
Gestern veröffentlichte Papst Leo XIV. mit Dilexi te („Ich habe dir meine Liebe zugewandt“) das erste Apostolische Schreiben seines Pontifikats. Es handelt sich um die Fortsetzung der Enzyklika Dilexit nos von Papst Franziskus vom Oktober 2024. Das Dokument handelt „über die Armen“ und stammt im Kern noch von Leos Vorgänger. Luke Coppen hat für die US-Zeitschrift The Pillar eine Zusammenfassung „für vielbeschäftigte Leser“ verfaßt. Vorauszuschicken ist die Feststellung, daß es auf der Welt Armut gibt, der sich Christen zuzuwenden haben. Es ist als Information auch anzumerken, daß wir heute die geringste Armut seit der Vertreibung aus dem Paradies haben. In den vergangenen 50 Jahren konnten enorme Schritte unternommen werden, die Armut zu reduzieren, Hungersnöte zu minimieren und die Lebensstandards zu heben. Eine fundierte Analyse wird von berufener Seite folgen. Soviel kann aber schon gesagt werden: Das Dokument enthält auffällig viele Hinweise auf Papst Franziskus und zwinkert, wie zuvor schon der argentinische Papst, ebenso auffällig der politischen Linken zu.
Hier die deutsche Übersetzung der Zusammenfassung von The Pillar.
Was ist der Ursprung des neuen Dokuments, das der „Liebe zu den Armen“ gewidmet ist? Und was steht darin?
Von Luke Coppen
Was ist der Hintergrund?
Dilexit nos, die vierte und letzte Enzyklika von Papst Franziskus, war dem „göttlichen und menschlichen Herzen Jesu Christi“ gewidmet. Der weithin gelobte Text bildete eine Art christologische Abrundung zur Umweltenzyklika Laudato si’ von 2015 und zur Enzyklika Fratelli tutti von 2020 über die menschliche Brüderlichkeit. Dilexit nos zeichnete die Geschichte der Herz-Jesu-Verehrung nach und schlug sie den Christen des 21. Jahrhunderts neu vor.
Noch vor seinem Tod am 21. April 2025 begann Papst Franziskus mit den Vorbereitungen für ein weiteres Dokument, das diesmal der Liebe zu den Armen gewidmet sein sollte.
Der erste Hinweis darauf, dass sein Nachfolger, Papst Leo XIV., das Projekt wieder aufgenommen und beschlossen hatte, es als Apostolisches Schreiben zu veröffentlichen, kam am 10. September, als Reuters berichtete, der aus den USA stammende Papst sei bereit, ein „hochrangiges Dokument“ zu veröffentlichen, das „die Kontinuität mit seinem Vorgänger Papst Franziskus markieren“ und „sich auf die Bedürfnisse der Armen weltweit konzentrieren“ werde.
Enzykliken gelten als höchste Form der päpstlichen Lehrverkündigung, während Apostolische Schreiben gemeinhin als zweithöchste angesehen werden. Päpste veröffentlichen sie häufig im Anschluß an die Synodenversammlungen der Bischöfe – ein ständiges Gremium, das von Papst Paul VI. im Jahr 1965 eingerichtet wurde. Papst Franziskus etwa hatte 2013 seine Grundsatzschrift Evangelii gaudium ebenfalls als apostolisches Schreiben veröffentlicht.
Am 1. Oktober veröffentlichte die italienische Website Silere Non Possum weitere Details zum ersten bedeutenden Dokument von Papst Leo.
Dort hieß es: „Die Arbeit an diesem Text hatte bereits während des Pontifikats von Franziskus begonnen, als Erzbischof Vincenzo Paglia [damals Präsident der Päpstlichen Akademie für das Leben] längere Passagen aus einem seiner Bücher fast unverändert einfügte.“
„Nach dem Tod seines Vorgängers entschied sich Leo XIV. dennoch für die Veröffentlichung, da er das Thema für äußerst dringlich hielt. Er bat jedoch das Dikasterium für die Glaubenslehre und das Staatssekretariat um eine gründliche Überarbeitung des Textes.“
Dilexi te ist nicht das erste päpstliche Dokument, das als „vierhändiges Werk“ entstand – also das Ergebnis einer Zusammenarbeit zweier Päpste. Auch die erste Enzyklika von Papst Franziskus, Lumen fidei, basierte auf einem Entwurf seines Vorgängers Benedikt XVI.
Am 4. Oktober, dem Fest des heiligen Franz von Assisi, gab der Vatikan bekannt, dass Papst Leo das Dokument unterzeichnet habe – in Anwesenheit von Erzbischof Edgar Peña Parra, dem Substituten des Staatssekretariats für Allgemeine Angelegenheiten. Der vatikanische Beobachter Rocco Palmo bemerkte, dass Leo XIV. bei der Unterzeichnung eine rote Mozzetta und eine Stola trug – ein ungewöhnlich formeller Ornat für die Unterzeichnung seines ersten bedeutenden Schreibens.
Ein Video von der Unterzeichnung zeigte die letzten Zeilen sowie das Inhaltsverzeichnis der italienischen Ausgabe.
Veröffentlicht wurde Dilexi te am Gedenktag des heiligen John Henry Newman, den Papst Leo am 1. November zum Kirchenlehrer erklären wird. Newman selbst wird im Schreiben zwar nicht zitiert, zeigte jedoch in Birmingham, England, nach der Industriellen Revolution große Hingabe für die Armen.
Das Schreiben umfasst 121 nummerierte Absätze und ist in fünf Kapitel gegliedert. Mit rund 20.000 Wörtern ist es deutlich kürzer als Papst Franziskus’ Evangelii gaudium, das etwa 50.000 Wörter umfasst. Ein durchschnittlicher Leser dürfte für Dilexi te etwa eineinhalb Stunden benötigen.
In einer kurzen Einleitung reflektiert Papst Leo über den Titel des Schreibens, „Ich habe dir meine Liebe zugewandt“, und verweist darauf, dass das Zitat aus der Offenbarung des Johannes (Offb 3,9) eine Liebeserklärung des Herrn an die bedrängte frühchristliche Gemeinde darstellt. Zugleich, so der Papst, „spiegelt der Satz das unausschöpfliche Geheimnis wider, über das Papst Franziskus in der Enzyklika Dilexit nos über die göttliche und menschliche Liebe des Herzens Jesu Christi meditiert hat“.
Mit dem Hinweis, dass dieses neue Schreiben seinen Ursprung bei Franziskus hatte, schreibt Leo XIV.:
„Ich freue mich, mir dieses Dokument zu eigen zu machen – einige Gedanken hinzuzufügen – und es zu Beginn meines Pontifikats zu veröffentlichen, denn ich teile den Wunsch meines geliebten Vorgängers, dass alle Christen die enge Verbindung zwischen der Liebe Christi und seinem Aufruf zur Sorge um die Armen erkennen.“
1) Einige grundlegende Worte
Im ersten Kapitel des Schreibens betont Papst Leo, dass die Liebe zu Gott untrennbar mit der Liebe zu den Armen verbunden ist:
„Ich bin überzeugt, dass die vorrangige Option für die Armen eine Quelle außergewöhnlicher Erneuerung sowohl für die Kirche als auch für die Gesellschaft ist“, schreibt er, „wenn wir es nur schaffen, uns von unserem Egozentrismus zu befreien und unser Ohr ihrem Schrei zu öffnen.“
Er warnt Katholiken davor, sich im Dienst an den Armen in Selbstzufriedenheit zu wiegen. Er erinnert an den Tod des zweijährigen syrischen Jungen Alan Kurdi, der 2015 tot und mit dem Gesicht im Sand an einem türkischen Strand fotografiert wurde. Das Bild „erregte großes Aufsehen“, schreibt er, aber ähnliche Vorfälle würden heute zunehmend als Randnotizen wahrgenommen.
Der Papst warnt davor, die Fortschritte im Kampf gegen die globale Armut zu überschätzen. Häufig, so sagt er, würden Armut mit Maßstäben der Vergangenheit gemessen, „die nicht mehr den heutigen Realitäten entsprechen“.
Er beklagt, dass sogar manche Christen „Werke der Barmherzigkeit verachten oder belächeln, als wären sie eine fixe Idee einiger weniger und nicht das brennende Herz der kirchlichen Sendung“. Umso dringlicher sei es, das Evangelium neu zu lesen und dessen Betonung auf die Sorge für die Armen zu verinnerlichen.
2) Gott wählt die Armen
Im zweiten Kapitel beschreibt Papst Leo, wie die Kirche zu der Einsicht gelangte, dass Gott eine „vorrangige Option“ für die Armen hat – ein Begriff, der seinen Ursprung in Lateinamerika hat. Dieser Begriff, so stellt er klar, „impliziert keine Ausschließlichkeit oder Diskriminierung gegenüber anderen Gruppen“, sondern betone Gottes Mitgefühl mit den Bedürftigen. Anschließend geht er der Liebe Gottes zu den Armen in der Hebräischen Bibel und im Neuen Testament nach.
3) Eine Kirche für die Armen
Leo XIV. erinnert daran, dass Papst Franziskus kurz nach seiner Wahl den Wunsch nach einer „armen Kirche für die Armen“ geäußert hatte. Er reflektiert, wie die Kirche in den vergangenen 2000 Jahren den Armen gedient hat, unter anderem durch die Gestalt des Diakons Laurentius und die Kirchenväter wie Augustinus von Hippo – Letzterer inspirierte die Gründung des Augustinerordens, dem auch Papst Leo angehört.
Er würdigt, wie Katholiken im Laufe der Geschichte die Bedürfnisse der Armen erfüllten – durch Krankenpflege, klösterliches Engagement, Gefangene besuchen, Bildung und Begleitung von Migranten. Besonders hebt er Frauen hervor, die sich in jüngerer Vergangenheit in außergewöhnlicher Weise für die Armen eingesetzt haben: Mutter Teresa von Kalkutta, die Brasilianerin Dulce dos Pobres und die Ägypterin Schwester Emmanuelle.
Er würdigt außerdem die Volksbewegungen – von Laien geführte Basisinitiativen, vor allem in Lateinamerika.
4) Eine Geschichte, die weitergeht
Papst Leo zeichnet die Entstehung und Entwicklung der katholischen Soziallehre nach und beschreibt das kirchliche Lehramt der vergangenen 150 Jahre als „einen wahren Schatz bedeutender Lehren über die Armen“. Besonders hervor hebt er die Enzyklika Rerum novarum von Papst Leo XIII. (1891) sowie Mater et magistra von Johannes XXIII. (1961).
Er zitiert die Beiträge seiner unmittelbaren Vorgänger, darunter Benedikt XVI. mit dessen „ausgesprochen politischer“ Enzyklika Caritas in veritate (2009). Franziskus wiederum habe das lateinamerikanische Denken über das Verhältnis der Kirche zu den Armen in das Lehramt eingeführt.
Als ehemaliger Missionar in Peru bekennt Leo XIV., er sei diesem kirchlichen Weg des Unterscheidens „sehr dankbar“. Besonders betont er zwei Elemente des lateinamerikanischen Beitrags: die Erkenntnis von „Strukturen der Sünde“ – tief verwurzelten Ungerechtigkeiten – und die Notwendigkeit, die Armen als handelnde Subjekte zu sehen, nicht bloß als Empfänger von Wohltätigkeit.
Im Hinblick auf diese „Strukturen der Sünde“ erinnert Leo an den prägnanten Ausdruck von Franziskus: die „Diktatur einer Wirtschaft, die tötet“.
„Es fehlt nicht an Theorien, die den gegenwärtigen Zustand rechtfertigen oder erklären wollen, dass wirtschaftliches Denken uns zwingt zu warten, bis unsichtbare Marktkräfte alles lösen“, schreibt er.
„Doch die Würde jedes Menschen muss heute gewahrt werden, nicht morgen. Die extreme Armut derer, denen diese Würde verweigert wird, sollte unsere Gewissen unablässig belasten.“
Er fordert die Katholiken auf, strukturelle Ungerechtigkeiten unermüdlich anzuprangern – „auch auf die Gefahr hin, als naiv oder töricht zu gelten“.
Etwas überraschend verweist er in diesem Zusammenhang auf die vatikanische Kritik an der Befreiungstheologie von 1984, die „anfangs nicht überall auf Zustimmung stieß“. Diese stelle klar, dass Verteidiger der Glaubenslehre ihren Glauben aktiv durch den Dienst an den Armen beweisen müssten.
5) Eine dauerhafte Herausforderung
Papst Leo betont, dass die Sorge um die Armen eine grundlegende Aufgabe für jeden Katholiken ist.
„Die Kirche steht von Natur aus auf der Seite der Armen, der Ausgegrenzten, der Übersehenen – all jener, die von der Gesellschaft als wertlos betrachtet werden“, schreibt er. Zugleich beklagt er, dass „manchmal christliche Gruppen oder Bewegungen entstanden sind, die kaum oder gar kein Interesse am Gemeinwohl und insbesondere an den Schwächsten der Gesellschaft zeigen“.
Am Ende des Schreibens hebt er die Bedeutung des Almosengebens hervor – eine Praxis, die er als „selten ausgeübt“, „verachtet“ und „selbst unter Gläubigen oft ungern gesehen“ beschreibt.
Zwar sei die beste Hilfe für Bedürftige, ihnen zu einem guten Arbeitsplatz zu verhelfen. Wenn das nicht möglich sei, sei Almosengeben notwendig. Es enthebe die staatlichen Autoritäten nicht ihrer Verantwortung, „aber es gibt uns zumindest die Möglichkeit, vor den Armen stehen zu bleiben, ihnen in die Augen zu schauen, sie zu berühren und mit ihnen etwas von uns selbst zu teilen“.
Papst Leo schließt mit den Worten:
„Eine Kirche, die keine Grenzen für die Liebe kennt, die keine Feinde zu bekämpfen, sondern nur Menschen zu lieben hat – das ist die Kirche, die die Welt heute braucht.“
Gibt es Überraschungen in den Fußnoten?
Dilexi te ist ein sehr zitatenreiches Dokument – es enthält 130 Fußnoten. Am häufigsten zitiert wird – wenig überraschend – Papst Franziskus, mit dem dieses Schreiben als „vierhändiges Werk“ entstand. Franziskus hinterließ nach seinem zwölfjährigen Pontifikat eine beachtliche Sammlung von Texten.
Sein am häufigsten genanntes Werk ist Evangelii gaudium mit 12 Verweisen, gefolgt von der Enzyklika Fratelli tutti und dem apostolischen Schreiben Gaudete et exsultate über die Berufung zur Heiligkeit (2018) mit je vier Zitaten.
Papst Leo zitiert auch das Buch On Heaven and Earth (2010), ein Gespräch zwischen dem damaligen Erzbischof Bergoglio und seinem Freund, dem Rabbiner Abraham Skorka.
Am überraschendsten ist vielleicht der Verweis auf ein Dokument der Europäischen Gemeinschaft (Vorläufer der EU) aus dem Jahr 1984 über den Kampf gegen die Armut.
Wer sich fragt, wie viel von Erzbischof Vincenzo Paglias Handschrift im Endtext geblieben ist, findet einen Hinweis in einer Fußnote, die auf dessen Buch Storia della povertà (2014) verweist.
Die Fußnote ist gewissermaßen eine päpstliche Leseempfehlung. Sie erklärt, dass das dritte Kapitel von Dilexi te Beispiele für das Engagement der Kirche zugunsten der Armen liefert:
„Dies geschieht nicht erschöpfend, sondern um zu zeigen, dass die Sorge um die Armen stets das Wirken der Kirche in der Welt geprägt hat“, heißt es.
„Eine vertiefende Reflexion über die Aufmerksamkeit gegenüber den Bedürftigsten findet sich im folgenden Buch: V. Paglia, Storia della povertà, Mailand 2014.“
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: VaticanNews (Screenshot)
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