Der tragische Exodus der von Aserbaidschan aus Bergkarabach vertriebenen Armenier interessiert den Westen nicht. Mehr als 70.000 Menschen sind bereits aus Arzach geflohen. In der aserischen Hauptstadt Baku werden Fotos von verstümmelten armenischen Soldaten veröffentlicht und mehr oder weniger unverhohlen zur Vergewaltigung von Frauen und Kindern aufgerufen. Und was macht die internationale Staatengemeinschaft, was der „Werte“-Westen?
Armenien ist der älteste christliche Staat der Welt. Das Siedlungsgebiet der Armenier war noch im 19. Jahrhundert weit größer als heute. Seither wurde er massiv zusammengeschrumpft, und nun schrumpft er noch einmal.
Weite Teile der östlichen Türkei waren einst mehrheitlich armenisch. Es existierten sogar zwei historische armenische Siedlungsgebiete, Großarmenien und das Königreich Kleinarmenien. Der heutige Staat Armenien war ein Teil Großarmeniens, während vom Königreich Kleinarmenien in Kilikien am Mittelmeer nur noch die Steine berichten.
Das Königreich Kleinarmenien geriet 1375, Großarmenien 1514 unter türkische Herrschaft.
Die Türken versuchten in mehreren staatlich geduldeten, dann sogar von diesem Staat organisierten Pogromen zwischen 1878 und 1915 das armenische Volk auf grausame Weise zu dezimieren, wie sie dies auch mit anderen christlichen Völkern ihres Osmanischen Reiches taten. Im ersten Pogrom-Schub Ende des 19. Jahrhunderts reduzierte sich die Zahl der Armenier um ein Drittel. In den Jahren 1915/1916 nützten die Türken den Ersten Weltkrieg, um die Armenier mit einem Völkermord ganz auszulöschen.
Die Angaben zu den Opfern variieren: Nimmt man einen statistischen Mittelwert, fielen dem Genozid mindestens 900.000 Armenier zum Opfer. Es könnten auch doppelt so viele gewesen sein. Das entspricht zwischen 45 und 85 Prozent der im Osmanischen Reich lebenden Armenier. So entstand seit dem späten 19. Jahrhundert eine große armenische Diaspora, verstreut über die ganze Welt.
Das heutige Armenien
Territorial überlebten die Armenier nur im russischen Zarenreich, das zum letzten Rückzugsgebiet armenischer Eigenstaatlichkeit werden sollte. Ein kleinerer Teil Großarmeniens war nämlich 1639 noch einmal unter die Kontrolle der islamischen Perser gelangt. Dieser Teil wurde 1812 vom christlichen Rußland erobert. Was sich als wirklicher Glücksfall herausstellte. Auf diese Weise entging zumindest ein kleiner Teil Armeniens dem osmanischen Völkermord.
1918 erklärte sich Russisch-Armenien für unabhängig und erhielt im Friedensvertrag von Sèvres auch große Teile von Türkisch-Armenien zugesprochen. Die Siegermächte waren großzügig beim Verteilen von Territorien anderer Staaten, in diesem Fall, weil sie das alte Osmanische Reich schwächen wollten. Das ging aber schnell unter und wurde durch die laizistische Republik namens Türkei abgelöst, deren Staatsführung den westlichen Siegern besser zusagte. Als die neue Türkei die Gebietsabtretungen an Armenien nicht anerkannte, kümmert das die Siegermächte einfach nicht, denn schließlich war Russisch-Armenien inzwischen ein Teil der Sowjetunion geworden.
An diesem Desinteresse am Schicksal der christlichen Armenier scheint sich seit 1878, als die europäischen Mächte nicht auf den Hilferuf der Armenier reagierten, nichts geändert zu haben. Allein die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern durch die westlichen Staaten wurde zur endlosen Geschichte. Man wollte eben nicht. Die Türkei ist NATO-Mitglied und galt lange Zeit als Kandidat für die EU-Erweiterung (offiziell noch heute), und überhaupt tut sich der nominell christliche Westen schon lange schwer mit Brennpunkten auf der Welt, in denen Christen die Opfer sind.
Das armenische Bergkarabach
Bergkarabach ist, wie der Name schon sagt, eine Berggegend, die in der Sowjetunion Teil der Sozialistischen Sowjetrepublik Aserbaidschan wurde, obwohl sie mehrheitlich von christlichen Armeniern bewohnt wird, während die Aseris, die Bewohner Aserbaidschans, ein islamisches, eng mit den Türken verwandten Turkvolk sind. Innerhalb der SSR Aserbaidschan bildete Bergkarabach allerdings eine Autonome Region.
Das Problem ist geographischer Natur: Das armenische Bergkarabach grenzt nicht direkt an Armenien, sondern ist durch einen von Aseris bewohnten Gebietsstreifen davon getrennt. Diese Trennung wurde zwischen 1918 und 1920 bei gewaltsamen Unruhen noch verschärft, die zur Vertreibung der Armenier aus diesem Gebietsstreifen führte, so wie umgekehrt auch von Aseris aus Armenien.
Seit den 60er Jahren warfen die Armenier der SSR Aserbaidschan vor, ihre Autonome Region Bergkarabach wirtschaftlich zu benachteiligen und durch Eingriffe in die demographische Entwicklung eine Aserisierung zu betreiben. Die SSR Armenien bemühte sich bereits seit 1945 innerhalb der UdSSR mehrfach, aber vergeblich, die Angliederung von Bergkarabach an Armenien zu erreichen. Die letzte sowjetische Volkszählung von 1989 ergab, daß noch immer fast 75 Prozent der Bevölkerung Bergkarabachs Armenier waren. Gorbatschows „Perestrojka“ führte dazu, daß die Autonome Region Bergkarabach 1988, noch vor dem Ende des kommunistischen Ostblocks, den Austritt aus der SSR Aserbaidschan erklärte, was jedoch weder von der SSR Aserbaidschan noch vom Obersten Sowjet der UdSSR akzeptiert wurde.
Im Zuge der Umbrüche von 1989 hob Aserbaidschan die Selbstverwaltung Bergkarabachs auf und begann Bestrebungen für die territoriale Vereinigung seiner Exklave Nachitschewan, die zwischen Armenien und dem Iran liegt, mit dem Mutterland (siehe Ein vergessenes Kapitel: Die katholischen Armenier von Nachitschewan). Aserbaidschan kann nur über armenisches oder iranisches Territorium nach Nachitschewan gelangen. In Aserbaidschan kam es damals zu Ausschreitungen gegen Armenier und Russen. Bei bewaffneten Konflikten wurden von beiden Seiten Massaker verübt.
Die Republik Bergkarabach
Nach der Auflösung der UdSSR im Jahr 1991 erklärte sich Bergkarabach für unabhängig und rief die armenische Republik Bergkarabach aus, die 2017 in Republik Arzach umbenannt wurde. Seither bestanden zwei armenische Staaten, allerdings mit der Absicht, Arzach mit Armenien zu vereinigen. Das Hauptproblem dabei wurde bereits angesprochen: Das armenische Bergkarabach grenzt nicht direkt an Armenien.
Nach der Unabhängigkeitserklärung kam es zum Ersten Bergkarabachkrieg von 1991 bis 1994, als Aserbaidschan militärisch gegen die abtrünnige Republik vorgehen wollte. Bewaffneten Verbänden der Republik Bergkarabach, die von Armenien unterstützt wurden, gelang es jedoch, nicht nur ihr Territorium zu verteidigen, sondern auch den aserischen Gebietsstreifen zwischen Bergkarabach und Armenien zu erobern und damit eine Landbrücke zu Armenien herzustellen.
Mit dem Waffenstillstand von 1994 wurde der Ist-Zustand eingefroren, doch die Republik Bergkarabach wurde international nicht anerkannt, schon gar nicht die Möglichkeit ihres Anschlusses an Armenien in Erwägung gezogen. Die Türkei stellte sich auf die Seite des stammverwandten Aserbeidschans und brach die diplomatischen Beziehungen zu Armenien ab.
Die nicht einmal 150.000 Einwohner Bergkarabachs sind seither faktisch ausschließlich Armenier. Die Grenze bzw. Waffenstillstandslinie zu Aserbaidschan, das die Rückeroberung der verlorenen Gebiete zur Staatsräson erklärte, sicherten armenische Truppen.
Aserbaidschan warf der Republik Bergkarabach vor, das aserische Kulturerbe der Region auszulöschen. Es seien mehrere Dutzend, fast alle Moscheen zerstört worden.
Während Aserbaidschan Unterstützung bei der Türkei und über diese im Westen suchte, lehnte sich Armenien an Rußland an, das sich zwischen 2007 und 2011 erfolglos um eine Friedenslösung bemühte, während die Türkei erklärte, Aserbaidschan „bis zum Ende“ zu unterstützen. Wiederholte Feuergefechte mündeten schließlich 2020 im Zweiten Bergkarabachkrieg, als Aserbaidschan mit Unterstützung türkischer Truppen die Rückeroberung Bergkarabachs begann.
Rußland gelang es, einen neuen Waffenstillstand zu vermitteln, doch hatte Aserbaidschan bis dahin bereits so gut wie alle aserischen Gebiete, die 1994 von den Armeniern besetzt worden waren, zurückerobert. Mehr noch, es konnte sogar ein Drittel des armenischen Bergkarabach einnehmen. Der armenischen Seite gelang es jedoch, mit dem Latschin-Korridor die lebenswichtige Verbindung zwischen Armenien und Bergkarabach zu behaupten.
Gemäß Waffenstillstand hatten sich die armenischen Truppen aus dem bergkarabachischen Gebiet zurückzuziehen. Dafür stationierte Rußland Friedenstruppen, die entlang der Waffenstillstandslinie für dessen Einhaltung garantieren sollten.
Die Entspannung vor dem Sturm
Bis zum Sommer 2022 wurde eine neue Transitstraße gebaut, die die beiden armenischen Republiken miteinander verbindet und gemäß Waffenstillstand die Rückgabe der von Aseris bewohnten Orten des Latschin-Korridors und dessen Auflösung ermöglichte. Die russischen Friedenstruppen schützten seither diese Transitstraße.
Im 6. Oktober 2022 erklärten Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew und Armeniens Ministerpräsident Nikol Paschinjan bei einem EU-Gipfel in Paris überraschend unter der Ägide von Frankreichs Präsident Macron und dem EU-Ratsvorsitzenden Charles Michel, die territoriale Integrität und Souveränität des jeweils anderen anzuerkennen. Einfach so, ohne einen Friedensplan und ohne ein Abkommen. Da die Position der beiden Staaten, aufgrund der Weichenstellung in der Frühgeschichte der UdSSR, nicht gleich ist, sah Aserbaidschan darin einen Freibrief, sich Bergkarabach zurückzuholen.
Am 12. Dezember 2022 begann Aserbaidschan mit einer Blockade von Bergkarabach. Der Warentransport auf der Transitstrecke wurde unterbunden, wodurch sich die Versorgungslage in Bergkarabach rapide verschlechterte. Die Bemühungen der Republik Arzach, beim UN-Sicherheitsrat und europäischen Institutionen Gehör zu finden, gingen ins Leere. Der UN-Sicherheitsrat hatte vielmehr in der Vergangenheit dreimal die Zugehörigkeit von Bergkarabach zu Aserbaidschan bekräftigt. Dabei wurde die aserische Hungerblockade gegen die Bevölkerung von Bergkarabach vom Chefankläger beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag als Hinweis auf einen beabsichtigten Genozid gewertet.
Armeniens Ministerpräsident Nikol Paschinjan bestätigte am vergangenen 13. September, was noch überraschender war, daß die armenische Regierung Bergkarabach als Teil Aserbaidschans anerkenne. Im Klartext wurden Bergkarabach bzw. die Republik Arzach von der derzeitigen armenischen Staatsführung fallengelassen.
Nur wenige Tage später, am 19. September, rollten die Panzer Aserbaidschans. Fast genau drei Jahre nach dem Ausbruch des Zweiten Bergkarabachkrieges begannen die aserischen Truppen mit der militärischen Eroberung Bergkarabachs. Von Armenien im Stich gelassen, mußte die Staatsführung der Republik Arzach bereits am nächsten Tag kapitulieren. Kein Aufschrei war aus den westlichen Staatskanzleien und Medien gegen diese Invasion zu hören.
Die russischen Friedenstruppen schützen die armenische Zivilbevölkerung Bergkarabachs vor einem Genozid und helfen dabei, sie in Sicherheit zu bringen. Die aserischen Truppen betreiben seit neun Tagen eine ethnische Säuberung. Die Hälfte der Armenier hat ihre Heimat Bergkarabach bereits verlassen. Wer kann, versucht Armenien zu erreichen. Ein für das Gebiet gigantischer Exodus ist im Gange.
Vom armenischen Bergkarabach wird kaum etwas übrigbleiben. Aserbaidschan will Tabula rasa machen. Warum hat Rußland nicht versucht, wie 2011 und 2020 zu vermitteln? Warum haben die russischen Friedenstruppen die aserischen Panzer nicht gestoppt?
Weil die armenische Staatsführung selbst Bergkarabach aufgegeben hat. Moskau wirft Paschinjan vor, Bergkarabach preisgegeben zu haben, um sich Washington anzudienen. Warum sollte Rußland für Armenien kämpfen, das Bergkarabach preisgegeben hat und sich außenpolitisch gegen Rußland positioniert? Die Zeche bezahlen die Armenier Bergkarabachs.
Wo aber sind nun Charles Michel, Emmanuel Macron und Antony Blinken? Wo sind die europäischen und amerikanischen Institutionen, die nach dem Einmarsch Aserbaidschans in Bergkarabach lautstark fordern, die Sicherheit der Armenier und ihr Recht, in ihrem eigenen Land zu leben, zu gewährleisten?
Die internationale Staatengemeinschaft scheint die Bilder von den Kolonnen armenischer Flüchtlinge nicht zu sehen. Kann man die Fahrzeuge, die sich Dutzende von Kilometer aneinanderreihen, übersehen, in denen die Armenier vor ihren aserischen Verfolgern flüchten? Es ist ein Massenexodus: In nur wenigen Tagen haben mehr als 70.000 Menschen ihre Häuser verlassen, viele ohne etwas mitzunehmen.
Die Aufmerksamkeit der Medien für das Schicksal der bergkarabachischen Armenier währte nur wenige Tage: Aserbaidschan, das versprochen hatte, die Rechte der Armenier in Bergkarabach zu respektieren, schert sich nicht darum, sondern schafft vollendete Tatsachen.
Eine brutale Form der Problemlösung.
Ungelöst bleibt zudem die Nachitschewan-Frage, weshalb Armenien sich nicht sicher sein kann, ob sich Aserbaidschan seinerseits an die Erklärung von Paris halten und die territoriale Intergrität und Souveränität Armeniens anerkennen und respektieren. Die Gefahr besteht, zwischen seinen Nachbarn, den beiden islamischen Turkvölkern, aufgerieben zu werden.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Tempi/Wikicommons/Telegram (Screenshots)
Es fehlt noch der Hinweis, dass der jetzige armenische Premier durch eine dieser seltsamen Farbenrevolutionen an die Macht kam und sich dann, oh Wunder, von Russland zu den USA hin umorientierte.
Es interessiert die verlogenen westlichen Gutmenschen nicht, denn es sind Christen, die vertrieben werden. Was anderes wäre es natürlich, wenn Muslime vertrieben würden. Für die macht man sich natürlich stark, siehe Kosovo, um nur ein Beispiel zu nennen.
Es wird keine Armenienhilfe geben