Dilexi te – die erste Ermahnung von Leo XIV.

Die christliche Antwort auf die Armut


Dilexi te, die erste apostolische Exhortatio von Papst Leo XIV., behandelt das Thema Armut und die christliche Antwort darauf
Dilexi te, die erste apostolische Exhortatio von Papst Leo XIV., behandelt das Thema Armut und die christliche Antwort darauf

Von Rober­to de Mattei*

Anzei­ge

Die erste apo­sto­li­sche Ermah­nung von Papst Leo XIV. mit dem Titel Dil­e­xi te („Ich habe dich geliebt“), die am 4. Okto­ber 2025 unter­zeich­net und am 9. Okto­ber ver­öf­fent­licht wur­de, ver­dient unse­re Auf­merk­sam­keit weit mehr als so man­ches Inter­view des Pap­stes, dem mit­un­ter über­mä­ßi­ge media­le Bedeu­tung bei­gemes­sen wird. Es han­delt sich hier nicht um ein paar bei­läu­fi­ge Wor­te, son­dern um ein umfang­rei­ches Doku­ment mit 121 Abschnit­ten, geglie­dert in fünf Kapi­tel und eine Ein­lei­tung. Wie bereits ange­merkt wur­de, ist dies kei­ne Sozi­al­enzy­kli­ka, son­dern eine apo­sto­li­sche Ermah­nung. Wäh­rend eine Enzy­kli­ka lehr­amt­li­chen Cha­rak­ter hat, han­delt es sich bei einer Ermah­nung um ein pasto­ra­les Doku­ment, das kei­ne Prin­zi­pi­en defi­niert, son­dern zu einem bestimm­ten Ver­hal­ten aufruft.

Papst Leo stellt klar, daß Dil­e­xi te aus einem von Papst Fran­zis­kus begon­ne­nen Pro­jekt her­vor­geht, das er über­nom­men und mit eige­nen Über­le­gun­gen erwei­tert hat. Zwar ist das The­ma der Armut deut­lich „berg­o­glia­nisch“, doch der Ansatz ist ein ande­rer. Papst Fran­zis­kus dräng­te eher zu poli­ti­schem und sozia­lem Enga­ge­ment, wäh­rend Leo XIV. den Schwer­punkt auf mora­li­sches und kari­ta­ti­ves Han­deln legt. Fran­zis­kus maß sozia­len Bewe­gun­gen eine zen­tra­le Rol­le bei der Ver­wirk­li­chung sozia­ler Gerech­tig­keit bei; Leo hin­ge­gen erwähnt sie nur bei­läu­fig und in unter­ge­ord­ne­ter Wei­se. Zwi­schen den bei­den Polen der Gerech­tig­keit und der Näch­sten­lie­be, um die sich die Debat­ten zur sozia­len Fra­ge im letz­ten Jahr­hun­dert dreh­ten, gibt Leo der Näch­sten­lie­be den Vorrang.

Ein kla­rer Hin­weis auf die­se theo­lo­gisch-geist­li­che Fun­die­rung der Näch­sten­lie­be fin­det sich in Abschnitt 47, wo Papst Leo auf den hei­li­gen Augu­sti­nus ver­weist: „In einer Kir­che, die in den Armen das Ant­litz Chri­sti erkennt und im Besitz das Werk­zeug der Näch­sten­lie­be sieht, bleibt das Den­ken des Augu­sti­nus ein siche­res Licht.“

Der Aus­druck „bevor­zug­te Opti­on Got­tes für die Armen“ bedeu­te, so der Papst wei­ter, „nie einen Aus­schluß oder eine Dis­kri­mi­nie­rung gegen­über ande­ren Grup­pen – das wäre in Gott unmög­lich“ (Abschnitt 16). Armut ist für ihn kei­ne sozia­le, erst recht kei­ne revo­lu­tio­nä­re Kate­go­rie, son­dern die mensch­li­che Lebens­la­ge des­sen, der schwach, ver­letz­lich, aus­ge­grenzt oder ver­folgt ist.

„Im ver­letz­ten Gesicht der Armen erken­nen wir das Leid der Unschul­di­gen – und damit auch das Lei­den Chri­sti selbst. Gleich­zei­tig soll­ten wir viel­leicht rich­ti­ger von den vie­len Gesich­tern der Armen und der Armut spre­chen, denn es han­delt sich um ein viel­ge­stal­ti­ges Phä­no­men: Es gibt die Armut derer, die kei­ne mate­ri­el­len Mit­tel zum Leben haben; die Armut der sozi­al Aus­ge­grenz­ten, die kei­ne Mög­lich­keit haben, ihre Wür­de und Fähig­kei­ten zum Aus­druck zu brin­gen; die mora­li­sche und spi­ri­tu­el­le Armut; die kul­tu­rel­le Armut; die Armut derer, die sich in einem Zustand per­sön­li­cher oder sozia­ler Schwä­che befin­den; die Armut der Recht­lo­sen, derer ohne Raum und Frei­heit“ (Abschnitt 9).

Die zahl­rei­chen Bei­spie­le, die der Papst anführt, zei­gen die Wei­te der Kate­go­rie „Arme“, auf die er sich bezieht: Sie umfaßt nicht nur Kran­ke, Lei­den­de und Ver­folg­te, son­dern auch all jene, die Wor­te der Wahr­heit und Bil­dung benötigen.

„Zwi­schen dem Ende des 12. und dem Beginn des 13. Jahr­hun­derts, als vie­le Chri­sten im Mit­tel­meer­raum gefan­gen­ge­nom­men oder im Krieg ver­sklavt wur­den, ent­stan­den zwei Ordens­ge­mein­schaf­ten: Der Orden der aller­hei­lig­sten Drei­fal­tig­keit und des Los­kaufs der Gefan­ge­nen (Tri­ni­ta­ri­er), gegrün­det von Johan­nes von Matha und Felix von Valo­is, sowie der Orden Unse­rer Lie­ben Frau von der Barm­her­zig­keit zum Los­kauf der Gefan­ge­nen (Mer­ce­da­ri­er), gegrün­det von Petrus Nolas­co mit Unter­stüt­zung des hei­li­gen Rai­mund von Peñaf­ort, eines Domi­ni­ka­ners. Die­se Gemein­schaf­ten von Gott­ge­weih­ten ent­stan­den mit dem beson­de­ren Cha­ris­ma, Chri­sten aus der Skla­ve­rei zu befrei­en – oft unter Ein­satz ihrer eige­nen Güter oder sogar ihres Lebens.“ (Abschnitt 60)

„Im 16. Jahr­hun­dert grün­de­te der hei­li­ge Johan­nes von Gott den nach ihm benann­ten Hos­pi­tal­or­den und schuf damit bei­spiel­haf­te Kran­ken­häu­ser, die alle Men­schen auf­nah­men – unge­ach­tet ihrer sozia­len oder wirt­schaft­li­chen Lage. Sein berühm­ter Aus­spruch „Tut Gutes, mei­ne Brü­der!“ wur­de zum Mot­to täti­ger Näch­sten­lie­be gegen­über den Kran­ken. Zeit­gleich grün­de­te der hei­li­ge Kamil­lus von Lel­lis den Orden der Kamil­lia­ner (‚Die­ner der Kran­ken‘) und mach­te es sich zur Lebens­auf­ga­be, den Kran­ken mit voll­kom­me­ner Hin­ga­be zu die­nen.“ (Abschnitt 50)

Der Papst erin­nert auch an die Töch­ter der Näch­sten­lie­be des hei­li­gen Vin­zenz von Paul, die Barm­her­zi­gen Schwe­stern, die Klei­nen Schwe­stern der Gött­li­chen Vor­se­hung und vie­le ande­re weib­li­che Ordens­ge­mein­schaf­ten, die „zu einer stil­len, müt­ter­li­chen Prä­senz in Kran­ken­häu­sern, Pfle­ge­hei­men und Alten­hei­men gewor­den sind“ (Abschnitt 51).

Im 19. Jahr­hun­dert grün­de­te der hei­li­ge Mar­cel­lin Cham­pa­gnat das Insti­tut der Mari­sten­brü­der, das sich „den geist­li­chen und erzie­he­ri­schen Bedürf­nis­sen der Zeit wid­me­te – ins­be­son­de­re der reli­giö­sen Unwis­sen­heit und dem Ver­las­sen­heits­ge­fühl vie­ler Jugend­li­cher“. „Im sel­ben Geist begann der hei­li­ge Johan­nes Bos­co in Ita­li­en das gro­ße Werk der Sale­sia­ner, das auf den drei Grund­sät­zen der ‚vor­beu­gen­den Metho­de‘ basier­te: Ver­nunft, Reli­gi­on und Lie­be“ (Abschnitt 70). „Im 19. Jahr­hun­dert, als Mil­lio­nen Euro­pä­er aus­wan­der­ten, um bes­se­re Lebens­be­din­gun­gen zu fin­den, zeich­ne­ten sich zwei gro­ße Hei­li­ge durch ihre seel­sorg­li­che Sor­ge um Migran­ten aus: der hei­li­ge Johan­nes Bap­tist Sca­la­b­ri­ni und die hei­li­ge Fran­zis­ka Cab­ri­ni“ (Abschnitt 74).

Papst Leo emp­fiehlt schließ­lich die Wer­ke der Barm­her­zig­keit (Abschnitt 27) – und ganz beson­ders ein heu­te weit­ge­hend ver­ges­se­ner christ­li­cher Brauch: das Almo­sen­ge­ben. Er schreibt:

„Lie­be und inne­re Über­zeu­gun­gen müs­sen genährt wer­den – und das geschieht durch Taten.“
„In jedem Fall stif­tet das Almo­sen, auch wenn es klein ist, pie­tas in eine Gesell­schaft, in der sich vie­le nur um das eige­ne Wohl küm­mern. Im Buch der Sprich­wör­ter heißt es: ‚Wer frei­ge­big ist, wird geseg­net wer­den, denn er gibt dem Armen von sei­nem Brot‘ (Spr 22,9)“ (Abschnitt 116).

Die Ermah­nung Dil­e­xi te von Papst Leo XIV bekräf­tigt somit die Leh­re der Kir­che über die Näch­sten­lie­be gegen­über dem Näch­sten. „Die Sor­ge um die Armen“, so der Papst, „ist Teil der gro­ßen Tra­di­ti­on der Kir­che – wie ein Leucht­turm, der seit dem Evan­ge­li­um die Her­zen und Wege der Chri­sten aller Zei­ten erhellt“ (Abschnitt 103).

„Jene christ­li­che Näch­sten­lie­be“, so kön­nen wir abschlie­ßend mit den Wor­ten sei­nes gro­ßen Vor­gän­gers Leo XIII. sagen, „die das gan­ze Evan­ge­li­um in sich zusam­men­faßt und stets bereit ist, sich für den Näch­sten zu opfern, ist das sicher­ste Gegen­mit­tel gegen den Stolz und den Ego­is­mus unse­rer Zeit.“ (Rer­um Novarum, Nr. 45)

*Rober­to de Mat­tei, Histo­ri­ker, Vater von fünf Kin­dern, Pro­fes­sor für Neue­re Geschich­te und Geschich­te des Chri­sten­tums an der Euro­päi­schen Uni­ver­si­tät Rom, Vor­sit­zen­der der Stif­tung Lepan­to, Autor zahl­rei­cher Bücher, zuletzt in deut­scher Über­set­zung: Ver­tei­di­gung der Tra­di­ti­on: Die unüber­wind­ba­re Wahr­heit Chri­sti, mit einem Vor­wort von Mar­tin Mose­bach, Alt­öt­ting 2017, und Das Zwei­te Vati­ka­ni­sche Kon­zil. Eine bis­lang unge­schrie­be­ne Geschich­te, 2. erw. Aus­ga­be, Bobin­gen 2011.
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Über­set­zung: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: Cor­ri­spon­den­za Romana

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