
Die positive Entscheidung des Heiligen Stuhl zu Medjugorje überraschte Beobachter einigermaßen, da Papst Franziskus seine persönliche Distanz seit 2013 mehrfach und sehr deutlich zum Ausdruck gebracht hatte (über Erscheinungen und Seher: „Maria ist keine Oberpostbeamtin, die uns täglich Botschaften schickt“, „Maria ist keine Postbotin für irgendwelche Privatbotschaften“; über Gläubige, die daran glauben: „Mich nervt, wenn sie mit den Botschaften kommen“ usw.). Katholisch.de, das Nachrichtenportal der Deutschen Bischofskonferenz, schrieb im Juni 2015 zu den Erscheinungen in Medjugorje: „Von der Kirche sind sie bisher nicht anerkannt. Und wenn es nach Franziskus geht, wird sich das künftig auch nicht ändern.“ Nun kam es doch anders. Oder doch nicht? Ein Mariologe im Dienst des Papstes lieferte nun eine Interpretation der Medjugorje-Entscheidung, die etwas Einblick in das römische Denken erlaubt.
In der Tat ist die Sache mit der Anerkennung, die nicht anerkennt, etwas verwirrend, allein schon sprachlich: Medjugorje wurde nun von Rom anerkannt, aber doch nicht anerkannt. Wie bringt man das aber korrekt zum Ausdruck? Dem herzegowinischen Ort wurde die höchstmögliche Anerkennung laut den seit Mai geltenden neuen Normen zur Beurteilung sogenannter übernatürlicher Phänomene gewährt. Zugleich wurden aber weder die Erscheinungen noch irgendwelche Botschaften anerkannt.
Was ist also mit den Botschaften, die das römische Anerkennungsdokument sogar direkt zitiert? Laut Kardinalpräfekt Tucho Fernández am Donnerstag bedeute das keine Anerkennung eines übernatürlichen Ursprungs. Die Botschaften werden von Rom nur als „erbauliche Texte“ gesehen und als solche gewertet.
Da kann schon einige Verwirrung aufkommen.
Chiara Amirante, die von Papst Franziskus sehr geschätzte und in verschiedene vatikanische Gremien berufene Gründerin einer Gemeinschaft für Jugendliche in Problemsituationen, die aber auch mit Medjugorje sehr verbunden ist, erzählte seit 2018, daß Franziskus einen Sinneswandel zu dem kroatischen Bergdorf in der Herzegowina durchgemacht habe. Woher dieser rührte, erklärte sie allerdings nicht oder nicht glaubhaft.
Glaubwürdig ist hingegen ihre Darstellung, daß Franziskus sich ihr gegenüber als „Retter von Medjugorje“ präsentierte. Tatsächlich war die Stimmung in der Glaubenskongregation insgesamt, erst recht jedoch nach dem Bericht der Ruini-Kommission, eindeutig negativ.
Vielleicht gefiel sich Franziskus tatsächlich in der „Retterpose“ und darin, gegen die Glaubenskongregation, damals noch von Kardinal Müller, dann von dessen Stellvertreter geleitet, zu handeln. Die neuen Normen und die seither in schneller Folge durchgewunkenen Entscheidungen zu außergewöhnlichen Phänomenen kamen erst mit dem Wechsel an der Spitze der Glaubenskongregation, heute Glaubensdikasterium genannt, indem Franziskus seinen Intimus Tucho Fernández an diese zentrale Position setzte. Und über die Persönlichkeit von Papst Franziskus wurde schon viel gerätselt.
Bezüglich der nunmehrigen Entscheidung zu Medjugorje liegt jetzt allerdings eine interessante Interpretation vor. Sie stammt nicht von irgendeinem Mariologen, sondern einem Mitglied der im April 2023 errichteten Internationalen Beobachtungsstelle für Marienerscheinungen und mystische Phänomene, die bei der Internationalen Marianischen Päpstlichen Akademie angesiedelt ist. Bei dieser von Papst Franziskus geschaffenen „Spezialeinheit“ herrscht eine besondere Mentalität (auch hier und hier) in bezug auf Marienerscheinungen und andere außergewöhnliche Phänomene.
Pater Gian Matteo Roggio, Missionar Unserer Lieben Frau von La Salette, nahm gestern als bisher einziger der päpstlichen Fachgruppe in der linksliberalen La Repubblica, der von Papst Franziskus bevorzugt gelesenen Tageszeitung, zur Medjugorje-Entscheidung Stellung. Seine Darlegung kann dabei helfen, die römische Entscheidung zu Medjugorje zu entziffern – und auch zu anderen Phänomenen, darunter Amsterdam.
In dem Interview bezeichnet der Mariologe die Entscheidung als ein „Zeichen der Kirche“, mit der sie signalisiere, die „Frömmigkeit des Volkes“ wertzuschätzen, aber „Fanatiker“ fernhalten zu wollen. Das scheint, folgt man Pater Roggio, ein Hauptmaßstab des römischen Handelns gegenüber besonderen Phänomenen zu sein. Hier der vollständige Wortlaut des Interviews:
La Repubblica: Ist es nicht paradox, den Kult um die Erscheinungen einer Madonna zu billigen, von der man nicht weiß, ob sie wirklich erschienen ist?
Pater Gian Matteo Roggio: Im Laufe der Jahrhunderte hat die Kirche immer die Frömmigkeit des Volkes bevorzugt. In den Augen der kirchlichen Autorität ist die Bedeutung wichtiger als der Tatbestand, was das Dikasterium für die Glaubenslehre als positive Früchte definiert. Die Frömmigkeit enthält die grundlegenden Elemente einer christlichen Lebensweise, und daran ist die Kirche interessiert.
La Repubblica: Schon in der Vergangenheit gab es Skepsis gegenüber vielen Erscheinungen. Pius XI. soll ausgerufen haben: „Sie sagen, daß ich Sein Stellvertreter auf Erden bin, wenn Sie mir etwas mitteilen wollen, können Sie es mir sagen.“
Pater Gian Matteo Roggio: Ja, aber dieser Satz ist typisch für die Mentalität der damaligen Zeit. Vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil hatten Erscheinungen oder mystische Erfahrungen nicht denselben Stellenwert. Und vergessen wir nicht, daß Pius XI. in den zwanziger und dreißiger Jahren regierte, der Papst gerade den Kirchenstaat verloren hatte, es gab den Faschismus in Italien, den Nationalsozialismus in Deutschland, den sowjetischen Bolschewismus und die Kirche fühlte sich belagert. Es war notwendig, sich auf diese Probleme zu konzentrieren und die Reihen um den Papst zu schließen, der Rest zählte wenig.
La Repubblica: Zurück zu heute: Wer sind die Medjugorje-Fanatiker, von denen Kardinal Fernández sprach?
Pater Gian Matteo Roggio: Diejenigen, die glauben, daß die Welt gerettet wird, wenn man alles tut, was in Medjugorje gesagt wird, weil sonst die Welt in eine Katastrophe gerät. Diese Art von Fanatismus kann seinen Gegenstand ändern, aber seine Dynamik ist immer dieselbe. In Trevignano, wo es angebliche Erscheinungen der Jungfrau gab, die vom Heiligen Stuhl dementiert wurden, gab es die gleiche Dynamik. Diese Art der Argumentation läßt keine Freiheit und verändert die Quellen des Glaubens völlig. Medjugorje mag ein Mittel sein, um zum Herzen des Glaubens zu gelangen, aber das Herz des Glaubens ist nicht Medjugorje, sondern Jesus Christus, der gestorben und auferstanden ist.
La Repubblica: Es gibt auch Gläubige, die einige Erscheinungen, zum Beispiel die sogenannte Frau von Amsterdam, nutzen, um die Päpste und das Zweite Vatikanische Konzil anzugreifen.
Pater Gian Matteo Roggio: Ja, sehr oft bringt diese Art von Fanatismus jene Gruppen zusammen, die wir als Nostalgiker bezeichnen könnten, Menschen, die es sehr schwierig finden, in der Gegenwart zu leben, und die denken, daß die Vergangenheit ein goldenes Zeitalter ist. Sie sind der Meinung, daß die Krise, in der sich die Kirche heute befindet, die Schuld des Zweiten Vatikanischen Konzils ist, aber andererseits befinden wir uns inmitten eines allgemeinen anthropologischen Wandels, und der christliche Glaube kann nicht mehr so weitergegeben werden, wie es früher der Fall war. Es ist ein Wandel, der die Kirche auffordert, wie Papst Franziskus sagt, nach anderen Wegen zu suchen, um den Glauben auch der heutigen Welt zu verkünden.
Text/Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Facebook/TV2000/MiL (Screenshots)