Sodano bei der Seligsprechungsmesse für Jacinta und Francisco am 13. Mai 2000 offenkundig zugestimmt. Diese Interpretation, nämlich, daß der ermordete Papst das Attentat auf Johannes Paul II. vom 13. Mai 1981 darstelle, ist völlig unglaubhaft, wie von manchen Autoren schon ausführlich dargelegt worden ist.
Sie hat dazu geführt, Fatima zu neutralisieren und irrelevant zu machen.
Ihr wurde auch implizit durch Papst Benedikt XVI. 2010 in Fatima widersprochen (wobei weitere Konsequenzen aber ausblieben).
Mark Fellows erwähnt diese verwirrende Reaktion der Seherin angesichts von Kardinal Sodano: „Tatsächlich, [Sr. Lucias] Überschwenglichkeit in Fatima 2000 war beinahe beunruhigend. Freilich, die Ursache ihres Strahlens und ihre neue Liebenswürdigkeit gegenüber Johannes Paul war ihre Freude über der Seligsprechung ihrer beiden Cousins. Sie blieb aber auch angesichts von Kardinal Sodanos Version des Dritten Geheimnisses überschwenglich, was bis zu weitausladenden, linkischen Gesten gegenüber der Menge ging“ (Fatima in Twilight, 327, eigene Übersetzung).
Er fügt an: „Es ist schwierig, das zu interpretieren und die Dinge werden nur noch verwirrender werden, wenn Lucia ihren ewigen Lohn empfängt, denn nach ihrem Tod werden sich die gefälschten Stellungnahmen und Interviews gleichsam als eine dämonische Karikatur der wundersamen Vermehrung der Brote und Fische vervielfachen.“
Leider geht er nicht weiter darauf ein, was die Gründe dieses erratischen Verhaltens hätten sein können.
Merkwürdige Ineffizienz von Sr. Lucia angesichts der Wichtigkeit ihrer Botschaft
Und noch etwas: Die Botschaft von Fatima ist auch in ihren bekannten und unbestrittenen Teilen erschütternd. Was davon aber bis jetzt publiziert ist, sind einige Büchlein in einem wenig bedeutenden portugiesischen Verlag, nämlich vom Heiligtum in Fatima, und hat außerhalb eines kleinen Kreises von Katholiken keine Reichweite.
Also, wenn das wirklich wichtig wäre, müßte es doch Enzykliken, Exhortationen und Ansprachen en masse geben! Die offiziellen Kirchenverlage müßten den Markt förmlich fluten. Bischöfliche Amtsblätter, Kirchenzeitungen und Radio Vatikan müßten dieses Thema exzessiv behandeln. Der Papst müßte quasi täglich darüber predigen.
Aber nichts dergleichen.
Was einen im Rückblick auf die letzten Jahrzehnte besonders wundert:
Die Seherin müßte ja eigentlich zeitlebens von Pilgern, Gläubigen und Suchenden, Neugierigen und Reportern, Kirchenführern und nicht-katholischen Amtsträgern aller Konfessionen Tag und Nacht belagert worden sein.
Es macht aber nicht den Anschein, als wäre das der Fall gewesen. Karmelitische Klausur hin oder her – auch ein Karmel hat Sprechstunden, in denen Besucher vorsprechen können.
Sollte der Glaubenssinn des gläubigen Volkes und das menschliche Gespür der Nicht-Glaubenden instinktiv gemerkt haben, daß es sich hier um gar keinen besonderen Boten des Himmels gehandelt hätte? Dem hl. Niklaus von der Flüe und Pater Pio und vielen anderen hatte man ja auch die Türe eingerannt. Hier aber soll es nicht interessant gewesen sein?
Ist es aber nicht so, daß eine Botschaft normalerweise dann noch große Kraft entfaltet, solange der Botschafter am Leben ist? Darum wurde ja P. Pio weggesperrt, weil man im Vatikan seine Wirksamkeit sehr genau erkannte.
Der in Kürze folgende 2. Abschnitt des 3. Teils ist einem Resümee gewidmet.
*MMag. Wolfram Schrems, Linz und Wien, katholischer Theologe und Philosoph, kirchlich gesendeter Katechist
Bild: Sed confidite/Wikicommons/Salve Maria/Papalepapale/Conocereis de Verdad/wheatandweeds
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↑1 | Jörg Ernesti, Paul VI. – Der vergessene Papst, Herder, Freiburg 2012: „In Fátima traf Paul VI. ebenfalls mit Schwester Lucia dos Santos (1907 – 2005) zusammen, die 1917 als kleines Mädchen Visionen der Gottesmutter gehabt hatte, in denen es um Hölle, Christenverfolgung und das Schicksal des Papstes ging. Zwei der Voraussagen wurden mit dem Zweiten Weltkrieg als erfüllt angesehen. Die dritte Voraussage war in der von der Schwester aufgezeichneten Form Johannes XXIII. vorgelegt worden, der ihr keine weitere Beachtung geschenkt hatte. Paul VI. ließ sich den Text vor seiner Reise erneut zeigen [Fußnote 183]. Ansonsten war er in Worten und Gesten sichtlich bemüht, den Eindruck des Mirakulösen und Esoterischen [sic!] zu vermeiden. Von daher ist es wohl auch zu verstehen, dass er ein Zusammentreffen mit Schwester Lucia unter vier Augen ablehnte. Selbst als diese während des Gottesdienstes Anstalten machte, dem Papst etwas persönlich mitzuteilen [korr.], wies er sie freundlich aber bestimmt zurück“ (191, Hervorhebung WS). Die Unterschrift zum Photo lautet: „Paul VI. in Fátima – neben ihm Schwester Lucia dos Santos, die ‚Seherin‘ von Fátima (13. Mai 1967)“ Man beachte die Anführungszeichen für Seherin. Professor Ernesti glaubt offenbar auch nicht so ganz daran. Auch die disqualifizierenden Ausdrücke „mirakulös“ und „esoterisch“ sind in diesem Zusammenhang deplaziert. Zur Zurückweisung von Sr. Lucia durch Paul VI. vgl. auch Mark Fellows Fatima in Twilight: „[Nach der hl. Messe] überreichte die Seherin dem Papst ein handgefertigtes Geschenk. Sie kniete vor ihm und wiederholte immer wieder: ‚Ich wünsche mit Ihnen alleine zu sprechen.‘ Papst Paul antwortete: ‚Sie sehen, es ist nicht die Zeit dafür‘, und fügte an: ‚Wenn Sie mir etwas mitzuteilen wünschen, sagen Sie es Ihrem Bischof…‘ Die Menschenmenge geriet in Spannung, als sie den Papst und Sr. Lucia zusammen sah und begann zu skandieren: ‚Lucia, Lucia…‘ Lucia wurde zum Podium geführt. Sie blickte in die Menge und begann zu weinen“ (191, eigene Übersetzung |
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