
Von Roberto de Mattei*
Es gibt eine katholische Lehre vom kleineren Übel, die sich folgendermaßen zusammenfassen läßt:
- Man darf niemals auch nur das geringste Übel direkt und positiv begehen.
- Um ein größeres Übel zu vermeiden, kann man ein kleineres Übel, das von anderen begangen wird, dulden, sofern man es als solches nicht gutheißt und sich daran erinnert, daß es ein höheres Gut gibt, das man anstreben muß.
Diese Lehre ist grundlegend für die Orientierung in einer verwirrten Zeit, in der das Verständnis des Grundsatzes verlorengegangen ist:
„Bonum ex integra causa, malum ex quocumque defectu“ (Thomas von Aquin, Summa Theologiae I‑IIae, q. 18, a. 4 ad 3).
Angesichts dieses Grundsatzes kann ein Katholik niemals für ein Abtreibungsgesetz stimmen oder es gutheißen, selbst wenn es nur geringfügig ist, aber er kann für einen Kandidaten stimmen, der nicht völlig abtreibungsfeindlich ist. Aus diesem Grund ist es für einen amerikanischen Katholiken legitim, für Donald Trump zu stimmen, dessen Positionen zur Abtreibung, wie Edward Feser feststellt, viel zu wünschen übrig lassen. Trump befürwortet die Legalität der Abtreibung in Fällen von Vergewaltigung, Inzest und Gefährdung der Mutter und betrachtet den staatlichen Mord lediglich als eine rein verfahrenstechnische Angelegenheit, die sich auf die zentrale oder lokale Regierung bezieht, die ihn regeln sollte. Im übrigen enthielt das Parteiprogramm der Republikaner auf dem Parteitag in Milwaukee am 8. Juli zum ersten Mal seit vierzig Jahren keinen Hinweis auf ein landesweites Abtreibungsverbot. Im Gegensatz zu seiner Kontrahentin Kamala Harris schreibt sich Trump die Abtreibung jedoch nicht auf die Fahne. Harris‘ sozialistische und egalitäre Agenda beinhaltet die Aufrichtung eines verfassungsmäßigen Rechts auf Abtreibung, wie es 1973 im Urteil Roe gegen Wade verankert, dann aber durch die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs vom 24. Juni 2023 gekippt wurde. Darüber hinaus kündigte Kamala Harris während der Vorwahlen 2019 an, daß sie an ihrem ersten Tag im Weißen Haus das Gleichstellungsgesetz verabschieden würde, um der LGBT-Welt jede Form des Rechts zu garantieren (siehe dazu ihr Buch The Truths we hold. An American journey, Vintage, 2021, S. 112–120).
Der Vizepräsidentschaftskandidat der Demokraten, Tim Walz, ein führendes Mitglied der Demokratischen Arbeiterpartei von Minnesota, ist, falls das überhaupt möglich ist, noch linker als Kamala Harris. Trotz des Beharrens der Medien auf Kamala Harris‘ Mäßigung wird der Prozeß der moralischen Dekadenz in den Vereinigten Staaten durch das sogenannte Harris-Walz-Ticket, das zu den progressivsten in der Geschichte dieses Landes gehört, beschleunigt werden, falls die Demokraten im November gewinnen.
Es ist bedauerlich, daß die Republikanische Partei keinen besseren Kandidaten als Donald Trump hervorgebracht hat, aber Kamala Harris ist sicherlich das größere Übel, das es zu vermeiden gilt. Trump verdient es, in vielen Punkten kritisiert zu werden, aber es ist nicht erlaubt, Harris den Sieg zu verschaffen, indem man für sie stimmt oder sich der Stimme enthält.
Was die internationale Politik betrifft, so wird sich, unabhängig davon, ob Kamala Harris oder Donald Trump gewinnt, wahrscheinlich nicht viel ändern. Es wird behauptet, daß sich die USA unter Trump aus Europa und der NATO zurückziehen würden, aber das ist eine übertriebene Sichtweise. Kamala Harris gehört zur Schule des Wilsonianismus (benannt nach Thomas Woodrow Wilson, US-Präsident von 1913 bis 1921); Trump gehört zur Schule des Jacksonianismus (benannt nach Andrew Jackson, US-Präsident von 1829 bis 1837). Erstere argumentieren, daß die USA die moralische Pflicht haben, demokratische Werte in der Welt zu verbreiten, letztere sind der Meinung, daß die USA keinen Anlaß für Konflikte im Ausland finden sollten. Wie der Historiker Walter Russell Mead feststellt, stimmt die Meinung der Jacksonianer jedoch mit der von General Douglas MacArthur (1880–1964) überein, daß es im Falle eines Krieges „keine Alternative zum Sieg gibt“ (Il serpente e la colomba. Storia della politica estera degli Stati Uniti d’America, Garzanti, Mailand 2002, S. 17).

Während seiner Amtszeit als Präsident ließ sich Donald Trump im Oval Office mit einem Porträt von Präsident Jackson fotografieren, dessen Statuen ins Fadenkreuz von „Woke“-Aktivisten geraten sind, die ihm vorwarfen, ein Rassist und Sklavenhalter zu sein. Mead selbst wies in einem 2017 in der Zeitschrift Foreign Affairs veröffentlichten Essay auf die Verbindung zwischen Trump und Jackson hin. Trumps Vizepräsidentschaftskandidat Vance wies seinerseits in einem Interview mit dem New Statesman am 14. Februar 2024 darauf hin, daß Trumps „Jackson’scher“ Ansatz „eine Mischung aus extremer Skepsis gegenüber Auslandsinterventionen, kombiniert mit einer extrem aggressiven Haltung bei Interventionen“ sei. Die USA, so Mead, können ohne die Unterstützung der Jacksonianer keinen größeren internationalen Krieg führen, und wenn er einmal begonnen hat, können sie ihn nur zu deren Bedingungen beenden.
Kamala Harris‘ Außenpolitik ist sicherlich interventionistischer als die von Trump, doch trotz seiner isolationistischen Tendenzen hat der republikanische Kandidat das nationale Interesse der USA zur Priorität. Ist das Ende der NATO und eine russische Herrschaft über Europa in Washingtons Interesse? Trump will sich auf das Szenario konzentrieren, das er für die Vereinigten Staaten am beunruhigendsten findet, nämlich den indopazifischen Raum, aber Europa ist ein wichtiger Dreh- und Angelpunkt der amerikanischen imperialen Macht. Sollte er gewählt werden, wird er Europa wahrscheinlich drängen, selbst die wirtschaftlichen und militärischen Ressourcen zu finden, um sich zu verteidigen, aber er wird es sicher nicht seinem Schicksal überlassen.
Die Demokraten beschuldigen Trump, von Putin unterstützt zu werden, doch das vorrangige Interesse des russischen Machthabers ist nicht der Sieg von Trump oder Harris, sondern eine destabilisierende Situation auf dem amerikanischen Kontinent, die seine Expansionspläne in Osteuropa erleichtert. Das Schreckgespenst eines Bürgerkriegs oder zumindest starker innerer Spannungen ist in den USA stets präsent, und es ist nicht verwunderlich, daß Putin einen Zusammenbruch des amerikanischen Imperiums ähnlich dem des russischen Imperiums im Jahr 1991 vorziehen würde.
Andererseits kommt die wahre Hilfe für Putin nicht von Trump, sondern von all jenen, die überzeugt sind, daß der russisch-ukrainische Krieg die Folge einer legitimen Reaktion des Kremls auf den amerikanischen Imperialismus ist. Wenn dies wahr wäre, wäre Amerika der Hauptfeind Europas, wie die europäische extreme Linke vor und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion immer dachte. Es ist jedoch für jeden Menschen mit gesundem Menschenverstand offensichtlich, daß die wirtschaftliche und militärische Abhängigkeit Europas von den Vereinigten Staaten nach wie vor ein geringeres Übel darstellt als eine Vasallensituation gegenüber Rußland, das selbst zu einem Vasallenland des kommunistischen China wird.
Das geringere Übel zu akzeptieren, bedeutet nicht, auf das höhere Gut zu verzichten, das weder mit dem amerikanischen Liberalismus noch mit dem russisch-chinesischen Despotismus zu tun hat. Das unverzichtbare Ideal ist die „Einsetzung aller Dinge in Christus“, d. h. die Wiederherstellung der christlichen Zivilisation, wie sie das Abendland im Mittelalter kannte, aber auf einen höheren Grad der Vollkommenheit gebracht. Der heilige Pius X. wies den Weg:
„Die Zivilisation muß nicht erfunden werden, und die neue Gesellschaft muß nicht in den Wolken errichtet werden. Es hat sie gegeben und sie existiert: die christliche Zivilisation, die katholische Gesellschaft. Es geht nur darum, sie unablässig in ihren natürlichen und göttlichen Fundamenten zu errichten und wiederherzustellen, gegen die wiedergeborenen Angriffe der ungesunden Utopie, der Revolte und der Gottlosigkeit: Omnia instaurare in Christo (Eph. I, 10)“ (Brief Notre Charge Apostolique, 25. August 1910).
*Roberto de Mattei, Historiker, Vater von fünf Kindern, Professor für Neuere Geschichte und Geschichte des Christentums an der Europäischen Universität Rom, Vorsitzender der Stiftung Lepanto, Autor zahlreicher Bücher, zuletzt in deutscher Übersetzung: Verteidigung der Tradition: Die unüberwindbare Wahrheit Christi, mit einem Vorwort von Martin Mosebach, Altötting 2017, und Das Zweite Vatikanische Konzil. Eine bislang ungeschriebene Geschichte, 2. erw. Ausgabe, Bobingen 2011.
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Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Zusendung/Corrispondenza Romana