
Von Cristina Siccardi*
Die Gestalt des heiligen John Henry Newman (1801–1890) ragt vor dem Hintergrund der schweren und dramatischen Krise heraus, die der Glaube in den vergangenen sechzig Jahren durchgemacht hat, und zwar so sehr, daß Paul VI. (1897–1978) – ein Papst, der die Kirche um jeden Preis modernisieren wollte, um auf Kosten der Tradition die „Fernstehenden“ zu erreichen – 1972 in seiner Predigt zum Fest der Heiligen Petrus und Paulus jenen schicksalhaften und realistischen Satz aussprach „Durch irgendeinen Spalt ist der Rauch Satans in den Tempel Gottes eingedrungen… Man glaubte, daß nach dem Konzil ein sonniger Tag für die Geschichte der Kirche kommen würde. Stattdessen kam ein Tag der Wolken, des Sturms und der Finsternis“.
Nach einem anstrengenden Weg, einem harten Kampf intellektueller und spiritueller Natur, fand John Henry Newman am 9. Oktober 1845 in die katholische Kirche. Alles begann mit dem Studium der Kirchenväter und insbesondere jener, die zur Zeit des Arianismus (4. Jahrhundert) die Integrität des Glaubens verteidigten und bereit waren, Dogma und Lehre gegen Häresien zu schützen. Dank ihnen erblickte der zukünftige Kardinal schließlich das Licht, wie er es selbst in seinem Meisterwerk, der Autobiographie Apologia pro vita sua, beschreibt: „Ich sah mein Gesicht in diesem Spiegel: Es war das Gesicht eines Monophysiten“, das Gesicht eines anglikanischen Häretikers, und „ich entdeckte es mit Schrecken“.
Tief besorgt über den Relativismus, der bereits den religiösen Sinn der Engländer untergraben hatte, kämpfte Newman aufrichtig und loyal gegen den Liberalismus und zeichnete mit einer systematischen und analytischen Methode eines der realsten Profile des Europas des 19. Jahrhunderts in einer Phase der Korruption, der Abkehr von der christlichen Zivilisation und des um sich greifenden Glaubensabfalls. Vom Deck seines eigenen Schiffes aus konnte er die säkularisierenden und relativistischen Merkmale auch unserer Zeit erkennen und erinnerte an den Wert einer gesunden Tradition im Bereich der Religion, die nicht Unbeweglichkeit ist, sondern jene Linie darstellt, die von den Prinzipien der Offenbarung (von Jesus Christus bis zur Geheimen Offenbarung des Evangelisten Johannes) und somit von ewigen Prinzipien gebildet wird, die in der Geschichte durch Verschönerungen und Erneuerungen (man denke an die vielen Erneuerungen des heiligen Pius X.) dekliniert werden.
Über Kardinal Newman, der 2010 von Benedikt XVI. seliggesprochen und 2019 von Papst Franziskus heiliggesprochen wurde, ist ein interessantes Buch von Pater Hermann Geißler von der geistlichen Familie Das Werk (Gemeinschaft des geweihten Lebens), Leiter des Internationalen Zentrums der Freunde Newmans in Rom und Theologieprofessor in Italien und Österreich, erschienen: John Henry Newman. Ein neuer Kirchenlehrer? (Be&Be, Heiligenkreuz 2023).
Bei der Lektüre des leicht lesbaren Textes von Pater Geißler wird deutlich, daß Newmans Denken sich logisch und linear entfaltet, mit vollkommener intellektueller Redlichkeit, mit dem einzigen Ziel, zur Wahrheit zu gelangen, die von Jesus Christus gebracht und an die Apostel und von den Aposteln an die Kirchenväter weitergegeben wurde, und so weiter auf dem Weg der von Jesus Christus gegründeten Kirche. Indem er auf die Täuschungen der falschen Theorien hinwies, kam er dazu, den Liberalismus und damit den Relativismus, bei dem jede andere Meinung, auch in religiösen Fragen, den gleichen Wert hat wie alle anderen, als „Todesfalle“ der heutigen Zeit zu bezeichnen.
Von besonderer Relevanz und Tiefe ist das Kapitel über den Aufsatz, den Newman Ende 1844, kurz vor seinem endgültigen Entschluß, in den einzigen Schafstall einzutreten, verfaßt hat: An Essay on the Development of Christian Doctrine [dt. Erstausgabe: Die Entwicklung der christlichen Lehre, Herder, Freiburg i. Br. 1855], ein Thema, mit dem sich der Autor eingehend befaßt hat, aber nicht mit einem liberalen Blick (wie manche mit einem subjektiven und relativistischen Maßstab vermuten könnten), weit entfernt, denn er war ein Verfechter der Kohärenz der Kirche durch ihre inhärente Tradition, sondern mit einem objektiven Blick. Pater Hermann Geißler fragt: Warum hat er diese Studie durchgeführt? Zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits erkannt, daß er einerseits nicht länger in der Kirche von England bleiben konnte, da er der Meinung war, daß diese als Nationalkirche nicht wirklich katholisch war. Andererseits konnte er sich immer noch nicht mit der römisch-katholischen Kirche verbinden, deren Lehren er schon so lange als unapostolisch ablehnte. Viele Fragen quälten ihn: Wie sollte er katholische „Neuerungen“ bewerten, wie zum Beispiel den Marienkult, die Verehrung von Engeln und Heiligen, das Totengebet, die Lehre vom Papsttum? Er fragte sich: Sind diese Lehren und Praktiken Symptome der Untreue und der Korruption des ursprünglichen Glaubens? Sind sie willkürliche Hinzufügungen, die aus rein menschlichen Gründen gemacht wurden? Oder sind sie Ausdruck einer organischen Entwicklung des Glaubensgutes, das der Kirche von Jesus Christus und seinen Aposteln anvertraut wurde? Ein starkes Gewissensbedürfnis trieb Newman an, diese Fragen zu klären, um Licht für seinen eigenen Weg zu finden (S. 42f).
Leidenschaftliche Forschung, Gebet, intensive Reflexion und ein zutiefst klösterlicher Lebensrhythmus zusammen mit einigen Freunden im Littlemore College, weit weg von der universitären Welt Oxfords, die ihn ausgestoßen hatte, und weit weg von all den Stimmen aus der anglikanischen Welt, die ihn bereits als Verräter bezeichneten, war er allein, allein vor Gott mit seinem Gewissen, das sich inzwischen jedoch in der Schule der Kirchenväter und in den Kirchen gebildet hatte, die er in Italien mit ihren ikonographischen und liturgischen Ausstattungen nicht nur besucht, sondern auch erlebt hatte. Die Entwicklung der christlichen Lehre war das Buch, das ihn zu seiner endgültigen Entscheidung führte, die darin bestand, die katholische Kirche mit Begeisterung und Liebe anzunehmen, erleuchtet vom „sanften Licht“, und es ist unmöglich, ihn von den Umständen zu lösen, in die er hineingeboren wurde, denn der Essay ist die Studie eines Anglikaners, der die Gründe darlegt, warum er nicht länger Anglikaner sein kann, so Pater Geißler (S. 44). Aus diesem Grund ist Newman für unsere Zeit providentiell, weil er die Irrtümer, von denen er sich befreien will, meisterhaft identifiziert und klärt, und dazu bietet er sieben Kriterien an, um die Unterschiede zwischen wahren-guten Entwicklungen und Korruptionen-Deformationen zu erkennen:
Die Beständigkeit des Typus: Der Organismus der Kirche drückt sich in verschiedenen Formen aus, aber seine allgemeine Physiognomie bleibt bestehen, genau wie der menschliche Organismus: Kind, Jugendlicher, Erwachsener, Greis, aber es ist immer derselbe Mensch. Nach Newman zeichnen sich echte Entwicklungen im Gegensatz zu falschen dadurch aus, daß bei ihnen der „Typus“ Kirche mit seinem übernatürlichen, katholischen und römischen Charakter erhalten bleibt.
Die Kontinuität der Prinzipien: Der „Typus“ betrifft das äußere Erscheinungsbild des kirchlichen Organismus, während die Prinzipien sein Leben und seine Lehre von innen heraus formen: Wenn die Lehren von den zugrundeliegenden Prinzipien getrennt sind, können sie auf unterschiedliche Weise interpretiert werden und zu widersprüchlichen Schlußfolgerungen führen. Die Kontinuität der Prinzipien ist daher von grundlegender Bedeutung (S. 52). Newman nennt vier unveränderliche und ewige Prinzipien: das Prinzip des Dogmas, das Prinzip des Glaubens, das Prinzip der Theologie (im Glauben empfangene Wahrheiten müssen durch die Vernunft geprüft und vertieft werden), das sakramentale Prinzip (es gibt sichtbare Zeichen, die eine unsichtbare und göttliche Gabe ausdrücken und mitteilen). Newman stellt fest: „Während die Entwicklung der Lehre in der Kirche in Übereinstimmung mit den uralten Prinzipien verlief, von denen diese Lehre abstammt, haben die verschiedenen Häresien, die zu verschiedenen Zeiten entstanden sind, auf die eine oder andere Weise […] diese Prinzipien verletzt […]“ (ebd.).
Die Kraft der Assimilation: Aufgrund des dogmatischen Prinzips war das Christentum in der Lage, verschiedene theologische Überlegungen, philosophische Gedanken und sprachliche Ausdrücke in seine Lehre aufzunehmen, während es die fehlerhaften Aspekte verwarf, und dies, so erklärt Newman, geschah in komplexen historischen Prozessen der Konfrontation, Reinigung, Klärung und Eingliederung.
Die logische Kohärenz: Während ihrer gesamten Existenz hat die Kirche immer mit Vernunft gehandelt und so ihre lehrmäßigen Entscheidungen getroffen, niemals instinktiv oder aus dem Gefühl heraus, man denke zum Beispiel an den logischen Zusammenhang zwischen dem Sakrament der Taufe, der Disziplin der Buße und der Lehre vom Fegefeuer.
Die Vorwegnahme der Zukunft: Die verschiedenen Lehren bilden ein einheitliches Ganzes und sind auf kohärente Weise miteinander verbunden, weil sie immer mit der ursprünglichen Form verbunden sind. Newman veranschaulicht diese Aussage anhand der Vorwegnahme der Lehre von der Auferstehung der Toten: Die Christen haben von Anfang an die Leiber der Toten und die Heiligkeit der Reliquien der Märtyrer mit Respekt behandelt, weil all dies auf die Verherrlichung des Leibes Christi im Geheimnis Gottes zurückgeht, die die Auferstehung derer vorwegnimmt, die am Ende der Zeiten in Gott verherrlicht werden.
Das konservative Handeln: Pater Geißler erklärt: Eine Entwicklung ist authentisch, wenn sie frühere Entwicklungen bewahrt und schützt. Wenn eine Entwicklung dem Leitgedanken oder früheren dogmatischen Definitionen widerspricht, handelt es sich um eine Korruption […] Christliche Gemeinschaften, die die Gottesmutter verehren, beten weiterhin Jesus Christus an, während diejenigen, die eine solche Verehrung ablehnen, nicht selten dazu neigen, sogar die Anbetung des Herrn aufzugeben (S. 56).
Die ewige Lebendigkeit: Dieses Unterscheidungskriterium ist der Lackmustest. Eine Verderbnis ist vorübergehend, sie beginnt und endet nach einer gewissen Zeit; wenn sie aber andauert, führt sie zu einem Prozeß der Dekadenz und des Zerfalls. Eine gläubige Entwicklung hingegen zeichnet sich durch ihre vitale Kraft aus, die Bestand hat und so erklärt, wie die Kirche „sich mit ihrer Lehre trotz so vieler Konflikte mit Häresien durchgesetzt hat, wie sie sich gegen die Mächte dieser Welt behaupten konnte, wie sie neue Elemente in ihr Erbe integriert hat, während sie ihrer Tradition treu blieb, und wie sie sich immer wieder erneuert hat, manchmal nach Zeiten tiefer Krisen“ (S. 57). An dieser Stelle blickt Newman auf die Sünden der Kirchenglieder, die manchmal das menschliche Antlitz der Kirche entstellen, und schweigt auch nicht angesichts der Momente, in denen die Kirche „in einen Zustand fast des Deliriums“, d. h. einer vorübergehenden Bewußtlosigkeit, verfiel. Doch nach einer gewissen Zeit schenkt Gott seiner Kirche, deren oberstes Haupt er ist, neue Kraft und Vitalität. Der Zeuge der Wahrheit, der vor seiner Bekehrung von der englischen Intelligenzija verehrt und bewundert wurde und dann zurückgewiesen wurde, erklärt: „Ihre wunderbaren Erweckungen, gerade als die Welt über sie triumphierte, sind ein weiterer Beweis dafür, daß es in dem System der Lehre und des Gottesdienstes, das sie entwickelt hat, keine Korruption gibt […]. Auf ihrem Weg hält sie inne und setzt ihre Funktionen fast aus. Dann erholt sie sich und ist immer noch sie selbst: alles ist an seinem Platz und bereit zum Handeln. Die Lehre, die Praktiken, das Ansehen, die Prinzipien, die disziplinäre Organisation sind da, wo sie vorher waren“ (S. 57).
Eine heilsame Hoffnung wehen die nachdenklichen Überlegungen des heiligen John Henry Newman den verwirrten und verstrickten Seelen unserer Zeit zu, die nach festen und sicheren Lehrern dürsten, wie diesem großen Bekehrten, der in der Lage war zu erklären, was der Glaube und die Kirche Christi wirklich sind, und der bereit war, wenn nötig, so weit zu gehen, sogar mit seinem eigenen Gewissen einen Toast auszusprechen, aber nur, wenn es gut geformt und gebildet ist.
*Cristina Siccardi, Historikerin und Publizistin, zu ihren jüngsten Buchpublikationen gehören „L’inverno della Chiesa dopo il Concilio Vaticano II“ (Der Winter der Kirche nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Veränderungen und Ursachen, 2013); „San Pio X“ („Der heilige Pius X. Das Leben des Papstes, der die Kirche geordnet und erneuert hat“, 2014) und vor allem ihr Buch „San Francesco“ („Heiliger Franziskus. Eine der am meisten verzerrten Gestalten der Geschichte“, 2019).
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: MiL
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