Von Roberto de Mattei*
Über die Gottesmutter zu sprechen, ist niemals eine Wiederholung. Das geistige Nachdenken über ihre Erhabenheit ist für den menschlichen Verstand unerschöpflich, denn sie ist, obwohl ein Geschöpf, ein vollkommener Widerschein der unermeßlichen Größe Gottes.
Die Wahrheit ihrer Unbefleckten Empfängnis wurde am 8. Dezember 1854 durch die Bulle Ineffabilis Deus von dem seligen Papst Pius IX. als unfehlbares Dogma der Kirche verkündet. Darin definiert der Papst, daß die Jungfrau Maria vom ersten Augenblick ihres Daseins an vor der Erbsünde bewahrt worden ist. Die Grundlage dieses marianischen Vorzuges liegt in der absoluten Gegensätzlichkeit, ja unendlichen Unvereinbarkeit zwischen Gott und der Sünde. Dem Menschen, der in Sünde empfangen wurde, steht Maria gegenüber, die ohne jeden Schatten der Sünde empfangen wurde – lauter Reinheit und ohne Makel. Und da die Sünde eine Unordnung von Intellekt und Wille ist, ist es Maria als der Unbefleckten vorbehalten, jedes Übel, jeden Irrtum und jede Häresie zu überwinden, die in der Welt als Folge der Sünde entstehen und sich ausbreiten.
Als Maria von den heiligen Joachim und Anna empfangen wurde, regierte der römische Kaiser Augustus, und Palästina stand unter der Herrschaft von König Herodes dem Großen. Doch die Menschheit war im Zustand der Sünde versunken – beginnend beim jüdischen Volk selbst. Die Geburt Mariens erhellte die Geschichte und wurde zur Voraussetzung für die Geburt der christlichen Zivilisation. Durch Maria kam der Erlöser der Menschheit in die Welt; und aus seinem am Kalvarienberg vergossenen Blut entstand – auf den Trümmern des Römischen Reiches – die Heilige Römische Kirche, Mutter der großen mittelalterlichen christlichen Kultur.
Als Pius IX. im Jahr 1845 den päpstlichen Thron bestieg, erreichte eine jahrhundertealte Revolution ihren Höhepunkt – eine Revolution, die die Zerstörung der christlichen Sozialordnung zum Ziel hatte. Einer ihrer ideologischen Grundpfeiler war die Leugnung der Erbsünde. Das naturalistische und rationalistische Denken des Liberalismus und Sozialismus behauptete nämlich, die Größe und der Fortschritt des Menschen seien das höchste Ziel der Geschichte; der moderne Mensch habe mündig und selbstgenügsam zu werden, indem er sich von der bisherigen „Bevormundung“ durch die Kirche befreie.
Der große spanische Denker Juan Donoso Cortés, den Pius IX. – wie viele andere Persönlichkeiten – zur Frage der Definition des Dogmas der Erbsünde konsultiert hatte, antwortete ihm mit folgenden Worten:
„Die Leugnung der Erbsünde ist eines der grundlegenden Dogmen der Revolution.
Zu unterstellen, der Mensch sei nicht in die Erbsünde gefallen, bedeutet zu leugnen – und man leugnet es –, daß der Mensch erlöst worden sei.
Zu unterstellen, der Mensch sei nicht erlöst worden, bedeutet zu leugnen – und man leugnet es –, das Geheimnis der Erlösung und der Inkarnation, das Dogma der hypostatischen Persönlichkeit des Wortes und das Wort selbst.
Die natürliche Integrität des menschlichen Willens anzunehmen und zugleich kein anderes Übel und keine andere Sünde als das philosophische Übel und die philosophische Sünde anzuerkennen, bedeutet zu leugnen – und man leugnet es –, das heiligmachende Wirken Gottes am Menschen, und damit das Dogma der Persönlichkeit des Heiligen Geistes.
Aus all diesen Verneinungen ergibt sich die Verneinung des erhabenen Dogmas der Allerheiligsten Dreifaltigkeit, Eckstein unseres Glaubens und Fundament aller katholischen Dogmen.“
(Brief an Kardinal Fornari, 19. Juni 1852)
Fünfzig Jahre später, im Rückblick auf den „Tag unvergleichlicher Freude“, an dem Pius IX. Ineffabilis Deus verkündet hatte, stellte Papst Pius X. in seiner großartigen Enzyklika Ad diem illum laetissimum vom 2. Februar 1904 das Dogma der Unbefleckten Empfängnis erneut als ein außergewöhnliches Gegenmittel gegen die „Flut von Irrtümern“ der „Glaubensfeinde“ heraus. Er schrieb:
„Sie leugnen, daß der Mensch schuldig geworden und daher aus seinem ursprünglichen Stand adeliger Würde herabgesunken sei. Sie verweisen die Erbsünde und ihre Folgen ins Reich der Fabeln: die Verderbnis des Ursprungs des Menschengeschlechts, den Untergang des gesamten Menschengeschlechts, die unter die Sterblichen eingeführten Übel und die Notwendigkeit eines Erlösers.
Wenn man dies zugibt, versteht jedermann leicht, daß kein Platz mehr bleibt für Christus, für die Kirche, für die Gnade oder für irgendeine Ordnung, die die Natur übersteigt; kurz: das ganze Gebäude des Glaubens wird an seiner Grundlage untergraben. (…)
Mögen die Völker hingegen glauben und offen bekennen, daß die Jungfrau Maria vom ersten Augenblick ihrer Empfängnis an frei von jedem Makel war; damit ist notwendig auch die Erbsünde anzuerkennen, die Erlösung des Menschen durch Christus, das Evangelium, die Kirche und sogar das Gesetz des Leidens. Mit alldem wird alles, was nach ‚Rationalismus‘ und ‚Materialismus‘ schmeckt, ausgerissen und zerstört, und die christliche Lehre bewahrt und verteidigt die Wahrheit.“
Weiter schreibt Pius X.:
„Alle Glaubensgegner, besonders in unserer Zeit, weisen, um den Glauben leichter aus den Herzen zu reißen, jede Unterordnung und jeden Gehorsam gegenüber der Autorität der Kirche – ja jeder menschlichen Autorität – zurück und verkünden, man müsse diese zurückweisen. Daraus entsteht die ‚Anarchie‘, der nichts entgegengesetzter und verhängnisvoller ist – weder für die natürliche noch die übernatürliche Ordnung.
Auch dieses Unheil, gleichermaßen verderblich für die bürgerliche wie für die christliche Gesellschaft, findet seine Heilung im Dogma der Unbefleckten Empfängnis der Gottesmutter. Denn dieses zwingt uns, in der Kirche eine Macht anzuerkennen, der man nicht nur den Willen, sondern auch den Intellekt unterwerfen muß. Eben wegen dieser Unterwerfung des Intellekts singt das christliche Volk der Jungfrau entgegen: ‚Ganz schön bist du, Maria, und kein Makel der Erbsünde haftet dir an.‘ Und es wird sich weiterhin zeigen, daß die Kirche mit Recht der heiligen Jungfrau den Ruhm zuschreibt, sie allein habe alle Häresien in der ganzen Welt überwunden.“
(Ad diem illum laetissimum, 2. Februar 1904)
Die Gottesmutter ist somit – wie sie im großartigen Panorama der Ineffabilis Deus erscheint – die „glorreiche Bezwingerin der Häresien“, von der alle Päpste sprechen haben. In der Gegenüberstellung zwischen der „ganz schönen und unbefleckten“ Jungfrau und der „grausamsten Schlange“ zeigt sich der grundlegende Antagonismus zwischen der Kirche und jener Revolution der Neuzeit, deren aktivste und tiefste Keime in der Unordnung der Leidenschaften und des Intellekts liegen – Ursprünge jedes Irrtums und jeder Häresie und Frucht der Sünde des gefallenen Menschen.
Vor diesem Hintergrund vollzieht sich der Kampf zwischen der Kirche und der Revolution – ein Kampf, der heute heftiger lodert als je zuvor und den man geradezu einen Kampf auf Leben und Tod nennen könnte, wenn nicht einer der beiden Gegner unsterblich wäre.
*Roberto de Mattei, Historiker, Vater von fünf Kindern, Professor für Neuere Geschichte und Geschichte des Christentums an der Europäischen Universität Rom, Vorsitzender der Stiftung Lepanto, Autor zahlreicher Bücher, zuletzt in deutscher Übersetzung: Verteidigung der Tradition: Die unüberwindbare Wahrheit Christi, mit einem Vorwort von Martin Mosebach, Altötting 2017, und Das Zweite Vatikanische Konzil. Eine bislang ungeschriebene Geschichte, 2. erw. Ausgabe, Bobingen 2011.
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Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: MiL

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