Von Roberto de Mattei*
1977 schenkte mir Monsignore Francesco Spadafora (1913–1997), ein bedeutender Bibelwissenschaftler und damaliger Professor an der Päpstlichen Lateranuniversität, einen 42seitigen maschinengeschriebenen Text mit den „Offenbarungen Jesu und der Gottesmutter an die Generaloberin Schwester Elena Aiello, Gründerin der Kleinen Schwestern vom Leiden Unseres Herrn Jesus Christus“, die diese Ordensfrau zwischen dem 15. April 1938 und dem 22. August 1960 erhielt. Msgr. Spadafora, der der Seherin über fünfundzwanzig Jahre lang nahestand und sie bis in den Tod begleitete, hatte ihr ein Buch mit dem Titel „Suor Elena Aiello ‚a monaca santa‘“ („Sr. Elena Aiello, ‚eine heilige Ordensfrau‘“, Verlag Città nuova, Rom 1964) gewidmet. Einen Teil dieser Privatoffenbarungen veröffentlichte ich in einem Artikel mit dem Titel „Göttliche Strafen für Italien und die Welt“, der am 30. Januar 1978 in der Ausgabe 33 der Zeitschrift Cristianità erschien. Pater Livio Fanzaga hat diesen Text am 23. Februar 2022 bei Radio Maria wiederveröffentlicht und kommentiert. Auch die Monatszeitschrift Catolicismo, die in São Paulo in Brasilien erscheint, widmete kürzlich einen Artikel von Luis Dufaur den Visionen von Schwester Elena Aiello („Mensagens para um mundo em conflagração“, „Botschaften für eine Welt in Flammen“ in: Catolicismo, Nr. 866, Februar 2023, S. 26–35).
Schwester Elena Aiello wurde am 10. April 1895 in Montalto Uffugo, in der Provinz Cosenza, geboren. Ihr Leben war eng mit dem der Ordensgemeinschaft verbunden, die sie 1928 mit dem Ziel gründete, sich um Waisenkinder zu kümmern und sie christlich zu erziehen: die Kleinen Schwestern vom Leiden Unseres Herren Jesus Christus, die in die geistigen Fußstapfen des heiligen Franz von Paola treten, des kalabrischen Thaumaturgen, der nur wenige Kilometer von Schwester Elenas Geburtsort entfernt geboren wurde.
Am 2. Januar 1948, zwanzig Jahre nach ihrer Gründung, erhielt die Kongregation die kirchliche Anerkennung. Bei einer Begegnung mit Papst Pius XII. während des Heiligen Jahres 1950 fragte Schwester Elena ihn, ob er der Meinung sei, daß dieses Werk dem Herzen der Kirche entspreche. Der Papst antwortete ihr: „Ihr Werk wird nicht enden, denn es gründet sich auf die Vorsehung“. Schwester Elena Aiello starb am 19. Juni 1961 in Rom. Johannes Paul II. erklärte sie am 22. Januar 1991 für verehrungswürdig und Benedikt XV. sprach sie am 14. September 2011 selig. Das Seligsprechungsdekret erinnert daran, daß Elena Aiello den Heiligen Vater und die Kirche zutiefst liebte. Als ausgesprochen eucharistische Seele pflegte sie zu sagen: „Die Eucharistie ist die wesentliche Nahrung meines Lebens, der tiefe Atem meiner Seele, das Sakrament, das meinem Leben und allen Handlungen des Tages einen Sinn gibt“. Ihr Charisma lässt sich in dem Satz zusammenfassen, den sie fast litaneiartig wiederholte: „Es gibt keine Liebe ohne Leiden“.
Vom 2. März 1923 bis zu ihrem Tod durchlebte Schwester Helena an jedem Freitag der Fastenzeit, insbesondere an jedem Karfreitag, die Passion unseres Herrn, mit Leiden, Blutschweiß, Visionen und Offenbarungen. Das wiederkehrende Thema dieser Offenbarungen war die Ankündigung einer göttlichen Strafe für die in Sünde versunkene Menschheit. Am 16. März 1951 sagt Jesus zu ihr: „Die Menschen haben einen Wirbelsturm des Hasses gegen Gott geschleudert. Mein Herz blutet, weil die Menschen mich empören. Überall suche ich die Sünder: Sie sind von der Sünde verblendet. Die Welt lebt außerhalb des Christentums. (…) Die Geißel ist nahe; die Pein ist groß; zu zahlreich sind die Verbrechen; ungeheuer sind die Gefahren, die der Menschheit drohen: Der Krieg mit seinen furchtbaren Waffen wird Verderben und Tod über jedes einzelne Volk bringen. Hilf mir zu leiden… du mußt das Opfer für die verderbte Welt sein.“
Das Schicksal der Kirche und der Stadt Rom steht im Mittelpunkt der Offenbarungen der Seherin. Am 7. August 1954 sagt ihr die Gottesmutter: „Rom wird sehr heimgesucht werden, weil es mit sehr schweren Sünden befleckt ist. Der Sumpf der Sünde hat seinen Höhepunkt erreicht, und [Rom] ist zu einem Schauplatz von Verbrechen und Söldnern gemacht worden. Rom muß viel leiden, denn es ist die heilige Stadt, die verunreinigt ist, und deshalb wird sie von der Geißel des Krieges heimgesucht, aber nicht zerstört werden. Ich werde niemals zulassen, daß der Sitz des Stellvertreters Christi zum Schlachtfeld wird: Ich werde mit Dir meine Arme als Zeichen des Schutzes ausbreiten; und alle werden es in den Ereignissen, die sich ergeben, erkennen müssen. Ich werde mein Werk vollenden. In jeder Stadt, an jedem Ort werden nur wenige gerettet werden, denn die Geißel des Krieges ist nahe.“
Am 4. März 1955 offenbarte die Gottesmutter: „Die Kirche wird sehr erschüttert werden: Ein Drittel der Menschen wird sich retten.Die Geißel des Krieges ist nahe. Die Zeit ist nicht mehr fern und die Welt wird zu einem Vulkan aus Feuer und einem Strom aus Blut werden.“ Am 8. April 1955: „Seht: Die Engel, die Gefäße voller Feuer tragen, sind wie viele Fackeln. Jeder zweite Engel wird diese Fackeln tragen (sie waren wie viele Baumstämme). Sie werden benutzt, um sie auf die Welt zu werfen. Die Strafe wird furchtbar sein. Sie werden auf die Welt herabkommen, wie viele Feuerblitze, die von den Engeln auf die Erde geworfen werden. Das Feuer wird sich ausbreiten. Ein einziger Schlag, doch er wird nicht den Tod aller verursachen. Die Menschen werden entsprechend ihrer Schuld, die sie gegenüber der göttlichen Gerechtigkeit haben, bestraft werden.“
Die Ähnlichkeiten mit der Botschaft von Fatima sind beeindruckend. Am 7. Oktober 1956 berichtete Schwester Elena: „Rußland wird seine Irrtümer über die ganze Welt verbreiten, mit Verfolgungen gegen die Kirche, die Priester und gegen Christus auf Erden wird es ungeheure Umwälzungen auslösen; die Tragödie wird schrecklich sein, die Menschen werden vernichtet werden (…) Ein nie zuvor gesehener Krieg wird kommen; alle Nationen werden sich auf das Schlachtfeld begeben!“ Und am 5. April 1957: „Rußland wird alle Mächte des Bösen auf alle Nationen schleudern; der beste Teil der Diener Gottes wird durch die Läuterung der größten Geißel gehen, die die Weltgeschichte je gesehen hat.“
Die Rettung der Welt liegt im Unbefleckten Herzen Mariens. Am 22. August 1957 sagte die Gottesmutter: „Um die Seelen vor der Hölle zu retten, muß die Verehrung des Unbefleckten Herzens Mariens, der Mittlerin zwischen den Menschen und Gott, durch die Weihe der Familien an mein Herz und an das Herz Jesu verbreitet werden.“ Und am 8. Dezember desselben Jahres: „Es muß eine Legion von Seelen gebildet werden, ein Apostolat an das Unbefleckte Herz Mariens, Mittlerin und Königin des Universums.“
Am 11. Februar 1958 wiederholte die Gottesmutter: „Die christliche Welt ist in Gefahr, weil sie vom Materialismus bedroht ist: Der Sündenpfuhl, besonders in der Ewigen Stadt, hat seinen Höhepunkt erreicht. (…) Mein Sohn, der engelhafte Hirte, wird in diesen Tagen viel zu leiden haben; und es werden Todesqualen sein… Wir müssen viele Glaubensakte voll Eifer vollbringen, um für den Angriff bereit zu sein, um die Rechte des Unbefleckten Herzens Mariens, der Mittlerin zwischen den Menschen und Gott, zu verteidigen, denn meine Stunde ist nahe.“
Die Prophezeiungen von Schwester Elena Aiello verbreiteten sich vor allem nach ihrem Tod, wurden aber aufgrund ihres apokalyptischen Charakters, den der Optimismus jener Jahre nicht zuließ, nicht beachtet. Am 11. Oktober 1962 verurteilte Papst Johannes XXIII. in der berühmten Ansprache Gaudet mater ecclesia („Es freut sich die Mutter Kirche“), mit der er das Zweite Vatikanische Konzil eröffnete, die „Unglückspropheten“. Und als „Unglücksprophezeiungen“ mußten in der Ära des Dialogs, der Entspannung und von Pacem in Terris jene von Schwester Elena Aiello erscheinen. Heute hat sich das Klima geändert, aber die Möglichkeit einer göttlichen Strafe wird weiterhin aus den Köpfen der Menschen verbannt. Eine der fadenscheinigsten Begründungen für die Ablehnung der Warnungen der seligen Aiello ist, daß seit ihrem Tod sechzig Jahre vergangen sind und ihre Prophezeiungen, die sich nicht erfüllt haben, nun der Vergangenheit angehören. Man vergißt jedoch, daß die Zeiten der Menschen anders sind als die Zeiten Gottes, der alles im Licht der Ewigkeit mißt. Wenn sich eine vom Herrn angekündigte Züchtigung verzögert, bedeutet das nicht, daß sie nicht kommt, sondern daß sie umso schwerer ausfällt, je mehr sie sich verzögert. Die Härte der Strafe steht in der Tat im Verhältnis zur Schwere der Sünde, aber auch zur Dauer der Zeit, die Gott zur Umkehr gewährt. Den Menschen wird Zeit zur Umkehr gegeben, und wenn dies nicht geschieht, wird die Barmherzigkeit durch göttliche Gerechtigkeit ersetzt.
Skeptiker werden mit den Schultern zucken, aber die Kirche hat die kalabrische Seherin seliggesprochen, ohne in ihren Schriften etwas Verwerfliches zu finden. Niemand ist verpflichtet, den Offenbarungen der seligen Elena Aiello zu glauben, aber der kluge Katholik wendet seine Unterscheidungskraft auf jede Stimme an, die vom Himmel kommen könnte, denn die göttliche Vorsehung benutzt diese Stimmen, um die Seelen in den dunkelsten Zeiten der Geschichte zu führen.
(Fortsetzung folgt)
*Roberto de Mattei, Historiker, Vater von fünf Kindern, Professor für Neuere Geschichte und Geschichte des Christentums an der Europäischen Universität Rom, Vorsitzender der Stiftung Lepanto, Autor zahlreicher Bücher, zuletzt in deutscher Übersetzung: Verteidigung der Tradition: Die unüberwindbare Wahrheit Christi, mit einem Vorwort von Martin Mosebach, Altötting 2017, und Das Zweite Vatikanische Konzil. Eine bislang ungeschriebene Geschichte, 2. erw. Ausgabe, Bobingen 2011.
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Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Corrispondenza Romana/Bitno/MP/Facebook (Screenshots)