Die Katholiken vor den US-Wahlen

"Trump verdient es, in vielem kritisiert zu werden, aber es ist nicht erlaubt, Harris zum Sieg zu verhelfen"


US-Präsidentschaftswahlen bewegen die Gemüter weltweit: Momentaufnahme in Loreto in Italien, dem bedeutendsten Marienheiligtum der Christenheit, im August 2024
US-Präsidentschaftswahlen bewegen die Gemüter weltweit: Momentaufnahme in Loreto in Italien, dem bedeutendsten Marienheiligtum der Christenheit, im August 2024

Von Rober­to de Mattei*

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Es gibt eine katho­li­sche Leh­re vom klei­ne­ren Übel, die sich fol­gen­der­ma­ßen zusam­men­fas­sen läßt:

  1. Man darf nie­mals auch nur das gering­ste Übel direkt und posi­tiv begehen.
  2. Um ein grö­ße­res Übel zu ver­mei­den, kann man ein klei­ne­res Übel, das von ande­ren began­gen wird, dul­den, sofern man es als sol­ches nicht gut­heißt und sich dar­an erin­nert, daß es ein höhe­res Gut gibt, das man anstre­ben muß.

Die­se Leh­re ist grund­le­gend für die Ori­en­tie­rung in einer ver­wirr­ten Zeit, in der das Ver­ständ­nis des Grund­sat­zes ver­lo­ren­ge­gan­gen ist:

„Bonum ex inte­gra cau­sa, malum ex quo­cum­que defec­tu“ (Tho­mas von Aquin, Sum­ma Theo­lo­giae I‑IIae, q. 18, a. 4 ad 3).

Ange­sichts die­ses Grund­sat­zes kann ein Katho­lik nie­mals für ein Abtrei­bungs­ge­setz stim­men oder es gut­hei­ßen, selbst wenn es nur gering­fü­gig ist, aber er kann für einen Kan­di­da­ten stim­men, der nicht völ­lig abtrei­bungs­feind­lich ist. Aus die­sem Grund ist es für einen ame­ri­ka­ni­schen Katho­li­ken legi­tim, für Donald Trump zu stim­men, des­sen Posi­tio­nen zur Abtrei­bung, wie Edward Feser fest­stellt, viel zu wün­schen übrig las­sen. Trump befür­wor­tet die Lega­li­tät der Abtrei­bung in Fäl­len von Ver­ge­wal­ti­gung, Inzest und Gefähr­dung der Mut­ter und betrach­tet den staat­li­chen Mord ledig­lich als eine rein ver­fah­rens­tech­ni­sche Ange­le­gen­heit, die sich auf die zen­tra­le oder loka­le Regie­rung bezieht, die ihn regeln soll­te. Im übri­gen ent­hielt das Par­tei­pro­gramm der Repu­bli­ka­ner auf dem Par­tei­tag in Mil­wau­kee am 8. Juli zum ersten Mal seit vier­zig Jah­ren kei­nen Hin­weis auf ein lan­des­wei­tes Abtrei­bungs­ver­bot. Im Gegen­satz zu sei­ner Kon­tra­hen­tin Kama­la Har­ris schreibt sich Trump die Abtrei­bung jedoch nicht auf die Fah­ne. Har­ris‘ sozia­li­sti­sche und ega­li­tä­re Agen­da beinhal­tet die Auf­rich­tung eines ver­fas­sungs­mä­ßi­gen Rechts auf Abtrei­bung, wie es 1973 im Urteil Roe gegen Wade ver­an­kert, dann aber durch die Ent­schei­dung des Ober­sten Gerichts­hofs vom 24. Juni 2023 gekippt wur­de. Dar­über hin­aus kün­dig­te Kama­la Har­ris wäh­rend der Vor­wah­len 2019 an, daß sie an ihrem ersten Tag im Wei­ßen Haus das Gleich­stel­lungs­ge­setz ver­ab­schie­den wür­de, um der LGBT-Welt jede Form des Rechts zu garan­tie­ren (sie­he dazu ihr Buch The Truths we hold. An Ame­ri­can jour­ney, Vin­ta­ge, 2021, S. 112–120).

Der Vize­prä­si­dent­schafts­kan­di­dat der Demo­kra­ten, Tim Walz, ein füh­ren­des Mit­glied der Demo­kra­ti­schen Arbei­ter­par­tei von Min­ne­so­ta, ist, falls das über­haupt mög­lich ist, noch lin­ker als Kama­la Har­ris. Trotz des Behar­rens der Medi­en auf Kama­la Har­ris‘ Mäßi­gung wird der Pro­zeß der mora­li­schen Deka­denz in den Ver­ei­nig­ten Staa­ten durch das soge­nann­te Har­ris-Walz-Ticket, das zu den pro­gres­siv­sten in der Geschich­te die­ses Lan­des gehört, beschleu­nigt wer­den, falls die Demo­kra­ten im Novem­ber gewinnen.

Es ist bedau­er­lich, daß die Repu­bli­ka­ni­sche Par­tei kei­nen bes­se­ren Kan­di­da­ten als Donald Trump her­vor­ge­bracht hat, aber Kama­la Har­ris ist sicher­lich das grö­ße­re Übel, das es zu ver­mei­den gilt. Trump ver­dient es, in vie­len Punk­ten kri­ti­siert zu wer­den, aber es ist nicht erlaubt, Har­ris den Sieg zu ver­schaf­fen, indem man für sie stimmt oder sich der Stim­me enthält.

Was die inter­na­tio­na­le Poli­tik betrifft, so wird sich, unab­hän­gig davon, ob Kama­la Har­ris oder Donald Trump gewinnt, wahr­schein­lich nicht viel ändern. Es wird behaup­tet, daß sich die USA unter Trump aus Euro­pa und der NATO zurück­zie­hen wür­den, aber das ist eine über­trie­be­ne Sicht­wei­se. Kama­la Har­ris gehört zur Schu­le des Wil­so­nia­nis­mus (benannt nach Tho­mas Wood­row Wil­son, US-Prä­si­dent von 1913 bis 1921); Trump gehört zur Schu­le des Jack­so­nia­nis­mus (benannt nach Andrew Jack­son, US-Prä­si­dent von 1829 bis 1837). Erste­re argu­men­tie­ren, daß die USA die mora­li­sche Pflicht haben, demo­kra­ti­sche Wer­te in der Welt zu ver­brei­ten, letz­te­re sind der Mei­nung, daß die USA kei­nen Anlaß für Kon­flik­te im Aus­land fin­den soll­ten. Wie der Histo­ri­ker Wal­ter Rus­sell Mead fest­stellt, stimmt die Mei­nung der Jack­so­nia­ner jedoch mit der von Gene­ral Dou­glas Mac­Ar­thur (1880–1964) über­ein, daß es im Fal­le eines Krie­ges „kei­ne Alter­na­ti­ve zum Sieg gibt“ (Il ser­pen­te e la colom­ba. Sto­ria del­la poli­ti­ca este­ra degli Sta­ti Uniti d’A­me­ri­ca, Garz­an­ti, Mai­land 2002, S. 17).

Kama­la Har­ris (Demo­kra­ten) und Donald Trump (Repu­bli­ka­ner): Trump strebt nach einer Unter­bre­chung sei­ne zwei­te Amts­zeit an. Das gelang bis­her nur Gro­ver Cleve­land, der im 19. Jahr­hun­dert 22. und 24. US-Prä­si­dent war.

Wäh­rend sei­ner Amts­zeit als Prä­si­dent ließ sich Donald Trump im Oval Office mit einem Por­trät von Prä­si­dent Jack­son foto­gra­fie­ren, des­sen Sta­tu­en ins Faden­kreuz von „Woke“-Aktivisten gera­ten sind, die ihm vor­war­fen, ein Ras­sist und Skla­ven­hal­ter zu sein. Mead selbst wies in einem 2017 in der Zeit­schrift For­eign Affairs ver­öf­fent­lich­ten Essay auf die Ver­bin­dung zwi­schen Trump und Jack­son hin. Trumps Vize­prä­si­dent­schafts­kan­di­dat Van­ce wies sei­ner­seits in einem Inter­view mit dem New Sta­tes­man am 14. Febru­ar 2024 dar­auf hin, daß Trumps „Jackson’scher“ Ansatz „eine Mischung aus extre­mer Skep­sis gegen­über Aus­lands­in­ter­ven­tio­nen, kom­bi­niert mit einer extrem aggres­si­ven Hal­tung bei Inter­ven­tio­nen“ sei. Die USA, so Mead, kön­nen ohne die Unter­stüt­zung der Jack­so­nia­ner kei­nen grö­ße­ren inter­na­tio­na­len Krieg füh­ren, und wenn er ein­mal begon­nen hat, kön­nen sie ihn nur zu deren Bedin­gun­gen beenden.

Kama­la Har­ris‘ Außen­po­li­tik ist sicher­lich inter­ven­tio­ni­sti­scher als die von Trump, doch trotz sei­ner iso­la­tio­ni­sti­schen Ten­den­zen hat der repu­bli­ka­ni­sche Kan­di­dat das natio­na­le Inter­es­se der USA zur Prio­ri­tät. Ist das Ende der NATO und eine rus­si­sche Herr­schaft über Euro­pa in Washing­tons Inter­es­se? Trump will sich auf das Sze­na­rio kon­zen­trie­ren, das er für die Ver­ei­nig­ten Staa­ten am beun­ru­hi­gend­sten fin­det, näm­lich den indo­pa­zi­fi­schen Raum, aber Euro­pa ist ein wich­ti­ger Dreh- und Angel­punkt der ame­ri­ka­ni­schen impe­ria­len Macht. Soll­te er gewählt wer­den, wird er Euro­pa wahr­schein­lich drän­gen, selbst die wirt­schaft­li­chen und mili­tä­ri­schen Res­sour­cen zu fin­den, um sich zu ver­tei­di­gen, aber er wird es sicher nicht sei­nem Schick­sal überlassen.

Die Demo­kra­ten beschul­di­gen Trump, von Putin unter­stützt zu wer­den, doch das vor­ran­gi­ge Inter­es­se des rus­si­schen Macht­ha­bers ist nicht der Sieg von Trump oder Har­ris, son­dern eine desta­bi­li­sie­ren­de Situa­ti­on auf dem ame­ri­ka­ni­schen Kon­ti­nent, die sei­ne Expan­si­ons­plä­ne in Ost­eu­ro­pa erleich­tert. Das Schreck­ge­spenst eines Bür­ger­kriegs oder zumin­dest star­ker inne­rer Span­nun­gen ist in den USA stets prä­sent, und es ist nicht ver­wun­der­lich, daß Putin einen Zusam­men­bruch des ame­ri­ka­ni­schen Impe­ri­ums ähn­lich dem des rus­si­schen Impe­ri­ums im Jahr 1991 vor­zie­hen würde.

Ande­rer­seits kommt die wah­re Hil­fe für Putin nicht von Trump, son­dern von all jenen, die über­zeugt sind, daß der rus­sisch-ukrai­ni­sche Krieg die Fol­ge einer legi­ti­men Reak­ti­on des Kremls auf den ame­ri­ka­ni­schen Impe­ria­lis­mus ist. Wenn dies wahr wäre, wäre Ame­ri­ka der Haupt­feind Euro­pas, wie die euro­päi­sche extre­me Lin­ke vor und nach dem Zusam­men­bruch der Sowjet­uni­on immer dach­te. Es ist jedoch für jeden Men­schen mit gesun­dem Men­schen­ver­stand offen­sicht­lich, daß die wirt­schaft­li­che und mili­tä­ri­sche Abhän­gig­keit Euro­pas von den Ver­ei­nig­ten Staa­ten nach wie vor ein gerin­ge­res Übel dar­stellt als eine Vasal­len­si­tua­ti­on gegen­über Ruß­land, das selbst zu einem Vasal­len­land des kom­mu­ni­sti­schen Chi­na wird.

Das gerin­ge­re Übel zu akzep­tie­ren, bedeu­tet nicht, auf das höhe­re Gut zu ver­zich­ten, das weder mit dem ame­ri­ka­ni­schen Libe­ra­lis­mus noch mit dem rus­sisch-chi­ne­si­schen Des­po­tis­mus zu tun hat. Das unver­zicht­ba­re Ide­al ist die „Ein­set­zung aller Din­ge in Chri­stus“, d. h. die Wie­der­her­stel­lung der christ­li­chen Zivi­li­sa­ti­on, wie sie das Abend­land im Mit­tel­al­ter kann­te, aber auf einen höhe­ren Grad der Voll­kom­men­heit gebracht. Der hei­li­ge Pius X. wies den Weg: 

„Die Zivi­li­sa­ti­on muß nicht erfun­den wer­den, und die neue Gesell­schaft muß nicht in den Wol­ken errich­tet wer­den. Es hat sie gege­ben und sie exi­stiert: die christ­li­che Zivi­li­sa­ti­on, die katho­li­sche Gesell­schaft. Es geht nur dar­um, sie unab­läs­sig in ihren natür­li­chen und gött­li­chen Fun­da­men­ten zu errich­ten und wie­der­her­zu­stel­len, gegen die wie­der­ge­bo­re­nen Angrif­fe der unge­sun­den Uto­pie, der Revol­te und der Gott­lo­sig­keit: Omnia instaura­re in Chri­sto (Eph. I, 10)“ (Brief Not­re Char­ge Apo­sto­li­que, 25. August 1910).

*Rober­to de Mat­tei, Histo­ri­ker, Vater von fünf Kin­dern, Pro­fes­sor für Neue­re Geschich­te und Geschich­te des Chri­sten­tums an der Euro­päi­schen Uni­ver­si­tät Rom, Vor­sit­zen­der der Stif­tung Lepan­to, Autor zahl­rei­cher Bücher, zuletzt in deut­scher Über­set­zung: Ver­tei­di­gung der Tra­di­ti­on: Die unüber­wind­ba­re Wahr­heit Chri­sti, mit einem Vor­wort von Mar­tin Mose­bach, Alt­öt­ting 2017, und Das Zwei­te Vati­ka­ni­sche Kon­zil. Eine bis­lang unge­schrie­be­ne Geschich­te, 2. erw. Aus­ga­be, Bobin­gen 2011.

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Über­set­zung: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: Zusendung/​Corrispondenza Romana

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