
Das Modell der westlichen liberalen Demokratie befindet sich in der Krise. Neue Modelle auf religiös-identitärer Grundlage zeichnen sich ab, nicht nur in der islamischen Welt und in Indien, sondern auch in Rußland und in den USA. Die neue Ausgabe der hauseigenen Zeitschrift des International Observatory Cardinal Van Thuan for the Social Doctrine of the Church ist dem hundertjährigen Jubiläum der Enzyklika Quas primas von Pius XI. gewidmet. Don Samuele Cecotti skizziert darin die genannte Krise, die neuen Modelle und die Chancen, die sich daraus für die Katholiken ergeben, aber auch die Pflichten und Aufgaben, die damit verbunden sind. Er verweist dabei auf die zentrale Bedeutung des „sozialen Königtums Christi“ und wie Katholiken diesem Teil des Depositum fidei gerade im aktuellen historischen Moment gerecht werden können.
Das soziale Königtum Christi: Wie soll sich ein Katholik heute verhalten?
Von Don Samuele Cecotti*
Die Lehre vom sozialen Königtum unseres Herrn Jesus Christus, wie es uns über die Tradition und das Lehramt vermittelt worden ist, gehört vollumfänglich zum Depositum fidei. Infolgedessen kann sie nicht etwa wegen mangelnder Modernität verworfen werden. Wie jede Glaubenslehre beansprucht auch diese für sich Unveränderlichkeit und Dauerhaftigkeit.
Damit wäre bereits eine entscheidende Frage geklärt: Katholiken müssen an dieser Lehre festhalten und konsequent nach ihr handeln. Doch diese grundsätzliche Gültigkeit ist nur der Ausgangspunkt. Aus ihr – aus der Gewißheit dogmatischer Wahrheit – ergibt sich der notwendige historisch-kulturelle und situationsbezogene Umgang heutiger Gläubiger.
Ohne sicheren Rückgriff auf eine vom Zeitgeist unabhängige Doktrin – unveränderlich, weil Ausdruck ewiger Wahrheit – würde jede Debatte in Soziologie abgleiten und im historistischen Relativismus enden, der dem Wahrheitsanspruch der Katholizität widerspricht.
Die Lehre vom sozialen Königtum Christi ist gewiß – doch …
- Doch selbst viele Hirten unterlassen heute deren Vermittlung, abgesehen von wenigen Ausnahmen. Auch die von Papst Paul VI. reformierte römische Liturgie legt den Schwerpunkt auf kosmisch-eschatologische Aspekte und nicht mehr auf ein soziales und politisches Königtum Christi. Die Vorstellung eines Königs der Völker, eines zeitlichen Herrn aller Gemeinschaften der Menschen, König der Könige und Herr der Herren, ist nahezu vollständig aus der katholischen Verkündigung verschwunden;
- und die Mehrheit der Gläubigen – Laien wie Kleriker – hat längst das Paradigma des säkularen Staates übernommen. Kaum jemand denkt heute mehr an eine Res publica, die der weltlichen Herrschaft von Christus König unterstellt ist. Das katholische Engagement in der Politik seit über einem Jahrhundert – etwa der Christlich-Sozialen und der Christdemokraten – orientierte sich am laizistischen Staat;
- die Säkularisierung hat, besonders in Europa, selbst die letzten Reste eines politischen Katholizismus hinweggefegt. Das soziale Königtum Christi erscheint dem modernen Europäer ebenso unverständlich wie ein genereller katholischer Zugang zur Politik;
- in ehemals katholischen Ländern erkennen sich Katholiken immer weniger als solche. Sie sind in Glaubensfragen immer verwirrter und daher inzwischen politisch weitgehend irrelevant.
Und man könnte lange fortfahren mit weiteren Anmerkungen zur gegenwärtigen Lage des Katholizismus und der ehemals christlichen Gesellschaften – allesamt leider negativ in bezug auf die Möglichkeit, das öffentliche Bekenntnis zu Christus, dem König, erfolgreich zu erneuern. Schon das allein genügt, um die Frage, wie der Katholik heute im Hinblick auf die Lehre vom sozialen Königtum Christi handeln soll, nicht als belanglos, sondern vielmehr als notwendig erscheinen zu lassen.
Erstes Prinzip: Die Unveränderlichkeit der Lehre
Der erste Punkt, der mit aller Klarheit festzuhalten ist, und zugleich der erste Irrtum, der entschieden zurückzuweisen ist, bezieht sich auf das oben Gesagte über die Unveränderlichkeit der Lehre: Niemals ist es erlaubt, den Zeitgeist, die herrschende Praxis, die vorherrschenden Ideologien oder den vermeintlichen Gang der Geschichte zum Maßstab zu nehmen, um eine Glaubenslehre zu beurteilen – geschweige denn, sie deshalb für obsolet zu erklären. Der Geist der Welt war nie und kann niemals Maßstab für die katholische Wahrheit sein.
Daher rechtfertigen weder die feststellbare Säkularisierung der ehemals christlichen Gesellschaften, noch das Sich-Durchsetzen des laizistischen Staatsmodells – selbst in den Köpfen vieler Katholiken –, noch die nachkonziliare Krise in der Kirche mitsamt der daraus resultierenden Desorientierung der Gläubigen, in irgendeiner Weise den Schluß, man solle heute von der Verkündigung der Lehre von dem sozialen Königtum Christi Abstand nehmen.
Die Lehre ist der Maßstab zur Beurteilung von Praxis und Zeitläuften – nicht umgekehrt.
Zweites Prinzip: Wissen und Zeugnis
1. Pflicht zur genauen Kenntnis
Katholiken sind verpflichtet, die Lehre von dem sozialen Königtum Christi gründlich zu studieren – insbesondere im Lehramt der Päpste Leo XIII., Pius X. und Pius XI. – und daraus die jahrtausendealte politische Lehre der Kirche zu betrachten, deren Herzstück Christus König ist. Es besteht also ein vorrangiges Gebot zur lehrmäßigen Bildung, nicht zuletzt auch, weil dieses Wissen vor Irrtümern schützt wie dem liberalen oder demokratischen Katholizismus, die dem politischen Katholizismus schweren Schaden zugefügt haben.
2. Pflicht zum apostolischen Einsatz
Auf dieser Grundlage sind alle Getauften berufen zu apostolischem Handeln – jeder nach seinem Stand und seiner Lebenssituation. Jeder Katholik soll mutig die Lehre vom sozialen Königtum Christi vermitteln und so apostolisch wirken. Unser Observatory leistet seinen Dienst als intellektuelles Apostolat, indem es das soziale Königtum Christi als Fundament und Höhepunkt der gesamten Soziallehre der Kirche darstellt.
- Die Hirten müssen diese Lehre von Christus König mit ganzer Wahrheit verkünden – leider oft ausgesessen oder gar verzerrt. Leider wird dieses Amt oft vernachlässigt – wenn nicht gar durch gegenteilige Lehren verkehrt –, sodaß das gläubige Volk der lehrmäßigen Führung beraubt bleibt, auf die es einen heiligen Anspruch hätte.
Dieser unnormale Zustand, der die Schwere der Krise offenbart, in der sich die Kirche seit Jahrzehnten befindet, mindert in keiner Weise die Notwendigkeit, omnia in Christo instaurare – alles in Christus zu erneuern –, indem jeder Bereich des menschlichen Lebens unter die Herrschaft Christi, des Königs, gestellt wird, zum Aufbau der christlichen Gesellschaft (Res publica christiana).
Der Abfall vieler Hirten ist im Gegenteil ein Aufruf an alle, sich mit umso größerer Hingabe der umfassenden Förderung der Lehre vom sozialen Königtum Christi zu widmen – ein jeder entsprechend seiner Stellung, gleichsam als Ersatz für diejenigen, die eigentlich lehren sollten:
- Auf den katholischen Intellektuellen lastet die Verpflichtung, die Lehre von der sozialen Königsherrschaft Christi darzulegen, ihren theologischen Reichtum aufzuzeigen und daraus alle logischen Konsequenzen auf politischem, rechtlichem, kulturellem und gesellschaftlichem Gebiet zu ziehen.
- Den katholischen Lehrern kommt die Aufgabe zu, ihren Schülern das soziale Königtum Christi als einen tragenden Pfeiler der christlichen Zivilisation zu vermitteln – jener Zivilisation, die sich historisch über anderthalb Jahrtausende erstreckte und deren geistige, künstlerische, literarische und gesellschaftliche Höhenleistungen allesamt auf die, auch weltliche, Herrschaft Christi verweisen.
- Den Eltern obliegt es, ihre Kinder in dem Bewußtsein zu erziehen, daß Christus über die Familie herrscht und jede Autorität – die von Vater und Mutter ebenso wie jene der Richter und Regierenden – von Gott stammt und stellvertretend für Christus König ausgeübt wird.
Allen gemeinsam ist die Aufgabe, die Lehre von dem sozialen Königtum Christi unter den Menschen unserer Zeit möglichst weit zu verbreiten – im Bewußtsein, daß nur im Gehorsam gegenüber Christus, dem König, eine Gesellschaft errichtet werden kann, die der Wahrheit und dem Guten entspricht.
Drittes Prinzip: Persönliches soziales Engagement
Es wäre daher sehr wünschenswert, wenn kulturelle Vereinigungen, Zirkel, Gruppen und Komitees, katholische Zusammenschlüsse und Bewegungen flächendeckend vor Ort Studien- und Bildungsinitiativen zum sozialen Königtum Christi ins Leben rufen würden. Ziel muß es sein, die Lehre vom sozialen Königtum Christi wieder in den geistigen Umlauf zu bringen – zumindest unter jenen, die ein echtes Interesse an der katholischen Kultur hegen.
Das ist notwendig, doch nicht hinreichend! Dem Einsatz für das Apostolat, für Lehre, Erziehung und Verbreitung muß ein konkretes Engagement der Laien zur Errichtung sozialer Wirklichkeiten entsprechen, in denen das Königtum Christi tatsächlich gelebt wird. So zeigt sich die Notwendigkeit einer neuen Ära des sozialen Katholizismus, in der dem Studium der Lehre auch die Gründung katholischer Initiativen in Wirtschaft, Bildung, Gewerkschaft, gegenseitiger Hilfe und Nachbarschaftsgemeinschaft zur Seite tritt – alles auf der Grundlage der Anerkennung der Herrschaft Christi, aus der dann konsequent Entwürfe, moralisches Handeln, Lebensstil und Zielsetzungen hervorgehen.
Diese notwendige Verbindung zwischen intellektuellem Apostolat und konkreter gesellschaftlicher Verwirklichung ist jedoch nicht frei von einer ernsten Gefahr: nämlich der, den Kampf für das soziale Königtum Christi auf das bloß kulturelle Feld und auf die sogenannten intermediären sozialen Strukturen zu beschränken und dabei den eigentlichen politischen Bereich auszuklammern. Das aber wäre der schwerwiegendste Verrat an der Lehre von Christus König – und das ausgerechnet während man sich für deren Verwirklichung einsetzt.
Die Unvereinbarkeit
Zu sagen, Christus ist König, bedeutet, die universale Herrschaft Christi auch in temporalibus – also über Völker, Nationen und Staaten in ihren weltlichen Angelegenheiten – zu bekräftigen. Es bedeutet, daß die Rechtsordnungen, öffentlichen Institutionen und politischen Autoritäten unter der königlichen Herrschaft Christi stehen bzw. stehen sollen. Das ist ein zutiefst politischer Anspruch. Die Lehre vom sozialen Königtum Christi ist politische Lehre höchsten Ranges: Sie impliziert eine präzise theologische Vorstellung von der Res publica, von der weltlichen Autorität, von der Rechtsordnung, vom Verhältnis zwischen der politischen Gemeinschaft und der Kirche sowie vom Ziel des menschlichen Zusammenlebens. Und eine solche Vorstellung ist schlichtweg unvereinbar mit dem modernen säkularen Staat. Daher wird es notwendig sein, die moderne Staatsidee, die auf dem Prinzip der Souveränität (Suprematie, unumschränkte Hoheit) beruht, ebenso radikal in Frage zu stellen wie das aufklärerische Paradigma der Laizität.
Das katholische Engagement für das soziale Königtum Christi kann daher gar nicht anders als ein politisches Engagement sein – und zwar ein systematisches politisches Engagement, das implizit den Anspruch erhebt, das politische und rechtliche Gefüge von seinen doktrinären Grundlagen her neu zu denken. Die Lehre vom sozialen Königtum Christi
- erlaubt es dem Katholiken nicht, es sich bequem innerhalb des heutigen ideologischen Rahmens einzurichten;
- erlaubt es ihm nicht, sich mit dem System der liberalen Demokratie zu identifizieren;
- erlaubt es ihm nicht, politisches Engagement bloß als innerstaatlichen Reformismus im Rahmen des modernen säkularen Staates zu begreifen.
Die Lehre vom sozialen Königtum Christi ist ein unüberwindlicher Stolperstein für jeden Versuch, die politische Moderne – mit ihrer Auffassung von Souveränität als Suprematie, ihrer staatlichen Laizität, der Trennung von Staat und Kirche, dem Rechtspositivismus und der Freiheit als subjektiver Selbstbestimmung – mit dem Katholizismus zu versöhnen.
Die theoretische Einsicht in die logische Notwendigkeit einer solchen Radikalität könnte viele entmutigen, da sie den politischen Rahmen der Moderne für unangreifbar und die Res publica christiana für nicht wiederherstellbar halten. Eine solche psychologische Haltung – die auf der geistlichen Ebene der theologischen Tugenden immer zu verwerfen ist – erweist sich heute auch historisch als kurzsichtig. Denn nach Jahrhunderten der Triumphe der liberalen Ideologie erleben wir nun die offenkundige Krise der liberalen Demokratie.
Die Krise des westlichen Systems der liberalen Demokratie
Das westliche System der liberalen Demokratie befindet sich zweifach in der Krise
1. Sie befindet sich in einer Krise ad extra, da sie ihr Modell – die liberale Demokratie – nicht mehr erfolgreich in die Welt exportieren oder aufzwingen kann, das heißt, die liberale Demokratie verliert an Strahlkraft und gewinnt keine neuen Anhänger mehr.
2. Zugleich befindet sie sich ad intra in einer Krise, was besonders deutlich seit dem Wahlsieg Trumps in den USA ist, einem regelrechten Regimewechsel1, mit der Verbindung zwischen der MAGA-Bewegung und jenen Intellektuellen, die offen vom Scheitern des Liberalismus sprechen2, vom Ende bzw. der Überwindung der liberalen Demokratie und von einem christlichen Wiederaufbau Amerikas.
Wir leben in einer Zeit der Neudefinition globaler Ordnungen, und in diesem Prozeß ist der Trend zur „Verwestlichung“ der Welt – verstanden als die Übernahme der laizistischen liberalen Demokratie und der Säkularisierung durch die nicht-westliche Welt – zum Stillstand gekommen. Mehr noch: Es zeigt sich eine wachsende gegenläufige Tendenz, bei der verschiedene Kulturen sich auf eine politische Neugründung auf der Grundlage ihrer eigenen kulturell-religiösen Identität zubewegen. Das ist im islamischen Raum ebenso deutlich sichtbar wie in Indien (wo eine politische Spielart des Hinduismus an der Macht ist), doch es handelt sich um ein globales Phänomen. Auch die christliche Welt bleibt von dieser postliberalen Tendenz zu einer erneuerten politisch-religiösen Synthese nicht unberührt – man denke nur an die beiden Supermächte USA und Rußland, die sich ideologisch inzwischen weit näherstehen, als man früher je vermutet hätte. Diese neue ideologische Nähe beruht gerade auf einer postliberalen, religiös-identitären Option.
Rußland
Rußland unter Putin hat sich – nach dem atheistischen Sowjetregime und dem Chaos der Jelzin-Ära – für eine strategische Verbindung mit der orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats entschieden. Die russische Staatlichkeit wurde dadurch auf einer „Staatsdoktrin“ gefestigt, die eng mit der historischen Identität Rußlands und der Moskauer Orthodoxie verknüpft ist.
Zwischen der Russischen Föderation und der Russisch-Orthodoxen Kirche besteht heute eine strukturierte strategische Zusammenarbeit, die deutlich macht, daß das reale politische Modell in Rußland – weit über die formale Verfassung und Gesetzgebung hinaus – nicht mehr dem laizistisch-liberaldemokratischen entspricht, sondern vielmehr einem slawisch-orthodoxen Neozarismus.
Das Christentum in seiner orthodoxen Ausprägung nimmt in Rußland de facto die Stellung einer Staatsdoktrin ein, und das Moskauer Patriarchat ist faktisch eines der wichtigsten Zentren der politischen Doktrinentwicklung Rußlands geworden3 – sodaß die christlich-orthodoxe Theologie heute wieder ein zentrales Element der russischen politischen Theorie darstellt.
USA
Mit dem Wahlsieg von Donald Trump und seiner Rückkehr ins Weiße Haus steuern auch die USA auf eine postliberale Phase zu, da der Trumpismus (die MAGA-Bewegung und darüber hinaus) – anders als die alte Republikanische Partei – der liberalen Demokratie klar kritisch gegenübersteht und vielmehr die Absicht verfolgt, die USA auf einer christlich-identitären Grundlage neu zu gründen.4
Trotz aller Einschränkungen, die sich aus Trumps Persönlichkeit und dem protestantischen Milieu ergeben, aus dem die Strömungen des Christian Nationalism und der Christian Supremacy hauptsächlich stammen (die die religiöse Politik der MAGA-Bewegung bzw. der Christian Right prägen), muß man doch feststellen: Mit Trump und J. D. Vance wird zum ersten Mal in der Geschichte der Vereinigten Staaten die liberale Ideologie marginalisiert, und es entsteht die Aussicht auf eine radikale Neubewertung des bisherigen Modells, einschließlich einer Überwindung der aufklärerischen Laizität.
Trump wollte ein White House Faith Office und übertrug dessen Leitung Paula M. White-Cain – einer zwar umstrittenen, aber zugleich weithin bekannten evangelikalen Predigerin, die offen die Vereinigung von Kirche und Staat befürwortet. Sie ist überzeugt, daß die USA formell eine Christian Nation werden sollten und daß die Kirche den Staat führen müsse5 – was letztlich auf die Abschaffung der religiösen Neutralität öffentlicher Institutionen hinausläuft.
Neben dem White House Faith Office ist es insgesamt das „neue MAGA-Regime“, das sich mit einer deutlich postliberalen und christlich-identitären Ausrichtung präsentiert.
Katholisches Handeln heute
In den beiden betrachteten Beispielen – dem Amerika Trumps und dem Rußland Putins – ist der Postliberalismus ebenso wie die tendenzielle Überwindung der Laizität im Zeichen einer christlich-identitären Politik von großem Interesse. Dennoch mangelt es nicht an Problemen – im Gegenteil: Es gibt zahlreiche und schwerwiegende Kritikpunkte, denn ebenso zahlreich und schwerwiegend sind die dogmatischen Defizite des evangelikalen Protestantismus wie auch der sogenannten Orthodoxie. Die wahre Antwort auf das Scheitern der liberalen Demokratie sollte daher von den Katholiken kommen – aus der Soziallehre der Kirche, aus der Lehre vom sozialen Königtum Christi, wie sie vom Lehramt der Päpste verkündet wurde.
Genau das sollten die Katholiken heute tun: die politisch-kulturelle Gelegenheit erkennen, die ihnen geboten wird; die Chancen nutzen, die sich mit der systemischen Krise der liberalen Demokratie eröffnet haben; sich aktiv in alle Prozesse der neuen doktrinären Reflexion über das soziale, politische und rechtliche System im postliberalen und christlich-identitären Sinne einbringen – und dabei den immensen Schatz der jahrtausendealten katholischen politischen Lehre einbringen, deren Herzstück das soziale Königtum Christi ist.6
Was sie hingegen auf keinen Fall tun sollten, ist, in einer „christdemokratischen Mentalität“ gefangen zu bleiben – gefangen in der absurden Rolle von Verteidigern oder Apologeten jenes Liberalismus und jener modernen Demokratie, die die Kirche tausendfach verurteilt hat – und unfähig, Politik außerhalb des Schemas des modernen säkularen Staates zu denken.
Das Absurdeste ist, Katholiken (und Kleriker) dabei zu beobachten, wie sie das liberal-demokratische System stützen, gerade jetzt, da sich eine Gelegenheit eröffnet hat, es zu stürzen und zu versuchen, eine christliche Gesellschaft (Societas christiana) neu zu errichten.
*Samuele Cecotti, Priester des Bistums Triest und Pfarrer dort; neben seinem Studium der Philosophie und der Theologie absolvierte er ein Studium der Geschichte des Mittelalters und erwarb in Rom ein Lizentiat in Kirchengeschichte. Er lehrt Politische Philosophie an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Udine, ist Sekretär der Sektion Lombardo-Venetien und Friaul der Internationalen Thomas-von-Aquin-Gesellschaft sowie stellvertretender Vorsitzender des International Observatory Cardinal Van Thuan for the Social Doctrine of the Church. Er ist Autor mehrerer Bücher und zahlreicher Artikel zu Fragen der Soziallehre und der politischen Philosophie.
Einleitung/Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: MiL
1 Vgl. P. J. Deneen: Regime Change. Towards a Postliberal Future, Swift Press, London 2024.
2 Vgl. Ders.: Why Liberalism failed, Yale University Press, New Haven 2019.
3 Als Beispiel sei auf das Dokument „Gegenwart und Zukunft der russischen Welt“ hingewiesen, das 2024 unter dem Vorsitz von Patriarch Kyrill vom 25. Weltkongreß des russischen Volkes (Всемирный русский народный собор) angenommen wurde – einem Treffen, das in der Christus-Erlöser-Kathedrale (im sogenannten Saal der Kirchlichen Räte) in Moskau stattfand: Наказ XXV Всемирного русского народного собора «Настоящее и будущее Русского мира» – Oфициальные документы – Патриархия.ru
4 Der theologisch wichtigste Bezugspunkt ist der Christian Reconstructionism und der Dominionism.
5 Da es sich bei Paula White-Cain um eine evangelikale Predigerin handelt, bezieht sie sich mit dem Begriff „Kirche“ selbstverständlich nicht auf die Heilige Römische Kirche, sondern vielmehr auf die Gemeinschaft derer, die an Christus glauben, charismatisch verstanden.
6 Aus diesem Grund kann man mit besonderem Interesse auf US-Vizepräsident J. D. Vance blicken – ein (konvertierter) Katholik, traditionell orientiert, inspiriert von Augustinus, zugleich aber auch kulturell der Dominion Theology nahestehend.
Hinterlasse jetzt einen Kommentar