Die Krise der liberalen Demokratie und das Königtum Christi

Wie sollen sich die Katholiken in diesem historischen Moment verhalten?


Christus König als Antwort auf die Krise des westlichen Modells der liberalen Demokratie und die damit verbundenen Aufgaben für die Katholiken.
Christus König als Antwort auf die Krise des westlichen Modells der liberalen Demokratie und die damit verbundenen Aufgaben für die Katholiken.

Das Modell der west­li­chen libe­ra­len Demo­kra­tie befin­det sich in der Kri­se. Neue Model­le auf reli­gi­ös-iden­ti­tä­rer Grund­la­ge zeich­nen sich ab, nicht nur in der isla­mi­schen Welt und in Indi­en, son­dern auch in Ruß­land und in den USA. Die neue Aus­ga­be der haus­ei­ge­nen Zeit­schrift des Inter­na­tio­nal Obser­va­to­ry Car­di­nal Van Thu­an for the Social Doc­tri­ne of the Church ist dem hun­dert­jäh­ri­gen Jubi­lä­um der Enzy­kli­ka Quas pri­mas von Pius XI. gewid­met. Don Samue­le Cecot­ti skiz­ziert dar­in die genann­te Kri­se, die neu­en Model­le und die Chan­cen, die sich dar­aus für die Katho­li­ken erge­ben, aber auch die Pflich­ten und Auf­ga­ben, die damit ver­bun­den sind. Er ver­weist dabei auf die zen­tra­le Bedeu­tung des „sozia­len König­tums Chri­sti“ und wie Katho­li­ken die­sem Teil des Depo­si­tum fidei gera­de im aktu­el­len histo­ri­schen Moment gerecht wer­den können.

Das soziale Königtum Christi: Wie soll sich ein Katholik heute verhalten?

Anzei­ge

Von Don Samue­le Cecotti*

Die Leh­re vom sozia­len König­tum unse­res Herrn Jesus Chri­stus, wie es uns über die Tra­di­ti­on und das Lehr­amt ver­mit­telt wor­den ist, gehört voll­um­fäng­lich zum Depo­si­tum fidei. Infol­ge­des­sen kann sie nicht etwa wegen man­geln­der Moder­ni­tät ver­wor­fen wer­den. Wie jede Glau­bens­leh­re bean­sprucht auch die­se für sich Unver­än­der­lich­keit und Dauerhaftigkeit.

Damit wäre bereits eine ent­schei­den­de Fra­ge geklärt: Katho­li­ken müs­sen an die­ser Leh­re fest­hal­ten und kon­se­quent nach ihr han­deln. Doch die­se grund­sätz­li­che Gül­tig­keit ist nur der Aus­gangs­punkt. Aus ihr – aus der Gewiß­heit dog­ma­ti­scher Wahr­heit – ergibt sich der not­wen­di­ge histo­risch-kul­tu­rel­le und situa­ti­ons­be­zo­ge­ne Umgang heu­ti­ger Gläubiger.

Ohne siche­ren Rück­griff auf eine vom Zeit­geist unab­hän­gi­ge Dok­trin – unver­än­der­lich, weil Aus­druck ewi­ger Wahr­heit – wür­de jede Debat­te in Sozio­lo­gie abglei­ten und im histo­ri­sti­schen Rela­ti­vis­mus enden, der dem Wahr­heits­an­spruch der Katho­li­zi­tät widerspricht.

Die Lehre vom sozialen Königtum Christi ist gewiß – doch …

  • Doch selbst vie­le Hir­ten unter­las­sen heu­te deren Ver­mitt­lung, abge­se­hen von weni­gen Aus­nah­men. Auch die von Papst Paul VI. refor­mier­te römi­sche Lit­ur­gie legt den Schwer­punkt auf kos­misch-escha­to­lo­gi­sche Aspek­te und nicht mehr auf ein sozia­les und poli­ti­sches König­tum Chri­sti. Die Vor­stel­lung eines Königs der Völ­ker, eines zeit­li­chen Herrn aller Gemein­schaf­ten der Men­schen, König der Köni­ge und Herr der Her­ren, ist nahe­zu voll­stän­dig aus der katho­li­schen Ver­kün­di­gung verschwunden;
  • und die Mehr­heit der Gläu­bi­gen – Lai­en wie Kle­ri­ker – hat längst das Para­dig­ma des säku­la­ren Staa­tes über­nom­men. Kaum jemand denkt heu­te mehr an eine Res publi­ca, die der welt­li­chen Herr­schaft von Chri­stus König unter­stellt ist. Das katho­li­sche Enga­ge­ment in der Poli­tik seit über einem Jahr­hun­dert – etwa der Christ­lich-Sozia­len und der Christ­de­mo­kra­ten – ori­en­tier­te sich am lai­zi­sti­schen Staat;
  • die Säku­la­ri­sie­rung hat, beson­ders in Euro­pa, selbst die letz­ten Reste eines poli­ti­schen Katho­li­zis­mus hin­weg­ge­fegt. Das sozia­le König­tum Chri­sti erscheint dem moder­nen Euro­pä­er eben­so unver­ständ­lich wie ein gene­rel­ler katho­li­scher Zugang zur Politik;
  • in ehe­mals katho­li­schen Län­dern erken­nen sich Katho­li­ken immer weni­ger als sol­che. Sie sind in Glau­bens­fra­gen immer ver­wirr­ter und daher inzwi­schen poli­tisch weit­ge­hend irrelevant.

Und man könn­te lan­ge fort­fah­ren mit wei­te­ren Anmer­kun­gen zur gegen­wär­ti­gen Lage des Katho­li­zis­mus und der ehe­mals christ­li­chen Gesell­schaf­ten – alle­samt lei­der nega­tiv in bezug auf die Mög­lich­keit, das öffent­li­che Bekennt­nis zu Chri­stus, dem König, erfolg­reich zu erneu­ern. Schon das allein genügt, um die Fra­ge, wie der Katho­lik heu­te im Hin­blick auf die Leh­re vom sozia­len König­tum Chri­sti han­deln soll, nicht als belang­los, son­dern viel­mehr als not­wen­dig erschei­nen zu lassen.

Erstes Prinzip: Die Unveränderlichkeit der Lehre

Der erste Punkt, der mit aller Klar­heit fest­zu­hal­ten ist, und zugleich der erste Irr­tum, der ent­schie­den zurück­zu­wei­sen ist, bezieht sich auf das oben Gesag­te über die Unver­än­der­lich­keit der Leh­re: Nie­mals ist es erlaubt, den Zeit­geist, die herr­schen­de Pra­xis, die vor­herr­schen­den Ideo­lo­gien oder den ver­meint­li­chen Gang der Geschich­te zum Maß­stab zu neh­men, um eine Glau­bens­leh­re zu beur­tei­len – geschwei­ge denn, sie des­halb für obso­let zu erklä­ren. Der Geist der Welt war nie und kann nie­mals Maß­stab für die katho­li­sche Wahr­heit sein.

Daher recht­fer­ti­gen weder die fest­stell­ba­re Säku­la­ri­sie­rung der ehe­mals christ­li­chen Gesell­schaf­ten, noch das Sich-Durch­set­zen des lai­zi­sti­schen Staats­mo­dells – selbst in den Köp­fen vie­ler Katho­li­ken –, noch die nach­kon­zi­lia­re Kri­se in der Kir­che mit­samt der dar­aus resul­tie­ren­den Des­ori­en­tie­rung der Gläu­bi­gen, in irgend­ei­ner Wei­se den Schluß, man sol­le heu­te von der Ver­kün­di­gung der Leh­re von dem sozia­len König­tum Chri­sti Abstand nehmen.

Die Leh­re ist der Maß­stab zur Beur­tei­lung von Pra­xis und Zeit­läuf­ten – nicht umgekehrt.

Zweites Prinzip: Wissen und Zeugnis

1. Pflicht zur genau­en Kenntnis

Katho­li­ken sind ver­pflich­tet, die Leh­re von dem sozia­len König­tum Chri­sti gründ­lich zu stu­die­ren – ins­be­son­de­re im Lehr­amt der Päp­ste Leo XIII., Pius X. und Pius XI. – und dar­aus die jahr­tau­sen­de­al­te poli­ti­sche Leh­re der Kir­che zu betrach­ten, deren Herz­stück Chri­stus König ist. Es besteht also ein vor­ran­gi­ges Gebot zur lehr­mä­ßi­gen Bil­dung, nicht zuletzt auch, weil die­ses Wis­sen vor Irr­tü­mern schützt wie dem libe­ra­len oder demo­kra­ti­schen Katho­li­zis­mus, die dem poli­ti­schen Katho­li­zis­mus schwe­ren Scha­den zuge­fügt haben.

2. Pflicht zum apo­sto­li­schen Einsatz

Auf die­ser Grund­la­ge sind alle Getauf­ten beru­fen zu apo­sto­li­schem Han­deln – jeder nach sei­nem Stand und sei­ner Lebens­si­tua­ti­on. Jeder Katho­lik soll mutig die Leh­re vom sozia­len König­tum Chri­sti ver­mit­teln und so apo­sto­lisch wir­ken. Unser Obser­va­to­ry lei­stet sei­nen Dienst als intel­lek­tu­el­les Apo­sto­lat, indem es das sozia­le König­tum Chri­sti als Fun­da­ment und Höhe­punkt der gesam­ten Sozi­al­leh­re der Kir­che darstellt.

  • Die Hir­ten müs­sen die­se Leh­re von Chri­stus König mit gan­zer Wahr­heit ver­kün­den – lei­der oft aus­ge­ses­sen oder gar ver­zerrt. Lei­der wird die­ses Amt oft ver­nach­läs­sigt – wenn nicht gar durch gegen­tei­li­ge Leh­ren ver­kehrt –, sodaß das gläu­bi­ge Volk der lehr­mä­ßi­gen Füh­rung beraubt bleibt, auf die es einen hei­li­gen Anspruch hätte.

Die­ser unnor­ma­le Zustand, der die Schwe­re der Kri­se offen­bart, in der sich die Kir­che seit Jahr­zehn­ten befin­det, min­dert in kei­ner Wei­se die Not­wen­dig­keit, omnia in Chri­sto instaura­re – alles in Chri­stus zu erneu­ern –, indem jeder Bereich des mensch­li­chen Lebens unter die Herr­schaft Chri­sti, des Königs, gestellt wird, zum Auf­bau der christ­li­chen Gesell­schaft (Res publi­ca chri­stia­na).

Der Abfall vie­ler Hir­ten ist im Gegen­teil ein Auf­ruf an alle, sich mit umso grö­ße­rer Hin­ga­be der umfas­sen­den För­de­rung der Leh­re vom sozia­len König­tum Chri­sti zu wid­men – ein jeder ent­spre­chend sei­ner Stel­lung, gleich­sam als Ersatz für die­je­ni­gen, die eigent­lich leh­ren sollten:

  • Auf den katho­li­schen Intel­lek­tu­el­len lastet die Ver­pflich­tung, die Leh­re von der sozia­len Königs­herr­schaft Chri­sti dar­zu­le­gen, ihren theo­lo­gi­schen Reich­tum auf­zu­zei­gen und dar­aus alle logi­schen Kon­se­quen­zen auf poli­ti­schem, recht­li­chem, kul­tu­rel­lem und gesell­schaft­li­chem Gebiet zu ziehen.
  • Den katho­li­schen Leh­rern kommt die Auf­ga­be zu, ihren Schü­lern das sozia­le König­tum Chri­sti als einen tra­gen­den Pfei­ler der christ­li­chen Zivi­li­sa­ti­on zu ver­mit­teln – jener Zivi­li­sa­ti­on, die sich histo­risch über andert­halb Jahr­tau­sen­de erstreck­te und deren gei­sti­ge, künst­le­ri­sche, lite­ra­ri­sche und gesell­schaft­li­che Höhen­lei­stun­gen alle­samt auf die, auch welt­li­che, Herr­schaft Chri­sti verweisen.
  • Den Eltern obliegt es, ihre Kin­der in dem Bewußt­sein zu erzie­hen, daß Chri­stus über die Fami­lie herrscht und jede Auto­ri­tät – die von Vater und Mut­ter eben­so wie jene der Rich­ter und Regie­ren­den – von Gott stammt und stell­ver­tre­tend für Chri­stus König aus­ge­übt wird.

Allen gemein­sam ist die Auf­ga­be, die Leh­re von dem sozia­len König­tum Chri­sti unter den Men­schen unse­rer Zeit mög­lichst weit zu ver­brei­ten – im Bewußt­sein, daß nur im Gehor­sam gegen­über Chri­stus, dem König, eine Gesell­schaft errich­tet wer­den kann, die der Wahr­heit und dem Guten entspricht.

Drittes Prinzip: Persönliches soziales Engagement

Es wäre daher sehr wün­schens­wert, wenn kul­tu­rel­le Ver­ei­ni­gun­gen, Zir­kel, Grup­pen und Komi­tees, katho­li­sche Zusam­men­schlüs­se und Bewe­gun­gen flä­chen­deckend vor Ort Stu­di­en- und Bil­dungs­in­itia­ti­ven zum sozia­len König­tum Chri­sti ins Leben rufen wür­den. Ziel muß es sein, die Leh­re vom sozia­len König­tum Chri­sti wie­der in den gei­sti­gen Umlauf zu brin­gen – zumin­dest unter jenen, die ein ech­tes Inter­es­se an der katho­li­schen Kul­tur hegen.

Das ist not­wen­dig, doch nicht hin­rei­chend! Dem Ein­satz für das Apo­sto­lat, für Leh­re, Erzie­hung und Ver­brei­tung muß ein kon­kre­tes Enga­ge­ment der Lai­en zur Errich­tung sozia­ler Wirk­lich­kei­ten ent­spre­chen, in denen das König­tum Chri­sti tat­säch­lich gelebt wird. So zeigt sich die Not­wen­dig­keit einer neu­en Ära des sozia­len Katho­li­zis­mus, in der dem Stu­di­um der Leh­re auch die Grün­dung katho­li­scher Initia­ti­ven in Wirt­schaft, Bil­dung, Gewerk­schaft, gegen­sei­ti­ger Hil­fe und Nach­bar­schafts­ge­mein­schaft zur Sei­te tritt – alles auf der Grund­la­ge der Aner­ken­nung der Herr­schaft Chri­sti, aus der dann kon­se­quent Ent­wür­fe, mora­li­sches Han­deln, Lebens­stil und Ziel­set­zun­gen hervorgehen.

Die­se not­wen­di­ge Ver­bin­dung zwi­schen intel­lek­tu­el­lem Apo­sto­lat und kon­kre­ter gesell­schaft­li­cher Ver­wirk­li­chung ist jedoch nicht frei von einer ern­sten Gefahr: näm­lich der, den Kampf für das sozia­le König­tum Chri­sti auf das bloß kul­tu­rel­le Feld und auf die soge­nann­ten inter­me­diä­ren sozia­len Struk­tu­ren zu beschrän­ken und dabei den eigent­li­chen poli­ti­schen Bereich aus­zu­klam­mern. Das aber wäre der schwer­wie­gend­ste Ver­rat an der Leh­re von Chri­stus König – und das aus­ge­rech­net wäh­rend man sich für deren Ver­wirk­li­chung einsetzt.

Die Unvereinbarkeit

Zu sagen, Chri­stus ist König, bedeu­tet, die uni­ver­sa­le Herr­schaft Chri­sti auch in tem­po­ra­li­bus – also über Völ­ker, Natio­nen und Staa­ten in ihren welt­li­chen Ange­le­gen­hei­ten – zu bekräf­ti­gen. Es bedeu­tet, daß die Rechts­ord­nun­gen, öffent­li­chen Insti­tu­tio­nen und poli­ti­schen Auto­ri­tä­ten unter der könig­li­chen Herr­schaft Chri­sti ste­hen bzw. ste­hen sol­len. Das ist ein zutiefst poli­ti­scher Anspruch. Die Leh­re vom sozia­len König­tum Chri­sti ist poli­ti­sche Leh­re höch­sten Ran­ges: Sie impli­ziert eine prä­zi­se theo­lo­gi­sche Vor­stel­lung von der Res publi­ca, von der welt­li­chen Auto­ri­tät, von der Rechts­ord­nung, vom Ver­hält­nis zwi­schen der poli­ti­schen Gemein­schaft und der Kir­che sowie vom Ziel des mensch­li­chen Zusam­men­le­bens. Und eine sol­che Vor­stel­lung ist schlicht­weg unver­ein­bar mit dem moder­nen säku­la­ren Staat. Daher wird es not­wen­dig sein, die moder­ne Staats­idee, die auf dem Prin­zip der Sou­ve­rä­ni­tät (Supre­ma­tie, unum­schränk­te Hoheit) beruht, eben­so radi­kal in Fra­ge zu stel­len wie das auf­klä­re­ri­sche Para­dig­ma der Laizität.

Das katho­li­sche Enga­ge­ment für das sozia­le König­tum Chri­sti kann daher gar nicht anders als ein poli­ti­sches Enga­ge­ment sein – und zwar ein syste­ma­ti­sches poli­ti­sches Enga­ge­ment, das impli­zit den Anspruch erhebt, das poli­ti­sche und recht­li­che Gefü­ge von sei­nen dok­tri­nä­ren Grund­la­gen her neu zu den­ken. Die Leh­re vom sozia­len König­tum Christi

  • erlaubt es dem Katho­li­ken nicht, es sich bequem inner­halb des heu­ti­gen ideo­lo­gi­schen Rah­mens einzurichten;
  • erlaubt es ihm nicht, sich mit dem System der libe­ra­len Demo­kra­tie zu identifizieren;
  • erlaubt es ihm nicht, poli­ti­sches Enga­ge­ment bloß als inner­staat­li­chen Refor­mis­mus im Rah­men des moder­nen säku­la­ren Staa­tes zu begreifen.

Die Leh­re vom sozia­len König­tum Chri­sti ist ein unüber­wind­li­cher Stol­per­stein für jeden Ver­such, die poli­ti­sche Moder­ne – mit ihrer Auf­fas­sung von Sou­ve­rä­ni­tät als Supre­ma­tie, ihrer staat­li­chen Lai­zi­tät, der Tren­nung von Staat und Kir­che, dem Rechts­po­si­ti­vis­mus und der Frei­heit als sub­jek­ti­ver Selbst­be­stim­mung – mit dem Katho­li­zis­mus zu versöhnen.

Die theo­re­ti­sche Ein­sicht in die logi­sche Not­wen­dig­keit einer sol­chen Radi­ka­li­tät könn­te vie­le ent­mu­ti­gen, da sie den poli­ti­schen Rah­men der Moder­ne für unan­greif­bar und die Res publi­ca chri­stia­na für nicht wie­der­her­stell­bar hal­ten. Eine sol­che psy­cho­lo­gi­sche Hal­tung – die auf der geist­li­chen Ebe­ne der theo­lo­gi­schen Tugen­den immer zu ver­wer­fen ist – erweist sich heu­te auch histo­risch als kurz­sich­tig. Denn nach Jahr­hun­der­ten der Tri­um­phe der libe­ra­len Ideo­lo­gie erle­ben wir nun die offen­kun­di­ge Kri­se der libe­ra­len Demokratie.

Die Krise des westlichen Systems der liberalen Demokratie

Das west­li­che System der libe­ra­len Demo­kra­tie befin­det sich zwei­fach in der Krise

1. Sie befin­det sich in einer Kri­se ad extra, da sie ihr Modell – die libe­ra­le Demo­kra­tie – nicht mehr erfolg­reich in die Welt expor­tie­ren oder auf­zwin­gen kann, das heißt, die libe­ra­le Demo­kra­tie ver­liert an Strahl­kraft und gewinnt kei­ne neu­en Anhän­ger mehr.

2. Zugleich befin­det sie sich ad intra in einer Kri­se, was beson­ders deut­lich seit dem Wahl­sieg Trumps in den USA ist, einem regel­rech­ten Regime­wech­sel1, mit der Ver­bin­dung zwi­schen der MAGA-Bewe­gung und jenen Intel­lek­tu­el­len, die offen vom Schei­tern des Libe­ra­lis­mus spre­chen2, vom Ende bzw. der Über­win­dung der libe­ra­len Demo­kra­tie und von einem christ­li­chen Wie­der­auf­bau Amerikas.

Wir leben in einer Zeit der Neu­de­fi­ni­ti­on glo­ba­ler Ord­nun­gen, und in die­sem Pro­zeß ist der Trend zur „Ver­west­li­chung“ der Welt – ver­stan­den als die Über­nah­me der lai­zi­sti­schen libe­ra­len Demo­kra­tie und der Säku­la­ri­sie­rung durch die nicht-west­li­che Welt – zum Still­stand gekom­men. Mehr noch: Es zeigt sich eine wach­sen­de gegen­läu­fi­ge Ten­denz, bei der ver­schie­de­ne Kul­tu­ren sich auf eine poli­ti­sche Neu­grün­dung auf der Grund­la­ge ihrer eige­nen kul­tu­rell-reli­giö­sen Iden­ti­tät zube­we­gen. Das ist im isla­mi­schen Raum eben­so deut­lich sicht­bar wie in Indi­en (wo eine poli­ti­sche Spiel­art des Hin­du­is­mus an der Macht ist), doch es han­delt sich um ein glo­ba­les Phä­no­men. Auch die christ­li­che Welt bleibt von die­ser post­li­be­ra­len Ten­denz zu einer erneu­er­ten poli­tisch-reli­giö­sen Syn­the­se nicht unbe­rührt – man den­ke nur an die bei­den Super­mäch­te USA und Ruß­land, die sich ideo­lo­gisch inzwi­schen weit näher­ste­hen, als man frü­her je ver­mu­tet hät­te. Die­se neue ideo­lo­gi­sche Nähe beruht gera­de auf einer post­li­be­ra­len, reli­gi­ös-iden­ti­tä­ren Option.

Rußland

Ruß­land unter Putin hat sich – nach dem athe­isti­schen Sowjet­re­gime und dem Cha­os der Jel­zin-Ära – für eine stra­te­gi­sche Ver­bin­dung mit der ortho­do­xen Kir­che des Mos­kau­er Patri­ar­chats ent­schie­den. Die rus­si­sche Staat­lich­keit wur­de dadurch auf einer „Staats­dok­trin“ gefe­stigt, die eng mit der histo­ri­schen Iden­ti­tät Ruß­lands und der Mos­kau­er Ortho­do­xie ver­knüpft ist.
Zwi­schen der Rus­si­schen Föde­ra­ti­on und der Rus­sisch-Ortho­do­xen Kir­che besteht heu­te eine struk­tu­rier­te stra­te­gi­sche Zusam­men­ar­beit, die deut­lich macht, daß das rea­le poli­ti­sche Modell in Ruß­land – weit über die for­ma­le Ver­fas­sung und Gesetz­ge­bung hin­aus – nicht mehr dem lai­zi­stisch-libe­ral­de­mo­kra­ti­schen ent­spricht, son­dern viel­mehr einem sla­wisch-ortho­do­xen Neo­za­ris­mus.
Das Chri­sten­tum in sei­ner ortho­do­xen Aus­prä­gung nimmt in Ruß­land de fac­to die Stel­lung einer Staats­dok­trin ein, und das Mos­kau­er Patri­ar­chat ist fak­tisch eines der wich­tig­sten Zen­tren der poli­ti­schen Dok­trin­ent­wick­lung Ruß­lands gewor­den3 – sodaß die christ­lich-ortho­do­xe Theo­lo­gie heu­te wie­der ein zen­tra­les Ele­ment der rus­si­schen poli­ti­schen Theo­rie darstellt.

USA

Mit dem Wahl­sieg von Donald Trump und sei­ner Rück­kehr ins Wei­ße Haus steu­ern auch die USA auf eine post­li­be­ra­le Pha­se zu, da der Trum­pis­mus (die MAGA-Bewe­gung und dar­über hin­aus) – anders als die alte Repu­bli­ka­ni­sche Par­tei – der libe­ra­len Demo­kra­tie klar kri­tisch gegen­über­steht und viel­mehr die Absicht ver­folgt, die USA auf einer christ­lich-iden­ti­tä­ren Grund­la­ge neu zu grün­den.4
Trotz aller Ein­schrän­kun­gen, die sich aus Trumps Per­sön­lich­keit und dem pro­te­stan­ti­schen Milieu erge­ben, aus dem die Strö­mun­gen des Chri­sti­an Natio­na­lism und der Chri­sti­an Supre­ma­cy haupt­säch­lich stam­men (die die reli­giö­se Poli­tik der MAGA-Bewe­gung bzw. der Chri­sti­an Right prä­gen), muß man doch fest­stel­len: Mit Trump und J. D. Van­ce wird zum ersten Mal in der Geschich­te der Ver­ei­nig­ten Staa­ten die libe­ra­le Ideo­lo­gie mar­gi­na­li­siert, und es ent­steht die Aus­sicht auf eine radi­ka­le Neu­be­wer­tung des bis­he­ri­gen Modells, ein­schließ­lich einer Über­win­dung der auf­klä­re­ri­schen Lai­zi­tät.
Trump woll­te ein White Hou­se Faith Office und über­trug des­sen Lei­tung Pau­la M. White-Cain – einer zwar umstrit­te­nen, aber zugleich weit­hin bekann­ten evan­ge­li­ka­len Pre­di­ge­rin, die offen die Ver­ei­ni­gung von Kir­che und Staat befür­wor­tet. Sie ist über­zeugt, daß die USA for­mell eine Chri­sti­an Nati­on wer­den soll­ten und daß die Kir­che den Staat füh­ren müs­se5 – was letzt­lich auf die Abschaf­fung der reli­giö­sen Neu­tra­li­tät öffent­li­cher Insti­tu­tio­nen hin­aus­läuft.
Neben dem White Hou­se Faith Office ist es ins­ge­samt das „neue MAGA-Regime“, das sich mit einer deut­lich post­li­be­ra­len und christ­lich-iden­ti­tä­ren Aus­rich­tung präsentiert.

Katholisches Handeln heute

In den bei­den betrach­te­ten Bei­spie­len – dem Ame­ri­ka Trumps und dem Ruß­land Putins – ist der Post­li­be­ra­lis­mus eben­so wie die ten­den­zi­el­le Über­win­dung der Lai­zi­tät im Zei­chen einer christ­lich-iden­ti­tä­ren Poli­tik von gro­ßem Inter­es­se. Den­noch man­gelt es nicht an Pro­ble­men – im Gegen­teil: Es gibt zahl­rei­che und schwer­wie­gen­de Kri­tik­punk­te, denn eben­so zahl­reich und schwer­wie­gend sind die dog­ma­ti­schen Defi­zi­te des evan­ge­li­ka­len Pro­te­stan­tis­mus wie auch der soge­nann­ten Ortho­do­xie. Die wah­re Ant­wort auf das Schei­tern der libe­ra­len Demo­kra­tie soll­te daher von den Katho­li­ken kom­men – aus der Sozi­al­leh­re der Kir­che, aus der Leh­re vom sozia­len König­tum Chri­sti, wie sie vom Lehr­amt der Päp­ste ver­kün­det wurde.

Genau das soll­ten die Katho­li­ken heu­te tun: die poli­tisch-kul­tu­rel­le Gele­gen­heit erken­nen, die ihnen gebo­ten wird; die Chan­cen nut­zen, die sich mit der syste­mi­schen Kri­se der libe­ra­len Demo­kra­tie eröff­net haben; sich aktiv in alle Pro­zes­se der neu­en dok­tri­nä­ren Refle­xi­on über das sozia­le, poli­ti­sche und recht­li­che System im post­li­be­ra­len und christ­lich-iden­ti­tä­ren Sin­ne ein­brin­gen – und dabei den immensen Schatz der jahr­tau­sen­de­al­ten katho­li­schen poli­ti­schen Leh­re ein­brin­gen, deren Herz­stück das sozia­le König­tum Chri­sti ist.6

Was sie hin­ge­gen auf kei­nen Fall tun soll­ten, ist, in einer „christ­de­mo­kra­ti­schen Men­ta­li­tät“ gefan­gen zu blei­ben – gefan­gen in der absur­den Rol­le von Ver­tei­di­gern oder Apo­lo­ge­ten jenes Libe­ra­lis­mus und jener moder­nen Demo­kra­tie, die die Kir­che tau­send­fach ver­ur­teilt hat – und unfä­hig, Poli­tik außer­halb des Sche­mas des moder­nen säku­la­ren Staa­tes zu denken.

Das Absur­de­ste ist, Katho­li­ken (und Kle­ri­ker) dabei zu beob­ach­ten, wie sie das libe­ral-demo­kra­ti­sche System stüt­zen, gera­de jetzt, da sich eine Gele­gen­heit eröff­net hat, es zu stür­zen und zu ver­su­chen, eine christ­li­che Gesell­schaft (Socie­tas chri­stia­na) neu zu errichten.

*Samue­le Cecot­ti, Prie­ster des Bis­tums Tri­est und Pfar­rer dort; neben sei­nem Stu­di­um der Phi­lo­so­phie und der Theo­lo­gie absol­vier­te er ein Stu­di­um der Geschich­te des Mit­tel­al­ters und erwarb in Rom ein Lizen­ti­at in Kir­chen­ge­schich­te. Er lehrt Poli­ti­sche Phi­lo­so­phie an der Rechts­wis­sen­schaft­li­chen Fakul­tät der Uni­ver­si­tät Udi­ne, ist Sekre­tär der Sek­ti­on Lom­bar­do-Vene­ti­en und Fri­aul der Inter­na­tio­na­len Tho­mas-von-Aquin-Gesell­schaft sowie stell­ver­tre­ten­der Vor­sit­zen­der des Inter­na­tio­nal Obser­va­to­ry Car­di­nal Van Thu­an for the Social Doc­tri­ne of the Church. Er ist Autor meh­re­rer Bücher und zahl­rei­cher Arti­kel zu Fra­gen der Sozi­al­leh­re und der poli­ti­schen Phi­lo­so­phie.

Einleitung/​Übersetzung: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: MiL


1 Vgl. P. J. Deneen: Regime Chan­ge. Towards a Post­li­be­ral Future, Swift Press, Lon­don 2024.

2 Vgl. Ders.: Why Libe­ra­lism fai­led, Yale Uni­ver­si­ty Press, New Haven 2019.

3 Als Bei­spiel sei auf das Doku­ment „Gegen­wart und Zukunft der rus­si­schen Welt“ hin­ge­wie­sen, das 2024 unter dem Vor­sitz von Patri­arch Kyrill vom 25. Welt­kon­greß des rus­si­schen Vol­kes (Всемирный русский народный собор) ange­nom­men wur­de – einem Tref­fen, das in der Chri­stus-Erlö­ser-Kathe­dra­le (im soge­nann­ten Saal der Kirch­li­chen Räte) in Mos­kau statt­fand: Наказ XXV Всемирного русского народного собора «Настоящее и будущее Русского мира» – Oфициальные документы – Патриархия.ru

4 Der theo­lo­gisch wich­tig­ste Bezugs­punkt ist der Chri­sti­an Recons­truc­tion­ism und der Domi­ni­onism.

5 Da es sich bei Pau­la White-Cain um eine evan­ge­li­ka­le Pre­di­ge­rin han­delt, bezieht sie sich mit dem Begriff „Kir­che“ selbst­ver­ständ­lich nicht auf die Hei­li­ge Römi­sche Kir­che, son­dern viel­mehr auf die Gemein­schaft derer, die an Chri­stus glau­ben, cha­ris­ma­tisch verstanden.

6 Aus die­sem Grund kann man mit beson­de­rem Inter­es­se auf US-Vize­prä­si­dent J. D. Van­ce blicken – ein (kon­ver­tier­ter) Katho­lik, tra­di­tio­nell ori­en­tiert, inspi­riert von Augu­sti­nus, zugleich aber auch kul­tu­rell der Domi­ni­on Theo­lo­gy nahestehend.

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