
Von Corrado Gnerre*
Eines der charakteristischsten Zeichen der heutigen Kirche ist der sogenannte Pastoralismus, eine Art pastorales Abdriften. Seelsorge im richtigen Sinne des Wortes ist die Anwendung der Lehre, damit sie erkannt und in die Praxis umgesetzt wird. Wenn die Seelsorge hingegen zum Pastoralismus wird, tendiert sie nicht nur dazu, die Lehre zu umgehen, sondern sogar dazu, sich selbst zu genügen.
Versuchen wir das besser zu verstehen. Die Notwendigkeit, die wahre Lehre zu bewahren, wird in den wiederholten Warnungen der Apostel vor Ungläubigen und Häretikern deutlich. Paulus schreibt in seinem Zweiten Brief an Timotheus:
„Es wird eine Zeit kommen, da werden sie die gesunde Lehre nicht ertragen, sondern sich nach ihren eigenen Begierden immer neue Lehrer suchen, die ihren Ohren schmeicheln, und sie werden der Wahrheit nicht mehr Gehör schenken, sondern sich Fabeleien zuwenden!“
Die Seelsorge muß also im Dienst der Lehre stehen. Heutzutage besteht jedoch ein Paradoxon: Die Seelsorge ist mehr wert als die Lehre. Und so werden diejenigen, die sich nicht an der Seelsorge orientieren, bestraft, während jene, die die Lehre in Frage stellen, ungestraft davonkommen, in manchen Fällen sogar belohnt werden.
So entsteht eine Art katholischer Positivismus. Man ist nicht mehr an die Doktrin gebunden, sondern an die Entscheidungen der Autorität. Man begreift die Autorität gewissermaßen als Quelle der Wahrheit und nicht als deren Diener.
Was ist, kurz gesagt, die Ursache für all das? Die Antwort kann nur philosophisch sein. Ich werde versuchen, mich einfach und kurz zu fassen. Der theologische Modernismus hat die christliche Wahrheit von der Metaphysik getrennt. Was ist Metaphysik? Die Metaphysik ist die Lehre vom Sein als Sein, das heißt vom Fundament, also von jener Wahrheit, die sich nicht verändert, die die Zeit beurteilt, ohne sich in der Zeit zu verändern.
Nun, wenn man die christliche Wahrheit von der Metaphysik trennt, ist die christliche Wahrheit nicht mehr eine solche. Im Gegenteil, sie wird zur Praxis. Und die Kirche, die das Salz der Erde sein sollte, wie Jesus in Matthäus 5 sagt, und die Geschichte retten sollte, wird durch die Geschichte selbst ersetzt.
Einst wurde die Kirche als der mystische Leib Christi definiert. Dann ging man über, sie als Volk in Bewegung zu definieren, ein Übergang, der alles andere als zufällig ist. In der ersten Definition liegt der Primat eindeutig bei der Wahrheit, d. h., in der Kirche zu sein, bedeutet, mit dem Credo, dem Glaubensbekenntnis, übereinzustimmen. Die zweite Definition vom Volk in Bewegung betont hingegen den Vorrang der Praxis, des Seins in der Geschichte.
Deshalb ist es für die Vertreter dieser Richtung so wichtig, sich nicht in credendo, also in der Lehre, sondern in agendo, also in der Praxis, im Handeln, vereint zu fühlen. Und das erklärt, warum heute, wenn man sich in der Lehre irrt, alles in Ordnung ist, aber wenn man sich in pastoralen Entscheidungen irrt, ein Häretiker ist. Kurz gesagt: Häretiker in der Lehre spielen keine Rolle mehr, denn die Häresie liegt in der falschen Praxis. Jetzt wird man sozusagen zum „Häretiker der Praxis“.
*Corrado Gnerre, Philosoph und Theologe, lehrte an verschiedenen akademischen Einrichtungen Philosophie- und Religionsgeschichte, u. a. an der Europäischen Universität von Rom, an der Philosophisch-Theologischen Hochschule von Benevent, an der Päpstlichen Theologischen Fakultät von Süditalien; derzeit lehrt er an der Schola Palatina; er ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt veröffentlichte er 2024 „Illuminismo e Rivoluzione. Dal razionalismo al Delirio“ („Aufklärung und Revolution. Vom Rationalismus zum Wahn“) und 2020 das: „C’è troppo silenzio?: La bellezza della Messa Tridentina spiegata ai miei studenti“ („Es ist zu still? Die Schönheit der tridentinischen Messe meinen Studenten erklärt“).
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: I tre sentieri (Screenshot)
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