
Von Ivo Kerže*
Leo XIII. wird zu Recht als der Papst gewürdigt, der mit seiner Enzyklika Aeterni Patris (1879) die Kirche nach etwa einem Jahrhundert der Orientierungslosigkeit, in dem sich die theologischen Studien und die Ausbildung des Klerus von modernen, dem Dogma zutiefst fremden philosophischen Strömungen hatten anziehen lassen, zum Thomismus zurückführte. Dies war die Zeit, die durch das Ereignis der Französischen Revolution geprägt war, die die gesamte Gesellschaftsordnung in Europa erschütterte und zu einem großen Teil auch die kirchliche Ordnung und die dazugehörigen Lehreinrichtungen. Diese Situation, in der innerhalb des katholischen Milieus eklektische philosophische und theologische Systeme entstanden, die das Unvereinbare, d. h. den Katholizismus, mit der nachkartesianischen Philosophie verbanden, wie die ontologischen Systeme von Gioberti und Rosmini, die rationalistischen Systeme von Günther und Hermes und die traditionalistischen Systeme von Bonnetty und Ubaghs, erforderte bereits das Eingreifen von Pius IX., der diese Lehren sowohl einzeln als auch im Syllabus als Ganzes weitgehend verurteilte. Es war jedoch das Verdienst seines Nachfolgers, daß er die Abkehr vom Thomismus als Wurzel dieser Dekadenz des katholischen Denkens identifizierte und die Philosophie und Theologie des Doctor Angelicus als obligatorischen Bezugspunkt für den Unterricht in den Seminaren und kirchlichen Universitäten sanktionierte.
Dies konnte nicht überraschen, da Giocchino Pecci seit seiner Priesterausbildung ein bekannter Anhänger des Thomismus war. Er gehörte nämlich zu dem Kreis von Priestern, die von den neothomistischen Jesuiten, die sich um die Zeitschrift Civiltà Cattolica scharten, im Thomismus geschult wurden und zu denen die Namen Luigi Taparelli d’Azeglio und Matteo Liberatore gehörten. Diese Autoren, die nicht nur zu den Initiatoren des italienischen Neo-Thomismus, sondern zusammen mit dem deutschen Jesuiten Joseph Kleutgen auch des Neo-Thomismus im allgemeinen zählen, entwickelten eine thomistische Kritik des modernen Denkens, die dem Subjektivismus keinen Glauben schenkte, da sie ihre Gnoseologie nicht auf Descartes‘ „Cogito ergo sum“ oder Kants „Ich denke“, sondern auf den Begriff des Seins oder vielmehr auf das Sein und den Unterschied zwischen ihm und dem Nichtsein stützten. Diese Differenz begründet das Prinzip des Nicht-Widerspruchs, das in jedem anderen Satz vorausgesetzt wird: auch im cartesianischen Cogito ergo sum und im kantischen Ich denke. Das ist ja die Kritik, die die alte thomistische Schule des 17. Jahrhunderts an Descartes‘ Meditationen geübt hat.
Überraschend ist jedoch, daß die Rückbesinnung Leos XIII. auf den Thomismus in der Gründung des Institut superieur de philosophie an der Katholischen Universität Löwen im Jahr 1889 mit dem späteren Kardinal Désiré Mercier nicht nur als Direktor, sondern auch als zentrale und entscheidende Figur eine wichtige Konkretisierung fand. Mercier wurde als Anhänger des Kanonikus Alois van Weddingen (1841–1890) ausgewählt, eines damals bekannten Philosophen und Theologen, der die erste Wahl für Leo XIII. und das belgische Episkopat war, den König Leopold II. aber nicht aus seinem Amt als Hofkaplan entlassen wollte. Van Weddingen schlug einen „kartesianischen Thomismus“ vor, d. h. eine fragwürdige Synthese des Denkens von Thomas von Aquin mit dem für das kartesianische System charakteristischen subjektiven Ausgangspunkt, wie bereits in seinem Kommentar (1880) zu Aeterni Patris deutlich wird, der ein Lobschreiben des Papstes erhielt, und noch ausführlicher in seinem Essai d’introduction à l’étude de la philosophie von 1889. Auch Mercier stützt sich (z. B. in seiner Critériologie générale von 1899) bei der Darstellung des neothomistischen Systems auf Descartes‘ Cogito ergo sum. Und Mercier selbst wurde von Leo XIII. persönlich zum Leiter des Instituts in Löwen ernannt, das als Vorbild für die vom Papst geplante thomistische Renaissance dienen sollte.
Die Enzyklika Aeterni Patris selbst scheint von einer gewissen Offenheit für eine solche Synthese zwischen Thomismus und (post-)kartesischem Denken geprägt zu sein: natürlich nicht in dem Sinne, daß sie eine solche Synthese befürworten würde, sondern insofern, als sie sich – anders als die Enzyklika Pascendi des heiligen Pius X. – nicht eindeutig vom modernen Subjektivismus distanziert. Andererseits lesen wir in der besagten Enzyklika Passagen, die den „gelehrten und fleißigen Männern, die ihren Fleiß, ihre Gelehrsamkeit und die Fülle neuer Entdeckungen dem Studium der Philosophie zuwenden, Anerkennung zollen, denn wir wissen sehr wohl, daß dies zur Vermehrung und zum Fortschritt der Wissenschaft führt“. Dies gilt insbesondere für diejenigen, die „das Erbe der alten Weisheit“ nicht vernachlässigen, sondern „das Alte mit dem Neuen“ vermehren und vervollkommnen. „Während wir also erklären, daß wir mit offenem und dankbarem Herzen alles aufnehmen müssen, was weise gesagt und von irgendjemandem erfunden und nützlich erdacht worden ist, ermahnen wir euch alle, ehrwürdige Brüder, die heilige Lehre des heiligen Thomas wieder in Gebrauch zu nehmen und sie so weit wie möglich zu verbreiten, zum Schutz und zur Ehre des katholischen Glaubens, zum Wohl der Gesellschaft und zur Vermehrung aller Wissenschaften.“ Es ist klar, daß sich Mercier wie van Weddingen durch diese Schritte nicht davon abhalten ließ, eine Synthese zwischen Thomismus und Cartesianismus zu versuchen.
Es stellt sich die Frage, wie es sein kann, daß ein am befreienden Thomismus geschulter Papst nicht nur den modernen Subjektivismus nicht verurteilte, sondern sogar Mercier, der in diesem Subjektivismus den authentischen Ausgangspunkt des Thomismus sah, zu einer gewissen Koryphäe des Neo-Thomismus beförderte? Die Antwort scheint in Gioacchino Peccis komplexer Erfahrung als Nuntius in Belgien in den Jahren 1843–1846 zu liegen, die ihn zu einer ausgeprägten Vertrautheit mit den liberalen Ansichten des belgischen Episkopats führte, die bei Eduard Sterckx (1792–1867), dem Erzbischof von Mechelen in den Jahren von Peccis Nuntiatur, zum Beispiel dem Denken von Lamennais nahe waren: Es handelte sich, kurz gesagt, um ein katholisches intellektuelles Umfeld, in dessen Zentrum die (von Sterckx gegründete) Katholische Universität Löwen stand, die für ihre heterodoxen Tendenzen des Semiontologismus und des Halbtraditionalismus bekannt war und in der falsche Synthesen zwischen katholischem und modernem Denken gesucht wurden.
Wie auch immer diese belgische intellektuelle Erfahrung des künftigen Leo XIII. im einzelnen ausgesehen haben mag, Tatsache ist, daß es der heilige Pius X. war, der in seiner Enzyklika Pascendi (1907) das Verdienst hatte, den zeitgenössischen Subjektivismus als Wurzel des Glaubensabfalls des modernen Denkens und des theologischen Modernismus zu identifizieren und mit seinen berühmten 24 thomistischen Thesen den Weg für die neothomistische Bewegung aufzuzeigen. Dieser Weg, der mit dem liberatorianischen Antisubjektivismus verbunden war und sich im Werk von P. Garrigou-Lagrange fortsetzte, wurde jedoch vom Löwener Neo-Thomismus nicht beschritten, vor allem nicht von P. Joseph Maréchal, der den Ideen der Synthese mit dem zeitgenössischen Denken treu blieb und dessen kantianischer oder transzendentaler Thomismus weitgehend das Aufkommen der Nouvelle Théologie ermöglichte, die die Kirche schließlich in den Sturm des Zweiten Vatikanischen Konzils führte. Es ist daher zu hoffen, daß die Regierenden der Kirche bald wieder erkennen, wie wichtig der Thomismus für eine gesunde Theologie und für ein gesundes katholisches Denken im allgemeinen ist und daß nicht jeder Thomismus diesem Ziel entspricht.
*Ivo Kerže, geboren in Triest als Angehöriger der slowenischen Minderheit, unterrichtete viele Jahre dort Philosophie an einem Gymnasium, bis er wegen seiner Verteidigung katholischer Positionen entlassen wurde; seither engagiert er sich hauptsächlich für die Stärkung der katholischen Rechtgläubigkeit, insbesondere des thomistischen Denkens, in Slowenien; zu diesem Zweck übersetzte und kommentierte er die Summa theologiae ins Slowenische und ist Autor weiterer Bücher.
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Corrispondenza Romana