Von Roberto de Mattei*
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entsteht in Europa eine neue philosophische Schule, die versucht, das moderne Denken zu seiner „kritischen Reife“ zu bringen. Begründer dieser neuen Schule war Edmund Husserl (1859–1938), Professor in Göttingen und Freiburg im Breisgau, der nach der Objektivität des Wissens und der Werte im menschlichen Bewußtsein suchte.
In Husserls Mitarbeiterkreis ragen zwei junge Gelehrte heraus, Edith Stein und Martin Heidegger, deren gegensätzliche intellektuelle und existentielle Wege die unterschiedlichen Möglichkeiten der Philosophie und der modernen Zivilisation emblematisch zusammenzufassen scheinen. Martin Heidegger, der als Katholik geboren wurde, ging den theoretischen Weg des modernen Immanentismus bis zum Ende und gelangte zu einem ebenso vieldeutigen wie radikalen Nihilismus. Er trat die Nachfolge Husserls auf dem Lehrstuhl an, schloß sich dem Nationalsozialismus an und beendete nach dem Krieg seine Existenz als anerkannter Philosoph. Heute ist er ein umstrittener Prophet der postmodernen Linken.
Edith Stein, Husserls Lieblingsschülerin, geboren als Jüdin, konvertierte nach einer schmerzhaften persönlichen Suche zur katholischen Kirche. Sie kehrte einer glänzenden Universitätskarriere den Rücken und fand in der Seinsphilosophie des heiligen Thomas von Aquin und in den inneren Tiefen des Karmel die Fülle der Wahrheit und des Lebens, nach der sie sich sehnte. Sie besiegelte ihre völlige Treue zu Christus mit dem Martyrium. Ihre Gestalt verdient es, daß man sich an sie erinnert.
Edith Stein wurde 1891 in Breslau (Deutsches Reich) als elftes Kind eines gläubigen jüdischen Ehepaars geboren. Nach dem erfolgreichen Abschluß des Gymnasiums schrieb sie sich 1910 an der Universität Breslau ein. Im Jahr 1913 wechselte sie an die Universität Göttingen, wo sie den Philosophen Husserl kennenlernte, dessen Assistentin sie zusammen mit dem zwei Jahre älteren Martin Heidegger wurde.
Die Autobiographie der heiligen Teresa von Avila, die sie in einer Sommernacht im Jahr 1921 las, veränderte ihr Leben. Edith war allein im Landhaus einiger Freunde, die für eine kurze Zeit verreist waren. Sie selbst erzählt: „Ich nahm zufällig ein Buch aus der Bibliothek mit; es trug den Titel ‚Das Leben der heiligen Teresa, von ihr selbst erzählt‘. Ich begann zu lesen und konnte es nicht mehr aus der Hand legen, bis ich es zu Ende gelesen hatte. Als ich es zuklappte, sagte ich zu mir: Das ist die Wahrheit.“
Gegen den Willen ihrer Eltern ließ sich Edith taufen und empfing am Neujahrstag 1922 ihre Erstkommunion. Sie wendet sich von einer erfolgversprechenden Zukunft ab und tritt am 14. Oktober 1933, als der Nationalsozialismus gerade im Deutschen Reich an die Macht gekommen war, unter dem Namen Schwester Teresa Benedicta vom Kreuz in das Karmeliterkloster in Köln ein. Pater Cornelio Fabro schrieb über sie: „Das karmelitische Leben erfüllte sie mit einem Seelenfrieden, einer Lebensfülle, einer unaussprechlichen Herzensfreude, die auf alle ausstrahlte, die sich ihr bei seltenen Gelegenheiten nähern konnten: Ihr klares und jugendliches Auftreten vermittelte eine Würde der Einfachheit, eine barmherzige Freundlichkeit, ein brüderliches Verständnis, das jene Freude und jenen Schmerz zugleich vermittelte, von dem wir jedes Mal ergriffen werden, wenn uns in diesem elenden Dasein ein echter Strahl des unendlichen Guten berührt“ (Edith Stein, dalla filosofia al supplizio, in: Ecclesia, IX, 7, 1949, S. 344–346).
Am 21. April 1933 wurde Martin Heidegger auf Vorschlag einer Gruppe nationalsozialistischer Professoren zum Rektor der Freiburger Albert-Ludwigs-Universität gewählt. Am 21. April 1938 legte Schwester Teresa Benedicta vom Kreuz ihre Ewige Profeß im Karmel ab. Wenige Tage später, am 26. April, stirbt ihr Lehrer Edmund Husserl in Freiburg und spricht Worte der Gotteshingabe aus. Martin Heidegger wird 1976, nach einer trüben Liebesbeziehung mit seiner Schülerin Hannah Arendt, im Alter von sechsundachtzig Jahren in Freiburg sterben.
Um der rassistischen Verfolgung zu entgehen, verließ Edith in der Nacht des 30. Dezember 1938 das Karmelitenkloster in Köln und suchte Zuflucht im Karmelitenkloster in Echt in Holland. Sie schrieb: „Ich habe einen ständigen Gedanken: Hier unten gibt es keinen dauerhaften Wohnsitz. Ich wünsche mir nichts anderes, als daß Gottes Wille in mir und durch mich geschieht: Wie lange wird er mich hier lassen und was wird danach geschehen? All das hängt von Ihm ab, und deshalb brauche ich mir keine Sorgen zu machen. Aber es ist wichtig, viel zu beten und unter allen Umständen treu zu bleiben.“ „Von nun an“, schrieb sie in ihrem Testament, “nehme ich den Tod, den Gott für mich bestimmt hat, mit Freude und in völliger Unterwerfung unter seinen heiligsten Willen an. Ich bitte den Herrn, mein Leben und meinen Tod zu seiner Ehre und Verherrlichung anzunehmen […], für das jüdische Volk, damit der Herr von den Seinen aufgenommen werde und Sein Reich komme […], für das Heil Deutschlands und für den Frieden in der Welt; schließlich für meine lebenden und toten Verwandten und für alle, die Gott mir anvertraut hat: damit niemand verloren gehe.“
Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs im Mai 1940 wurde Holland von den Deutschen besetzt. Am 2. August 1942 ließ der eingesetzte Reichskommissar alle nichtarischen Ordensfrauen und ‑männer in den Klöstern als Vergeltungsmaßnahme gegen den niederländischen Episkopat, der sich öffentlich gegen die Judenverfolgung ausgesprochen hatte, verhaften, etwa 300 an der Zahl. Schwester Teresa Benedicta wurde zusammen mit ihrer Schwester Rosa im Konzentrationslager Auschwitz interniert, wo sie am 10. August 1942 ums Leben kam.
Schwester Teresa Benedicta vom Kreuz, Karmelitin, Jungfrau und Märtyrerin, wurde 1987 von Johannes Paul II. seliggesprochen, 1998 heiliggesprochen und zusammen mit der heiligen Katharina von Siena und der heiligen Birgitta von Schweden zur Patronin Europas ernannt.
Edith Steins Größe lag mehr noch als in ihrem Martyrium in der heroischen Entscheidung, dem Geist der Welt den Rücken zu kehren und in die geistigen Tiefen des Karmel einzutauchen. Die Gnade des Märtyrertums war der Lohn für diese glühende Liebe zur Wahrheit, die sich wie ein roter Faden durch ihr Leben zog.
*Roberto de Mattei, Historiker, Vater von fünf Kindern, Professor für Neuere Geschichte und Geschichte des Christentums an der Europäischen Universität Rom, Vorsitzender der Stiftung Lepanto, Autor zahlreicher Bücher, zuletzt in deutscher Übersetzung: Verteidigung der Tradition: Die unüberwindbare Wahrheit Christi, mit einem Vorwort von Martin Mosebach, Altötting 2017, und Das Zweite Vatikanische Konzil. Eine bislang ungeschriebene Geschichte, 2. erw. Ausgabe, Bobingen 2011.
Bücher von Prof. Roberto de Mattei in deutscher Übersetzung und die Bücher von Martin Mosebach können Sie bei unserer Partnerbuchhandlung beziehen.
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Corrispondenza Romana
H. als Vordenker der postmodernen Linken?? Normalerweise wird er als „rechts“ eingestuft.
Inwiefern war seine Beziehung zu H. Arendt „trüb“? Da nicht jeder mit den Details zu H.s Leben vertraut ist, wäre dies näher auszuführen.
Bemerkenswerterweise wird einer der berüchtigten Konzils-Periti, Karl Rahner, als Heideggerschüler bezeichnet. Inwieweit das stimmt und was H. von diesem seinem Schüler hielt, wäre interessant. Die philosophischen Arbeiten Rahners sind Schrott, auch wenn sein Andenken von der heute extrem provinziellen Innsbrucker theologischn Fakultät hochgehalten wird.
Eine großartige Frau und Heilige. Was soll man mehr bewundern: ihre herausragende denkerische Klarheit und Stringenz, die ihr erlaubte, Schwieriges mit einfachen Worten zu klären oder ihre vollkommene Hingabe an den Willen Gottes. Dieser beispielhafte Text ist Band 19 der Edith Stein Gesamtausgabe (Geistliche Texte I) entnommen:
„Das Fiat voluntas tua in seinem vollen Ausmaß muß die Richtschnur des Christenlebens sein. … Christus ist Gott und Mensch, und wer an seinem Leben Anteil hat, muß am göttlichen und am menschlichen Leben Anteil haben. Die menschliche Natur, die er annahm, gab ihm die Möglichkeit zu leiden und zu sterben. Die göttliche Natur, die er von Ewigkeit besaß, gab dem Leiden und Sterben unendlichen Wert und erlösende Kraft. Christi Leiden und Tod setzt sich fort in seinem mystischen Leibe und in jedem seiner Glieder. Leiden und sterben muß jeder Mensch. Aber wenn er lebendiges Glied am Leibe Christi ist, dann bekommt sein Leiden und Sterben durch die Gottheit des Hauptes erlösende Kraft. Das ist der objektive Grund, warum alle Heiligen nach Leiden verlangt haben. Das ist keine perverse Lust am Leiden. Den Augen des natürlichen Verstandes erscheint es als Perversion. Im Licht des Erlösungsgeheimnisses erweist es sich als höchste Vernunft. Und so wird der Christusverbundene auch in der dunklen Nacht der subjektiven Gottferne und ‑verlassenheit unerschüttert ausharren; vielleicht setzt die göttliche Heilsökonomie seine Qual ein, um einen objektiv Gefesselten zu befreien. Darum: Fiat voluntas tua! auch und gerade in der dunkelsten Nacht.“
Sie hat dies bis zur Gänze auskosten müssen. Es tut not, den Blick in diesen trüben Zeiten auch der Kirche wieder auf diese großartige Heilige zu richten. Danke für diesen Artikel.
Ein feines Doppelportrait.
Heidegger, aus einem frommen katholischen Haus stammend, mit großzügiger kirchlicher Hilfe das Gymnasialstudium ermöglicht, schon früh Ministrant, erst bei den Jesuiten eingetreten, dann ins bischöfliche Priesererseminar und dort wegen psychosomatischer Herz- und Atembeschwerden weggegangen/weggeschickt, hat dann den Glauben ganz verloren und ist in das Amoralische abgerutscht.
Sein Werk „Sein und Zeit“ ist geprägt von Angst und Tod und Schmerz.
Der bahnbrechende Philosoph der Phänomenologie Husserl, wie Edith Stein jüdischer Herkunft, wurde von Heidegger schmählich im Stich gelassen.
„Rechts“ war vielmehr Max Scheler, ebenfalls jüdischer Abstammung, mit interessanten Ansätzen zur Metaphysik und Religion.
Der große Antipode von Heidegger war jedoch Helmuth Plessner mit der philosophischen Anthropolgie. Er beschrieb die Conditio humana, positionierte sich nach dem Krieg gegen Heidegger und die linken Destrukturalisten. Plessner, ebenfalls jüdischstämmig und fast Heideggers Altergenosse, erlebte hautnah die Verfolgung durch das Dritte Reich, überlebte in den Niederlanden im Untergrund, kehrte nach Deutschland zurück und verlor nie die Hoffnung.
Gerade gegenüber so vielen tapferen Menschen fällt die menschliche Schwäche und Schäbigkeit Heideggers äusserst negativ auf.
Von Einsicht, aufrichtiger Reue und eifriger Buße (Kard. Manning) war nie die Rede.