„Der Tod des Wesir-Muchtar“ ist ein geheimnisvoller Titel. Sein Autor, der russische Schriftsteller Juri Nikolajewitsch Tynjanow (1894–1943), schrieb diesen Roman mit historischem Hintergrund nach der Ermordung des Mitarbeiters der US-Botschaft in Teheran Robert Whitney Imbrie (1883–1924), der übrigens der erste Angehörige des Auswärtigen Dienstes der USA war, der in Ausübung seines Amtes getötet wurde. Das geschah, lange bevor es die berühmten Sterne an der Wand zu Ehren der Gefallenen gab, die wir so oft in Actionfilmen zusammen mit dem im Boden des Eingangsbereichs des US-Außenministeriums eingelassenen Wappen des Department of State sehen.
Wir schreiben das Jahr 1924. Großbritannien war es gelungen, anstelle des letzten Schahs aus der turkstämmigen ogusischen Kadscharen-Dynastie, die Persien seit 1779 beherrschte, einen Militärführer aus einfachsten Verhältnissen zu installieren, der aus den Reihen der persischen Kosakenbrigade stammte. Dieser Reza Khan (1878–1944) wurde zum ersten Schah von Persien der von ihm gegründeten Pahlavi-Dynastie. 1918 hatten britische Truppen ganz Persien besetzt. Großbritannien ließ sich vertraglich die völlige Kontrolle über die Wirtschaft und Armee des Landes übertragen. Die Interessen der angelsächsischen Welt bezüglich der Kontrolle des Erdöls im Nahen Osten gehen also bereits weit vor die Zeit des 1944 zwischen der saudischen Dynastie und US-Präsident Franklin D. Roosevelt geschlossenen Paktes zurück.
Die Monarchiegegner, die Nationalisten und jene, die die als erniedrigend empfundene Zusammenarbeit mit den Briten ablehnten, setzen auf die Unterstützung durch Rußland. Doch aus dem Zarenreich wird die Sowjetunion. Der Großteil der iranischen Opposition lehnt die damit einsetzende Einflußnahme der Kommunisten, die zudem sofort den Kampf gegen die Religion aufnehmen, ab. Die Sowjets werden bald völlig verdrängt und die Sowjetrepubliken, die sie zusammen mit iranischen Kommunisten im Nordiran zu errichten versuchen, scheitern am „Totalitarismus“ ante litteram von Reza Pahlavi. Dieser will eigentlich nach dem Vorbild Atatürks, der aus dem Osmanischen Reich die Republik Türkei machte, die persische Monarchie abschaffen, die Republik ausrufen und dem Land den neuen Namen Iran geben. Da die Briten dies ablehnen, krönt er sich auf deren Empfehlung hin selbst zum Schah und besteigt den Thron.
Vor diesem Hintergrund trifft der russische, besser gesagt, sowjetische Schriftsteller Juri Nikolajewitsch Tynjanow eine Vorhersage: Teheran ist ein heißes Pflaster, und wer sich dorthin wagt, riskiert ein böses Ende, wie es im frühen 19. Jahrhundert mit dem Schriftsteller und Diplomaten Alexander Sergejewitsch Gribojedow (1795–1829) geschah, dessen Geschichte er in seinem Roman rekonstruiert. Dieser Roman wurde 1927/1928 in mehreren Folgen in einer Zeitschrift in Leningrad veröffentlicht, wie die Kommunisten St. Petersburg umbenannt hatten, und erschien dann 1929 auch in Buchform. Sein Titel bedeutet soviel wie „Der Tod des Gesandten“. Wesir-Muchtar ist der persische Titel eines Botschafters. Gribojedow, ein Zeitgenosse von Alexander Puschkin (1799–1837), mit dem er befreundet war, war der bevollmächtigte Minister, also Botschafter, des Zaren in Persien. Tynjanov erfindet seine literarischen Helden in dem historischen Roman neu.
Während Puschkin eine glänzende Karriere machte, bevor er in einem Duell starb, näherte sich Gribojedow den dekabristischen Revolutionären an, weshalb er kurzzeitig verhaftet wurde.
Gribojedow entstammte einer polnischen Adelsfamilie, die im 17. Jahrhundert in die Dienste des Zaren getreten war. Er sprach schon in jungen Jahren neben Russisch auch fließend Deutsch, Englisch, Französisch und Italienisch und verfügte über gute Kenntnisse in Latein und Altgriechisch. Im Vaterländischen Krieg von 1812 kämpfte er als Freiwilliger in einem Husarenregiment gegen Napoleons Armee. Anschließend betätigte er sich als Schrifsteller und Komponist und trat in St. Petersburg einer Freimaurerloge bei. Der schriftstellerische Erfolg blieb ihm aber versagt, da sein wichtigstes Werk, die Verskomödie „Wehe dem Verstand!“, der Zensur zum Opfer fiel. Dieses Stück, in dem er Gogolsche Themen und Stilmerkmale vorwegnahm, konnte erst posthum veröffentlicht werden, kursierte aber zu seinen Lebzeiten unter Intellektuellen in Form von Abschriften.
1817 trat Gribojedow in den diplomatischen Dienst des Zaren, weshalb der Verdacht, ein Dekabrist zu sein, schwer wog. Da ihm eine Mitgliedschaft in diesem Geheimbund aber nicht nachgewiesen werden konnte, durfte er nach einer Zeit der Überwachung in den diplomatischen Dienst zurückkehren und wurde zu Verhandlungen nach Persien gesandt.
Seine Mission dorthin führte zum Triumph. Am Ende des Russisch-Persischen Krieges (1826–1828) handelte er den Frieden von Turkmantschai aus. Mit dem von Schah Fath gebilligten Vertrag in der Hand kehrte Gribojedow nach St. Petersburg zurück. Diese dann unterzeichnete Vereinbarung gilt noch heute in Persien als eines der demütigendsten Abkommen, das jemals unterzeichnet werden mußte, vergleichbar jenem, das die Briten dem Land 1919 aufzwangen. Es brachte nicht nur Gebietsverluste. Persien mußte in einigen Provinzen russischen Garnisonen sowie ein russisches Schiffahrtsmonopol im Kaspischen Meer akzeptieren. Für Empörung sorgte auch, daß es russischen Staatsbürgern einen Sonderstatus verschaffte. Persische Behörden durften ohne Erlaubnis der russischen Botschaft das Haus eines russischen Bürgers in Persien nicht einmal betreten. Für Russen galt auch in Persien allein russisches Recht. Sie waren faktisch der Strafverfolgung durch den persischen Staat entzogen.
Auf seinem Weg nach St. Petersburg machte Gribojedow in Tiflis in Georgien halt, wo er einer Pestepidemie entkam und der jungen, schönen georgischen Prinzessin Nina Tschawtschawadse begegnete. In St. Petersburg wurde er mit dem Orden der Heiligen Anna ausgezeichnet, dem Hausorden des deutschen Hauses Holstein-Gottorf, das seit 1762 die russischen Zaren stellte, und berauschte sich an seinem Erfolg: Theater, Bälle, Einladungen an den Zarenhof. Sein Ruhm als Diplomat war auf dem Höhepunkt. Es folgte seine Ernennung zum Botschafter des Zaren in Persien. Aber „der beißende Geruch des Verhängnisses“ umgab ihn und trieb ihn zurück nach Persien, wo sein Schicksal in einem Blutbad endete.
Auf dem Weg nach Teheran heiratete er im August Nina, die georgische Fürstentochter, und ließ seine Frau in Täbris zurück, während er in die persische Hauptstadt weiterreiste, um den Schah zu treffen. Doch am 11. Februar 1829 (dem 30. Januar nach dem damals in Rußland geltenden Julianischen Kalender) stürmte eine von antirussischen Hofkreisen im Zusammenspiel mit britischen Agenten aufgewiegelte Menge die russische Botschaft und tötete das Botschaftspersonal und die zahlreichen armenischen Flüchtlinge, die auf dem Botschaftsgelände Schutz gesucht hatten. Gribojedow starb im Kampf. Der Kontext war das Große Spiel: der Kampf auf dem Schachbrett zwischen Großbritannien und Rußland in Asien.
Die Analogie zu den Ereignissen, die 150 Jahre später geschahen, als 1979 iranische Studenten die US-Botschaft in Teheran stürmten, ist verblüffend. Im jüngeren Ereignis wurden die Botschaftsangehörigen immerhin nicht getötet, sondern als Geiseln genommen und schließlich auf dem Verhandlungsweg freigelassen und von der US-Regierung für das erlittene Trauma mit Millionenbeträgen entschädigt.
Und wie immer gibt es Geschichten in der großen Geschichte. Da Armenien durch den von Gribojedow ausgehandelten Vertrag von Persien losgelöst und dem Zarenreich einverleibt worden war, suchten zahlreiche Armenier, an denen die Perser ihre Wut ausließen, in der Botschaft Schutz und hofften mit deren Hilfe in ihre Heimat zurückkehren zu können. Unter ihnen befand sich auch Jakub Markarjan Mirsa, ein Eunuch und oberster Schatzmeister des Schahs, der zu viele Geheimnisse kannte, als daß ihn der kaiserliche Hof in Teheran einfach gehenlassen konnte. Gribojedow weigerte sich standhaft, Jakub Markarjan Mirsa an die Perser auszuliefern. Der im Zusammenwirken mit den Briten entfesselte antirussische Zorn machte auch die Beseitigung dieses Problems möglich. Markarjan Mirsa wurde wie Gribojedow beim Sturm auf die Botschaft getötet. Nur dem Botschaftssekretär Iwan Maltsew, der dann der wichtigste Zeuge der Ereignisse wurde, gelang es, sich zu verstecken und zu überleben. Soweit die historischen Fakten.
Der Romanautor schreibt in kryptischen Worten: „Schon während des Krieges berichtete Madatow: Bis zu zweihundert Schiffsladungen russischer Waffen wurden für [Kronprinz] Abbas Mirzas Armee nach Isfahan importiert, aber durch Isfahan kam Karim Khan, der Schwager des Schahs, der als Gesandter zu den Briten geschickt wurde. Und der alte Mann fügte die Randbemerkung hinzu: Sehr wahrscheinlich. Sehr wahrscheinlich, daß die Angelegenheit nicht den Schah-Zade (Prinz) Konstantin beträfe und ein großes Spiel im Gange sei, aber der Geldfluß war vorteilhaft.“
Der Tod von Wesir-Muchtar ist ein historischer Roman, der in epischer Breite ein Szenario schildert, das der aktuellen Situation je nach Blickwinkel um fünfzig, hundert bzw. zweihundert Jahre vorausgeht: erst die Kapitulation, dann die Rache Persiens an den Ansprüchen der Zaren. Später hieß es dann: erst die Kapitulation, dann die Rache Persiens an den Ansprüchen der Angelsachsen. Die Amerikaner haben die Demütigung von 1979 bis heute nicht überwunden.
Dem Romanautor zufolge haben die Briten durch den schottischen „Arzt“ MacNeil die Perser zur Gewalt angestiftet. Es wurde das Große Spiel der Spione genannt, war aber sehr blutig. Tynjanows Werk ist ein Roman, der mit dem Schlüssel der Geschichte entschlüsselt werden kann, auch um unsere verwickelte Gegenwart zu interpretieren. Jede Geschichte ist immer zeitgenössisch, fast wie ein Roman.
Der Tod von Wesir-Muchtar erschien 1974 im DDR-Verlag Volk und Welt in einer deutschen Übersetzung von Thomas Reschke. Bis 1986 wurden insgesamt drei Auflagen veröffentlicht. 1988 wurde dieser historische Roman vom Suhrkamp Verlag erstmals auch in Westdeutschland herausgegeben.
In der Sowjetunion wurde der Roman 1969 verfilmt. 2010 wurde in Rußland die Fernsehserie „Der Tod des Wesir-Muchtar“ gedreht.
Obwohl er vielleicht manchmal unnötig poetisch ist, kann dieser Roman dazu beitragen, die Zeit, in der wir leben, besser zu verstehen und damit vielleicht auch auf die bevorstehenden Schwierigkeiten vorbereiten.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Wikicommons/kinopoisk/rbth (Screenshots)
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