Schwarze Legende zum 20. Juli 1933 (I)

Interessierte Kreise versuchen seit Jahrzehnten der Kirche eine Mitschuld am NS-Regime in die Schuhe zu schieben


1933 unterzeichnete Kardinalstaatssekretär Pacelli, der spätere Papst Pius XII., das Konkordat mit dem Deutschen Reich. Rechts im Bild Kardinal Faulhaber. Das sind die drei Elemente der instrumentalisierten Kritik von linker Seite gegen die Kirche, die man in den NS-Topf eintunken will.
1933 unterzeichnete Kardinalstaatssekretär Pacelli, der spätere Papst Pius XII., das Konkordat mit dem Deutschen Reich. Rechts im Bild Kardinal Faulhaber. Das sind die drei Elemente der instrumentalisierten Kritik von linker Seite gegen die Kirche, die man in den NS-Topf eintunken will.

Eine Bei­trags-Serie von Hubert Hecker

Anzei­ge

Nach klas­si­schem anti­ka­tho­li­schem Res­sen­ti­ment wer­den der Kir­che drei histo­ri­sche Ver­ge­hen im Mit­tel­al­ter vor­ge­wor­fen unter den Stich­wor­ten: Kreuz­zü­ge, Inqui­si­ti­on und Hexen­ver­fol­gung. Doch die­se „Unta­ten“ ver­blas­sen ange­sichts der Groß­ver­bre­chen der neue­sten Zeit wie der geno­zi­da­len Men­schen­tö­tun­gen im Rah­men von impe­ria­li­sti­schen Kolo­ni­al­krie­gen, der syste­mi­schen Mas­sen­mor­de kom­mu­ni­sti­scher Regime sowie der Kriegs- und Holo­caust­ver­bre­chen der Nazis. Obwohl dafür allein säku­la­re Mäch­te und Ideo­lo­gien ver­ant­wort­lich waren, ver­su­chen links­li­be­ra­le Kräf­te aller Cou­leur, der Kir­che eine Mit­schuld ins­be­son­de­re am NS-Regime und sei­nen Mas­sen­mor­den an Juden in die Schu­he zu schie­ben. In Deutsch­land lau­ten die ent­spre­chen­den Ankla­ge-Stich­wor­te: das Kon­kor­dat (als Aner­ken­nung des ras­si­sti­schen Hit­ler-Regimes), Kar­di­nal Faul­ha­ber (als „Schutz­pa­tron Hit­lers“) und Papst Pius XII. (als „Hit­lers Papst“, ein „Ver­bre­cher“ wegen sei­nes angeb­li­chen „Schwei­gens“ zum Holo­caust). In der fol­gen­den Serie wer­den die­se drei Ankla­ge-Kom­ple­xe erörtert.

I.

Ruf­schä­di­gen­de Falsch­be­haup­tun­gen über Per­so­nen oder Insti­tu­tio­nen, die über lan­ge Zeit­räu­me ver­brei­tet und geglaubt wer­den, nennt man schwar­ze Legen­den. Mit einer sol­chen ver­fe­stig­ten Ver­leum­dung wird ab den 1960er Jah­ren das Kon­kor­dat ange­schwärzt, das am 20. Juli 1933 zwi­schen dem Deut­schen Reich und dem Vati­kan in der Per­son von Staats­se­kre­tär Euge­nio Pacel­li unter­zeich­net wurde.

Man behaup­tet: Mit dem Kon­kor­dats­ab­schluss hät­ten sich Papst und Kir­che der Ideo­lo­gie des Natio­nal­so­zia­lis­mus ange­bie­dert, dem NS-Unrechts­staat Aner­ken­nung ver­schafft und der Hit­ler-Regie­rung zu inter­na­tio­na­lem Pre­sti­ge verholfen.

Selbst das halb­staat­li­che Online-Muse­um LEMO, betreut vom Deut­schen histo­ri­schen Muse­um Ber­lin, dem Haus der Geschich­te in Bonn sowie vom Bun­des­ar­chiv, ver­brei­tet die­se schwar­ze Legende:

Für die dama­li­ge Reichs­re­gie­rung sei der Kon­kor­dats­ver­trag ent­schei­dend gewe­sen, um „die inter­na­tio­na­le Iso­lie­rung Deutsch­lands nach der Macht­über­nah­me zu durch­bre­chen. Als inter­na­tio­na­les Abkom­men hät­te „das Kon­kor­dat zur Repu­ta­ti­on des NS-Regimes im Aus­land bei­getra­gen“ und wäre damit „ein wich­ti­ger erster Erfolg der natio­nal­so­zia­li­sti­schen Außen­po­li­tik“ gewe­sen. Vie­le ande­re Tex­te spre­chen eben­falls vom diplo­ma­tisch „iso­lier­ten Deutsch­land“ und vom Kon­kor­dat als „erstem völ­ker­recht­li­chem Ver­trag“ Hit­lers (CICERO).

II.

Aber so war es nicht. Die außen­po­li­ti­sche Wirk­lich­keit sah anders aus. Von der behaup­te­ten inter­na­tio­na­len Iso­lie­rung Deutsch­lands kei­ne Spur – im Gegenteil:

• Im ersten Kabi­nett der Hit­ler-Regie­rung signa­li­sier­te der par­tei­lo­se Außen­mi­ni­ster Kon­stan­tin von Neu­r­a­th, schon seit Juni 1932 im Amt, die bruch­lo­se Fort­set­zung der Außen­po­li­tik sei­ner Vor­vor­gän­ger Stre­se­mann und Brüning.

• Bei der Gen­fer Abrü­stungs­kon­fe­renz des Völ­ker­bun­des wur­de das Deut­sche Reich aus­drück­lich als „gleich­be­rech­tig­ter“ Ver­hand­lungs­part­ner akzeptiert.

• In der Regie­rungs­er­klä­rung vom 17.5.1933 ver­sprach Kanz­ler Hit­ler: Wir wer­den „die natio­na­len Rech­te der ande­ren Völ­ker respek­tie­ren und möch­ten mit ihnen in Frie­den und Freund­schaft leben“. In die­sem Sin­ne begrüß­te die deut­sche Regie­rung die damals lau­fen­den Ver­hand­lun­gen zum „Gro­ßen Frie­dens­plan“ des ita­lie­ni­schen Staatschefs.

• Am 15. Juli 1933 unter­zeich­ne­ten die bei­den west­li­chen Groß­mäch­te Eng­land und Frank­reich sowie Ita­li­en und Deutsch­land den „Vie­rer­pakt über Ver­stän­di­gung und Zusam­men­ar­beit“ in Euro­pa mit der Ver­pflich­tung, im Gei­ste des Völ­ker­bun­des und des Bri­and-Kellog-Pak­tes alle völ­ker­recht­li­chen Fra­gen gemein­sam zu bera­ten und den Frie­den zu wahren.

• Zwi­schen dem 30. Janu­ar und dem Kon­kor­dats­ab­schluss am 20. Juli 1933 konn­te das Deut­sche Reich drei wei­te­re mul­ti­la­te­ra­le Staats­ver­trä­ge abschlie­ßen sowie 40 (!) bila­te­ra­le völ­ker­recht­li­che Ver­trä­ge mit 21 Staa­ten und einem zio­ni­sti­schen Unter­neh­men in Palä­sti­na (Prof. Kon­rad Reb­gen, FAZ am 4.3.2003).

III.

Die genann­ten histo­ri­schen Fak­ten sind den Direk­to­ren der oben erwähn­ten staat­li­chen Insti­tu­tio­nen sowie den bera­ten­den Geschichts­wis­sen­schaft­lern alle­samt bekannt, aber sie las­sen sie unter den Tisch fal­len. Warum?

Durch das Ver­schwei­gen der 44 zwi­schen­staat­li­chen Ver­trä­ge der dama­li­gen Reichs­re­gie­rung im ersten Halb­jahr 1933 soll die gegen­tei­li­ge The­se lan­ciert wer­den, dass die Hit­ler­re­gie­rung inter­na­tio­nal iso­liert gewe­sen wäre.

Die­se Falsch­be­haup­tung ist wie­der­um Vor­aus­set­zung für die fina­le The­se, der Vati­kan sei mit dem Kon­kor­dats­ab­schluss Tür­öff­ner für Hit­ler­deutsch­lands „Auf­nah­me in die Staa­ten­ge­mein­schaft“ (Dani­el Deckers) gewesen.

Der Drei­schritt von Ver­schwei­gen, Falsch­be­haup­tun­gen sowie feh­ler­haf­ter Fol­ge-Inter­pre­ta­ti­on läuft auf eine Geschichts­fäl­schung inter­es­sier­ter Krei­se hin­aus mit dem Ziel, Kir­che und päpst­li­che Kir­chen­füh­rung in ein nega­ti­ves Licht zu stel­len oder sie gar der Nazi-Affi­ni­tät zu bezichtigen.

IV.

Die Ziel­the­se ent­hält dar­über hin­aus die unzu­tref­fen­de Unter­stel­lung, als wenn sich die ande­ren euro­päi­schen Staa­ten in ihrer Außen­po­li­tik gegen­über Deutsch­land am Vati­kan und spe­zi­ell an dem Kon­kor­dats­ver­trag ori­en­tiert hätten.

• In Wirk­lich­keit war der Inhalt des Kon­kor­dats­ver­trags, etwa die För­de­rung kon­fes­sio­nel­ler Schu­le oder das Ver­bot par­tei­po­li­ti­scher Betä­ti­gung von Geist­li­chen und kirch­li­chen Ver­ei­nen, für die mei­sten euro­päi­schen Staa­ten irrele­vant oder wur­de für ihre Län­der abgelehnt.

• Bei ihrer außen­po­li­ti­schen Rich­tung ver­lie­ßen sich die dama­li­gen euro­päi­schen Staa­ten auf eige­ne Ein­schät­zun­gen, auch beein­flusst durch innen- und natio­nal­po­li­ti­sche Inter­es­sen­kon­stel­la­tio­nen – etwa der lin­ken Volks­front­re­gie­run­gen in Frank­reich und Spa­ni­en, des rechts­li­be­ra­len Kabi­netts in Groß Bri­tan­ni­en, der pro­te­stan­ti­schen Staa­ten in Skan­di­na­vi­en oder der natio­nal-auto­ri­tä­ren Regimes auf dem Balkan.

V.

Als Stütz-Argu­ment für die inter­na­tio­na­le Bedeu­tung des Kon­kor­dats wird auch die „mora­li­sche Auto­ri­tät“ des Vati­kans ins Spiel gebracht. Zwar hat­te die Behaup­tung vom Papst­tum als „höch­ster sitt­li­cher Macht auf Erden“ und des­sen Ein­fluss auf die staat­li­chen „Ober­häup­ter“ damals auch der Mün­che­ner Kar­di­nal Faul­ha­ber auf­ge­stellt. Aber die The­se von der mora­li­schen Ober­ho­heit des Pap­stes gegen­über welt­li­chen Herr­schern war in Wirk­lich­keit schon seit Beginn der Neu­zeit obso­let gewor­den. Gleich­wohl wur­de und wird im Dis­kurs zur vati­ka­ni­schen Diplo­ma­tie bis heu­te die For­mel der ‚mora­li­schen Auto­ri­tät‘ von Papst und Kir­che immer wie­der in Stel­lung gebracht – in die­sem Fall im Duk­tus der Anklage:

Statt sein hohes mora­li­sches Anse­hen inter­na­tio­nal dafür ein­zu­set­zen, den tota­li­tä­ren und anti­se­mi­ti­schen Ansatz der Hit­ler­re­gie­rung zu brand­mar­ken, hät­te der Papst mit dem deutsch-vati­ka­ni­schen Kon­kor­dats­ver­trag ein inter­na­tio­na­les Signal von ver­harm­lo­sen­der Aner­ken­nung der NS-ras­si­sti­schen Staats­füh­rung gesetzt, dem die ande­ren Staa­ten anschlie­ßend gefolgt seien.

Real­po­li­tisch war es aber ziem­lich unwahr­schein­lich, dass etwa Eng­land und Frank­reich ihre außen­po­li­ti­schen Bezie­hun­gen zu Deutsch­land vom mora­li­schen Sta­tus des Klein­staa­tes Vati­kan und des­sen kir­chen­po­li­ti­schen Ver­trä­gen abhän­gig gemacht hätten.

Tat­säch­lich ver­han­del­ten die bei­den füh­ren­den euro­päi­schen West­mäch­te schon seit April 1933 aus eige­nem Antrieb mit Hit­ler­deutsch­land. Im Ergeb­nis akzep­tier­ten sie durch den soge­nann­ten „Vie­rer­pakt“ (sie­he oben) eine Woche vor dem Kon­kor­dats­ab­schluss Hit­ler­deutsch­land als Bündnispartner.

Ins­be­son­de­re Eng­land ver­folg­te von Anfang an eine Poli­tik des Appease­ments. Die bri­ti­sche Regie­rung unter­stütz­te sogar Hit­lers Revi­si­ons- und Auf­rü­stungs­po­li­tik mit dem Flot­ten­ver­trag von 1935. Der ehe­ma­li­ge Pre­mier­mi­ni­ster Lloyd Geor­ge erklär­te 1936 Hit­ler zum her­aus­ra­gen­den deut­schen Lea­der als „Geor­ge Washing­ton of Ger­ma­ny“. Noch im Mai 1938, als der NS-Anti­se­mi­tis­mus unüber­seh­bar war, zeig­te die eng­li­sche Fuß­ball­na­tio­nal­mann­schaft vor dem Län­der­spiel in Ham­burg beim Abspie­len des Deutsch­land­lieds geschlos­sen den Hit­ler­gruß. Auch Poli­ti­ker aus Frank­reich waren beein­druckt von Hit­lers Auf­bau­lei­stung für Deutsch­land, ohne die tota­li­tä­re Unter­drückung und den NS-Anti­se­mi­tis­mus zu verurteilen.

Der Vati­kan dage­gen hat­te schon 1934 eine wis­sen­schaft­li­che Kom­mis­si­on ein­ge­setzt, die zu „Ras­sis­mus, Faschis­mus, Tota­li­ta­ris­mus und Bol­sche­wis­mus“ eine fun­dier­te Reso­lu­ti­on aus­ar­bei­te­te. Die Ergeb­nis­se gin­gen in drei vati­ka­ni­sche Ver­laut­ba­run­gen in den fol­gen­den Jah­ren ein.

VI.

Als Resü­mee ist festzuhalten:

Deut­sche Histo­ri­ker ver­brei­ten wider bes­se­res Wis­sen eine Schwar­ze Legen­de zula­sten der Kir­che. Sie unter­stel­len fälsch­lich eine Iso­lie­rung Deutsch­lands, die durch den Kon­kor­dats­ver­trag auf­ge­bro­chen wor­den wäre. Damit hät­te der Vati­kan ent­schei­dend zur inter­na­tio­na­len Auf­wer­tung des NS-Unrechts­staats beigetragen.

Alle Punk­te und Unter­stel­lun­gen die­ser Argu­men­ta­ti­ons­li­nie sind unzu­tref­fend. Im Gegen­teil: Die Staa­ten Euro­pas und aus aller Welt arbei­te­ten in Ver­hand­lun­gen und Ver­trä­gen wie vor­her mit der legal instal­lier­ten Hit­ler-Regie­rung ab Febru­ar 1933 eng zusam­men. Die West­mäch­te Eng­land und Frank­reich unter­zeich­ne­te sogar vor dem Kon­kor­dats­ab­schluss einen Bünd­nis-Pakt mit Deutsch­land. Ins­be­son­de­re Eng­land unter­stütz­te Hit­lers Revisionspolitik.

Unter Annah­me der The­se, dass bi- und mul­ti­la­te­ra­le Ver­hand­lun­gen und Abkom­men zum Pre­sti­ge­ge­winn der Hit­ler-Regie­rung bei­getra­gen hät­ten, wären es vor­ran­gig vie­le aus­län­di­sche Ver­trags­part­ner und ins­be­son­de­re die euro­päi­schen West­mäch­te gewe­sen, die seit Anfang 1933 zur inter­na­tio­na­len Aner­ken­nung und Auf­wer­tung von Hit­ler-Deutsch­land bei­getra­gen hätten.

Wenn aber ein sol­cher Pre­sti­ge­zu­wachs nach­träg­lich dem Agie­ren des Vati­kans zuge­scho­ben wird, betrei­ben die Ver­tre­ter die­ses Nar­ra­tivs ein Sün­den­bock­ver­fah­ren, indem die pri­mä­re För­de­rung des Hit­ler-Staa­tes durch ande­re Mäch­te dem dama­li­gen Papst Pius XI. und sei­nem Staats­se­kre­tär Euge­nio Pacel­li auf­ge­bür­det wird.

Bild: Wikicommons/​MiL

Anzei­ge

Hel­fen Sie mit! Sichern Sie die Exi­stenz einer unab­hän­gi­gen, kri­ti­schen katho­li­schen Stim­me, der kei­ne Gel­der aus den Töp­fen der Kir­chen­steu­er-Mil­li­ar­den, irgend­wel­cher Orga­ni­sa­tio­nen, Stif­tun­gen oder von Mil­li­ar­dä­ren zuflie­ßen. Die ein­zi­ge Unter­stüt­zung ist Ihre Spen­de. Des­halb ist die­se Stim­me wirk­lich unabhängig.

Katho­li­sches war die erste katho­li­sche Publi­ka­ti­on, die das Pon­ti­fi­kat von Papst Fran­zis­kus kri­tisch beleuch­te­te, als ande­re noch mit Schön­re­den die Qua­dra­tur des Krei­ses versuchten.

Die­se Posi­ti­on haben wir uns weder aus­ge­sucht noch sie gewollt, son­dern im Dienst der Kir­che und des Glau­bens als not­wen­dig und fol­ge­rich­tig erkannt. Damit haben wir die Bericht­erstat­tung verändert.

Das ist müh­sam, es ver­langt eini­ges ab, aber es ist mit Ihrer Hil­fe möglich.

Unter­stüt­zen Sie uns bit­te. Hel­fen Sie uns bitte.

Vergelt’s Gott!