Die katholische Kirche in Nigeria steht angesichts zunehmender Gewalt und Christenverfolgung vor einer dramatischen Bewährungsprobe. Das gilt aber nicht nur für die Kirche, sondern für Nigeria selbst. Zwei hochrangige nigerianische Bischöfe haben in den vergangenen Tagen eindringliche Appelle an die nationale und internationale Gemeinschaft gerichtet, die Lage der Gläubigen nicht länger zu ignoriren.
„Vom glücklichsten zum traurigesten Volk der Erde“
Erzbischof Ignatius Ayau Kaigama von Abuja hielt am 23. November 2025, dem Fest Christkönig (Novus Ordo), in der Pfarrei St. Lukas in Kubwa eine Predigt von seltener Schärfe. Msgr. Kaigama erinnerte bitter an die Zeiten, in denen Nigeria für seine Bewohner als „das glücklichste Land der Erde“ galt, und stellte ernüchtert fest, daß die heutigen Nigerianer Gefahr laufen, „das traurigste Volk der Welt“ zu werden.
Als Wendepunkt nannte der Erzbischof das Jahr 2014, als 276 Schülerinnen in Chibok von der islamistischen Terrororganisation Boko Haram entführt wurden, ein Ereignis, das eine Spirale aus Unsicherheit, Mißwirtschaft und Korruption ausgelöst habe. „Wir scheinen so traumatisiert von der Art, wie wir behandelt werden, daß wir kaum unbequeme Fragen stellen“, so Msgr. Kaigama, der die verbreitete Angst beklagte, Kriminalität und Terrorismus offen zu verurteilen – aus Furcht vor Vergeltung durch Unterstützer, darunter Politiker, Religionsführer und radikalisierte Jugendliche.
Trotz der tief verwurzelten Religiosität Nigerias sprach der Erzbischof von einer „schizophrenen Frömmigkeit“: Gläubige verharren in den Gotteshäusern in Andacht und Applaus, handeln aber „als ob Gott im Alltag, bei der Arbeit oder in der Familie nicht existierte“. Für viele sei Gott nur noch ein „Polizist“, den man in Krisenzeiten rufe.
Kaigama zog ein vernichtendes Fazit aus 65 Jahren nigerianischer Unabhängigkeit: Stammesdenken und religiöser Sektierertum vergiften Politik und Ressourcenverteilung; es entstehen „heilige Kühe“, die aufgrund von Ethnie oder Glauben unantastbar sind; die Justiz trifft nur die Schwachen, während Mächtige ungeschoren bleiben. Selbst Antikorruptionsbehörden seien in die Netzwerke verstrickt, die sie bekämpfen sollten, während die Hauptprofiteure der Ausbeutung Nigerias belohnt würden. In seinem Appell forderte der Erzbischof: nationale Selbstprüfung und eine „soziale Dialyse“ zur Reinigung des Landes. „Führung bedeutet nicht, über dem Gesetz zu stehen“, mahnte Msgr. Kaigama und forderte die Nigerianer auf, die Korrupten ohne Angst zu identifizieren und Gerechtigkeit für alle zu verlangen.
Bischof Wilfred Anagbe fordert US-Militärintervention
Nur wenige Tage nach Kaigamas Predigt richtete Bischof Wilfred Anagbe von Makurdi, Bundesstaat Benue, einen dramatischen Appell an den Kongreß der USA. Während einer Anhörung vor dem Unterausschuß für Auswärtige Angelegenheiten in Washington erklärte Msgr. Anagbe am 20. November, daß „ohne eine rasche Intervention das Christentum in Teilen Nord- und Mittel-Nigerias in sehr kurzer Zeit verschwinden könnte“, Über Zoom betonte er, daß die Einstufung Nigerias als Land von besonderer Sorge „immense Freude, Hoffnung und geistige Stärke“ in bedrängten Gemeinden ausgelöst habe, die Kirche jedoch die Verfolgung nicht allein stoppen könne.
Er forderte eine „koordinierte politische, militärische und humanitäre Intervention“ und wandte sich eindringlich an die Kongreßmitglieder:
„Das Blut der nigerianischen Christen schreit zu Ihnen. Wir können nicht länger warten.“
Die Anhörung fand wenige Tage nach einem erneuten Massaker statt: In der katholischen Schule Saint Mary im Bundesstaat Niger wurden 303 Schüler und 12 Lehrer von Islamisten entführt. 50 Schüler konnten entkommen und in ihre Familien zurückkehren. Augenzeugen berichteten, daß die Kinder „zu Fuß wie Schafe getrieben“ wurden, von den Entführern getreten und bedroht. Die Eltern kritisieren die geringe Reaktion der Regierung, fühlen sich „nicht als Teil des Landes“ und „alleingelassen“.
Skepsis gegenüber ausländischen Militärinterventionen
Obgleich die Bitten der Bischöfe verständlich sind, wirft die Forderung nach einer US-Militärintervention Fragen auf. Nigeria ist ein Land, dessen Grenzen von den Kolonialmächten – Briten und Franzosen – willkürlich gezogen wurden. Die religiösen und ethnischen Spannungen im Norden sind tief verwurzelt. Eine ausländische Militäraktion könnte die Lage weiter destabilisirren und das Land in eine neue Gewaltspirale stürzen. Vor allem stellt sich die Frage, mit welchem Ziel genau für die Zeit danach sollte die Militärintervention erfolgen.
Ein wesentlich tragfähigerer Ansatz scheint die sogenannte „Sudan-Lösung“: die Teilung Nigerias in einen islamischen Norden und einen christlichen Süden. Nur so könnten die beiden großen Bevölkerungsgruppen unabhängig leben, ohne einen ständigen Konflikt und ohne eine militärische Intervention einer ausländischen Macht. Die internationale Staatengemeinschaft könnte sich aber für alternative Lösungen zwischen dem blinden Festhalten am Status quo und einem Krieg einsetzen.
Die Predigten und Appelle der Bischöfe erinnern daran, daß Nigeria dringend eine politische, aber auch geistliche Erneuerung benötigt. Eine echte Umkehr auf allen Ebenen – persönlich, gesellschaftlich und politisch – könnte dem Land die verlorene „Freude“ zurückgeben, von der Erzbischof Kaigama sprach.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Youtube (Screenshot)

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