Buchbesprechung von Wolfram Schrems*
Der auf dieser Seite schon oft präsentierte Renovamen-Verlag bringt in diesen Wochen ein klassisches Werk der Spiritualität neu heraus. Es gehört zu denjenigen Werken, die man gerne früher kennengelernt (und beherzigt) hätte.
Dionysius der Kartäuser (1402–1471) zwingt den Leser förmlich, dem Ernst der Letzten Dinge ins Auge zu blicken und daraus die Konsequenzen für das Leben zu ziehen. Das hätte selbstverständlich auch eine politische Dimension:
Hätten das die Menschen in den letzten fünf Jahren aufrichtig gemacht, hätten die global inszenierten Krisen nicht die Unterstützung breiter Bevölkerungsteile genossen und wären erfolglos geblieben. –
Die vorliegende Ausgabe ist die Übersetzung der italienischen gekürzten Volksausgabe des lateinischen Originals, anhand dessen gemäß dem Herausgeber „die deutsche Übersetzung durchgesehen und soweit möglich neuerem Sprachempfinden angeglichen“ wurde.
Im Vorwort schreibt Hw. Andreas J. M. Caldelas Schwarz, emeritierter Pfarrer im Bistum Roermond, zum Autor:
„Dionysius, der Mönch aus der Kartause zu Roermond, damals im Gebiet von Obergeldern Teil des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, war ein hervorragender Wissenschaftler, Philosoph, Exeget und Theologe, dessen umfangreiches Werk in unserer Zeit neu entdeckt werden sollte.“
Die Lektüre ist für den mit aufrichtigem Interesse Lesenden eine beunruhigende, vielleicht sogar erschütternde Erfahrung. Hochwürden warnt daher, was der Rezensent durchaus unterstützt:
„Es soll aber auch nicht verschwiegen werden, ja es muß sogar ausdrücklich gewarnt werden (hier spreche ich als langjähriger Seelsorger und Beichtvater), daß dieses Buch dem Skrupulösen eher zum Fluch als zum Segen werden kann. Schon der große Jesuit Johannes Scaramelli hat in seinem Buch zur Unterscheidung der Geister hierüber eine deutliche Warnung ausgesprochen.“
Andererseits ist es genau das, was die Menschen in unserer tief in Gottlosigkeit und Verzweiflung steckenden Zeit am meisten brauchen würden. –
Papst Leo XIII. empfahl den Traktat und gab seinen besonderen Segen zur Anfertigung einer Übersetzung ins Italienische.
Der Autor
Der ehrwürdige (aber nicht heilig- oder seliggesprochene) Dionysius lebte ein ungewöhnlich strenges Leben. Es wird vermerkt, daß er sich nach dem nächtlichen Gebet nicht mehr schlafen legte, sondern diese Stunden zu Gebet, Studium und Verfassertätigkeit nützte. Ein solcher Lebensstil läßt auf eine besondere göttliche Hilfe schließen.
Dionysius wollte nur als gering gelten und übte sich in Abtötung und Demut.
Er erhielt private Offenbarungen:
„In diesem Zustand würdigte der Herr ihn dann, Blicke zu tun in die Zukunft und in die geheimnisvolle Welt des Jenseits, und ließ ihn auch den elenden Zustand schauen, in dem sich damals die Kirche befand, sowie auch die große Verkommenheit der verschiedenen Stände und die schrecklichen Strafgerichte, die darauf folgen würden.“
In die Lebenszeit von Dionysius fiel die Eroberung Konstantinopels durch die Türken (29. Mai 1453). Diese Katastrophe wurde von vielen als Strafe Gottes für Unmoral und Schisma (Scheitern des Unionskonzils von Florenz-Ferrara) betrachtet.
Dionysius verfaßte eine Schrift gegen den Koran, um die Anhänger des Islams aus dem Irrtum zu befreien. Das blieb genauso erfolglos wie sein Aufruf an die christlichen Fürsten zu einem Kreuzzug gegen die Türken.
Das Werk
Der gegenständliche Traktat besteht aus zweiundsechzig Kapiteln, die – mit unvermeidlichen Wiederholungen – den Ernst der Letzten Dinge, Tod, Gericht, Himmel und Hölle, unter Rückgriff auf die Aussagen der Hl. Schrift, übrigens unter besonderer Heranziehung der alttestamentlichen Weisheitsliteratur (Sir, Spr, Weish), und der Väter ausführlich darstellen. Aus der Erwägung der Letzten Dinge soll sich eine segensreiche Gestaltung der Lebensführung ergeben: „Bei all deinen Worten bedenke dein Ende, und du wirst in Ewigkeit nicht sündigen!“ (Sir 7,36 nach EÜ).
Dionysius geißelt die Torheit jener, die sich darum überhaupt nicht kümmern.
Wichtige Punkte des Traktates: Vorbereitung auf das Lebensende, Gefahren für das Heil…
Der Sterbende ist von besonderen Versuchungen bedrängt, gegen die er sich rechtzeitig wappnen muß, sowohl gegen eitle Selbstgefälligkeit als auch gegen Verzagtheit und Verzweiflung. Es kann aber auch sein, „daß man in vielem vor Gott schuldbar ist, ohne sich dessen selbst bewußt zu sein; weshalb ja auch viele Heilige in ihrer Todesstunde in höchster Furcht waren“.
Dionysius schreibt, daß der Teufel jedem Sterbenden „in fürchterlicher Gestalt“ erscheint, worauf man sich rechtzeitig im Leben vorbereiten muß.
Besonders bemerkenswert scheint, daß Dionysius vor Ehren, Würden und Macht warnt. Diese seien oft Anlaß, „mich in Dünkel und Stolz über andere zu erheben“. Sie sind potentielle Ablenkungen vom Heil (vgl. Joh 5,44). Ehrungen sind heutzutage ja auch oft lügenhaft, weil sie auch für unmoralisches Handeln verliehen werden.
Zeitverschwendung und Zerstreuungen im Gebet sind schuldhaft:
„Wieviel Gutes unterlassen wir in jeder Stunde! Wie unnütz bringen wir oft die Zeit zu, oder sogar auf sündhafte Weise! Wie oft überschreiten wir das rechte Maß im Essen, Trinken und Schlafen! Und wie mangelhaft und unvollkommen sind die guten Werke, die wir verrichten! Abt Agathon sagt sogar, daß, wenn Gott uns die Zerstreuungen unseres Herzens und die Nachlässigkeiten, deren wir uns bei unsern Gebeten schuldig machen, anrechnen würde, wir nicht selig werden könnten.“
Hier hat der Verfasser des Vorwortes recht: Gerade die Aussage Agathons könnte den skrupulösen Leser entmutigen und vom Gebet abhalten, wiewohl sie vom Wortlaut her natürlich als Zuspruch und Ermutigung formuliert ist. Aber sie legt nahe, daß wir absolut nichts Gottgefälliges tun können, nicht einmal im Gebet. Hier scheint ein gewisser Rigorismus zu obwalten.
…angenehme Weltlichkeit als Gefahr des Heilsverlustes…
Wem weltlich gesprochen nichts fehlt, wem alle Pläne gelingen, wer sich alles leisten kann u. dgl., ist in der größten Gefahr:
„Eben hieraus ergibt sich auch, wie wahr die hl. Väter gesprochen haben, die lehren, es sei nichts so gefährlich, als hier in dieser Welt, dieser Stätte der Verbannung und der Buße, diesem Tal der Tränen, in Glück und Wohlbehagen zu leben und von Gott nicht heimgesucht zu werden, wie das oft bei den Sündern vorkommt“.
…und Gott als strenger Richter und barmherziger Liebender
Gott erscheint in der Darstellung von Dionysius oft als hart, geradezu rachsüchtig. Dionysius kann sich dabei auf die vielen Worte Jesu Christi vom ewigen Feuer berufen, muß es auch tun. Er erklärt die Schwere der Sünde als Beleidigung der göttlichen Würde und Wohltätigkeit.
Nicht nachvollziehbar ist allerdings seine Aussage, daß Gott „die Sünder in der Hölle noch viel milder bestraft, als diese es verdient haben.“
Andererseits stellt Dionysius auch die Liebe Gottes mit einer überraschenden Deutung des Hohen Liedes dar:
„,Komm in meinen Garten, meine Schwester, meine Braut!‘ (Hld. 5,1) – So spricht der allmächtige und glorwürdigste Schöpfer zu jeder heiligen Seele, die sich noch hienieden auf der irdischen Wanderschaft befindet. Er liebt die tugendhaften Seelen so sehr und läßt sich so weit zu ihnen herab, daß er es nicht für unter seiner Würde hält, sie Freundinnen, Schwestern, Bräute und Töchter zu nennen; und wenn eine solche Seele im Begriff steht, aus dieser Welt zu scheiden, lädt er sie mit den angeführten Worten zu den Wonnen des Paradieses ein.“
Der Sohn Gottes selber versichert, er werde seine Auserwählten im Himmel bei Tisch bedienen, eine besonders schöne Verheißung des Evangeliums (Lk 12,37):
„Und dieses Bedienen gereicht ihm nicht im entferntesten zur Unehre oder Erniedrigung, sondern legt nur um so beredteres Zeugnis von seiner übergroßen Huld und Geneigtheit den Eingeladenen gegenüber ab, wie es ja auch auf Erden mitunter vorkommt, daß Personen von hohem Rang, von Liebe und Menschenfreundlichkeit beseelt, ihre Untergebenen bei Tische bedienen.“
Das Weltende und die Rache der Schöpfung
Dionysius kommt auf das Allgemeine Gericht am Ende der Zeit und die vorhergehenden furchterregenden Ereignisse zu sprechen. Diese sollen in ihrer Zeichenhaftigkeit eine letzte Warnung vor der Hölle sein.
Dabei wird die Rolle der Schöpfung, die sich vor dem sündigen Menschen immer mehr ekelt und förmlich zurückschlägt, thematisiert, ein „menschengemachter Klimawandel“ sozusagen:
„Und doch, während die ganze Schöpfung so voller Furcht ist vor Gott dem Herrn, ist der Mensch so unvernünftig, daß er den Herrn nicht nur nicht fürchtet, sondern sogar unverschämt und hemmungslos seine Gebote übertritt – eine Nichtswürdigkeit, welche die anderen Geschöpfe kaum ertragen können, worüber sie in höchstem Unwillen entbrennen und wofür sie mit Ungestüm von Gott Rache fordern, die Gott indes in seiner Langmut und Barmherzigkeit hinausschiebt.“
Gott wird die Geschöpfe „zur Rache wider seine Feinde bewaffnen“ (Weish 5,18.21) und die Kreatur wird zur Strafe gegen die Ungerechten heftig auffahren (Weish 16,24).
Das ist in unserer Zeit besonders zu bedenken.
Eine bemerkenswerte Aussage macht Dionysius zum Auftreten des Antichrist:
Nach dessen Vernichtung werden „sein Betrug und seine Falschheit offenbar werden, und fast alle Ungläubigen werden sich zu Jesus Christus bekehren. Und wie die kirchlichen Lehrer (z. B. Hieronymus, Theodoret) dem Propheten Daniel (Dan. 12, 11 f) entnehmen, wird dann jenen, die vom Antichrist getäuscht worden waren, eine Frist von 45 Tagen gewährt werden, um in sich zu gehen und Buße zu tun.“
Eine nicht näher bestimmte Anzahl von Anhängern des Antichrist werden aber „in ihrem Abfall und in ihrer Bosheit verharren. Indem sie nämlich sehen, daß das Ende der Welt nicht sogleich eintritt“, werden sie dreist. Dahingehend werden 1 Thess 5,3 und Mt 24, 37 ff interpretiert.
Offenbar hat die kirchliche Autorität in Person der Vorgesetzten des ehrwürdigen Dionysius diese Schriftauslegung nicht verworfen, aber freilich auch nicht vorgeschrieben.
Resümee
Dionysius redet dem Leser mit solcher Gewalt ins Gewissen, daß es oft kaum erträglich ist. Manchmal scheint es, wie gesagt, übertrieben: Er bestreitet beispielsweise, daß wir Gewißheit über die Aufrichtigkeit unserer Reue haben können. Das kann den Leser zwar zu größerer Sorgfalt im Innenleben anleiten, aber durch die Radikalität dieser Aussage auch das Gegenteil erzielen und den Leser in Skrupel oder Verzweiflung führen. Diese Aussage könnte auch die Beichtpraxis unterminieren und dem Lutherschen Fiduzialglauben Vorschub leisten.
Andererseits ist, wie eingangs gesagt, das Problem der westlichen Christenheit des Jahres 2024 nicht die Skrupulosität, sondern die unverschämte Herausforderung Gottes durch Greuel aller Art bei wohlwollender Zustimmung pflichtvergessener, ja verräterischer kirchlichen Autoritäten. –
Den Leser mag überraschen, daß Dionysius das Zeugnis von Verstorbenen heranzieht, die wieder zum Leben zurückkehrten und die kirchliche Lehre vom Jenseits in drastischen Worten bekräftigten. Er war selbst offenbar nicht Augenzeuge solcher Vorgänge, seine Gewährsmänner sind Papst Gregor d. Gr., Beda Venerabilis und Hieronymus. –
Eine Lehre des Buches ist sodann:
Wenn die Mahnungen des Dionysius und der gesamten christlichen Eschatologie nicht auch kulturell und kollektiv präsent sind, erreichen sie den einzelnen natürlich nur schwer und dann mit schwacher Wirkung. Unvermeidlich ist man auch „Kind seiner Zeit“, in unserem Fall einer gottvergessenen und dekadenten. Dionysius kann mithelfen, die Saumseligkeit, die jeden auf bestimmte Weise ergreift, zu überwinden. –
Dionysius schreibt, daß jeder, der sich ernsthaft bemüht, die glorreiche Siegespalme gewinnen oder sie „verdienen“ kann. Andererseits spricht er bei den Seligen meist als von den „Auserwählten“, eine biblische Formulierung, die alleiniges Wirken Gottes und menschliche Passivität oder Fatalismus nahelegen könnte. Wir werden das Ineinander von göttlicher Gnade und menschlicher Mitwirkung diesseits der Todesschwelle nie ganz verstehen. Klar ist aber: Die menschliche Verantwortung soll und muß wirken. Die Erlangung des Heils ist Gnade Gottes und gleichzeitig Frucht der Mitwirkung des Gläubigen. Der Leser muß bei der Wortwahl des Autors beachten, daß Dionysius keinen Traktat zur Soteriologie in der technischen Terminologie der Scholastik vorlegen will. –
Schließlich ist es wichtig zu beachten, was Dionysius über das Fegfeuer schreibt, das heutzutage auch von Hirten und Theologen unterschlagen oder bestritten, von manchen Gläubigen auf die leichte Schulter genommen wird. Das Fegfeuer sollte dringendst vermieden werden. –
Man stelle sich nur vor, wie eine Gesellschaft aussehen muß, in der die Menschen die Mahnungen des ehrwürdigen Dionysius ernstnehmen und ihr Leben mit ehrlichem Bemühen nach den Geboten der Gottes- und Nächstenliebe ausrichten würden. Sie wäre ein Vorgeschmack des Himmels. –
Dank und Anerkennung dem Übersetzer und Verleger. Möge die Publikation AMDG vielen nützen.
Dionysius der Kartäuser, Von den letzten Dingen des Menschen, Renovamen-Verlag www.renovamenverlag.de, Bad Schmiedeberg, 271 S.; Aus dem Italienischen übertragen durch einen römisch-katholischen Priester, mit einem Vorwort von Hw. Andreas J. M. Caldelas Schwarz, em. Pfarrer, Diözese Roermond
*Wolfram Schrems, Wien, Mag. theol., Mag. phil., Katechist, Pro Lifer, beschäftigt sich seit Jahren mit dem Zusammenhang von Glauben und Gesellschaftsordnung
„Entfernt man Gott aus dem Menschengeschlecht,
dann wird nicht nur dieses,
sondern auch die Natur in ein Chaos gestürzt.
Hieraus erhellt die Möglichkeit, ja die Wahrscheinlichkeit,
dass das Ende der zeitlichen Welt nicht wie eine schicksalshafte Katastrophe über die Menschheit hereinbrechen,
sondern von ihr selbst hervorgerufen wird!“
Add den 45 Tagen:
Sie ergeben sich aus der Differenz der 1290 Tage und den 1335 Tagen in Daniel (12,11–12):
„Von der Zeit an, in der man das tägliche Opfer abschafft und den unheilvollen Gräuel aufstellt, sind es zwölfhundertneunzig Tage.
Wohl dem, der aushält und dreizehnhundertfünfunddreißig Tage erreicht!“
Wie der große niederländische Historiker Johan Huizinga treffend bemerkt, war das Spätmittelater die Epoche, wo der Todesgedanke so stark und ständig im Vordergrund war.
Dionysius‘ Büchlein „Speculum conversionis peccatorum“ (Spiegel der Bekehrung der Sünder) wurde übrigens als erstes Buch in den Niederlanden gedruckt, 1473 in Aalst von Dirk Martens, ein deutlicher Hinweis auf die große Nachfrage nach erbaulicher frommer Literatur.