(Rom) Swjatoslaw Schewtschuk, das Oberhaupt der ukrainischen griechisch-katholischen Kirche, befindet sich derzeit in Rom auf seiner ersten Auslandsreise seit dem Beginn des russisch-ukrainischen Krieges. Neben der Audienz bei Papst Franziskus und anderen Terminen besuchte Schewtschuk am Mittwochabend auch Benedikt XVI. im Kloster Mater Ecclesiae im Vatikan.
Der Großerzbischof von Kiew-Halytsch bat Benedikt XVI. weiterhin für die Ukraine zu beten.
Schewtschuk informierte Benedikt XVI. über die Lage in der Ukraine, besonders die humanitäre Situation. Der Großerzbischof bezeichnete den Krieg als „ideologisch und kolonial“ und verglich ihn mit dem Nazi-Regime. Letzteres ist im konkreten Zusammenhang aber vielleicht ein etwas ungünstiger Vergleich.
Benedikt XVI. versicherte, die Entwicklung in der Ukraine aufmerksam zu verfolgen. Vor allem brachte er seinen Kummer zum Ausdruck über das Leid des ukrainischen Volkes. Sein Gebet gelte ganz dem Frieden.
Die Lage in der Ukraine ist deutlich komplizierter, als meist dargestellt. Das Land gibt es als Völkerrechtssubjekt erst seit dem Ersten Weltkrieg, als es zur Schwächung Rußlands auf Initiative der damals noch siegreichen Mittelmächte, des Deutschen Reichs und Österreich-Ungarns, errichtet wurde (zur Entstehung der Ukraine siehe hier). Die ukrainische Hauptstadt Kiew ist die Wiege der gesamten Rus. Durch das Einbrechen der Mongolen im Hochmittelalter verschob sich aber notgedrungen das Zentrum der Rus von Kiew nach Moskau. Das mongolische Joch wurde durch die Gegenwehr zweier Staaten abgeschüttelt, die unabhängig voneinander und teils gegeneinander vorgingen: Es handelte sich um das orthodoxe Großfürstentum Moskau und die katholische litauisch-polnische Union. Das führte zu einer kulturellen Teilung des Gebietes, das heute als Ukraine bekannt ist, ein Name, der im heutigen Sinne erst vor hundert Jahren in Verwendung kam.
Das Gebiet, das bis zum Ersten Weltkrieg als Kleinrußland bekannt war, ist sprachlich, religiös, kulturell und politisch zweigeteilt. Es besteht kein Zweifel, daß seit dem Ersten Weltkrieg ein ukrainischer Nationswerdungsprozeß erfolgte, der sich durch den aktuellen Krieg definitiv durchsetzen wird. Die Teilung durch das Land verläuft fast entlang der historischen Trennlinie. Diese entstand durch die Rückeroberung von den Mongolen, je nachdem, ob das Großfürstentum Moskau, aus dem das Russische Reich wurde, oder Litauen-Polen die Gegend befreite. Heute könnte man sagen, der litauisch-polnische Teil wird definitiv zur eigenständigen Ukraine mit einem ukrainischen Volk, der Moskauer Teil bleibt Kleinrußland und ist russisch. Ob durch den Krieg diese Trennungslinie gerecht und sauber gezogen wird, läßt sich noch nicht sagen, darf aber bezweifelt werden. Noch befinden sich die Russen der Ukraine jedenfalls im Nachteil.
Der Westen, also der Kern des ukrainischen Staates, ist in einigen Oblasten mehrheitlich katholisch geprägt. Die konfessionelle Trennlinie ist historisch und durchaus schmerzhaft. Die Verselbständigung der Ukraine 1991 führte auch innerhalb der orthodoxen Kirche, der Mehrheitskonfession, zu massiven Verwerfungen. In der Streitfrage, ob das Land einer West- oder Ostausrichtung folgen soll, setzte unter den „Westlern“ eine Abspaltungstendenz vom Moskauer Patriarchat ein. Auch dieser Prozeß scheint spätestens durch den Krieg zum Abschluß gelangt zu sein. Eine Rückkehr der ukrainischen Orthodoxen unter Moskau erscheint auf lange Sicht als unrealistisch.
Der Krieg vollendet nicht nur die Herausbildung eines ukrainischen Volkes, sondern auch einer eigenständigen ukrainisch-orthodoxen Kirche. Die Zeiten, als es in der Ukraine nach dem Ende der Sowjetunion drei konkurrierende orthodoxe Kirchen gab, scheinen der Vergangenheit anzugehören. Die neue ukrainisch-orthodoxe Kirche könnte, da historisch unbelastet und aufgrund des gemeinsamen Einsatzes in der Verteidigung der Unabhängigkeit, zu einem freundlicheren Verhältnis gegenüber der mit Rom unierten und von Schewtschuk geleiteten ukrainisch-katholischen Kirche gelangen, als es das Moskauer Patriarchat je hatte und anstrebte.
Wir finden also im ukrainischen Westen auf religiöser Ebene die kleine römisch-katholische Kirche, die deutlich stärkere mit Rom unierte ukrainische griechisch-katholische Kirche (zur Entstehung dieser Kirche siehe hier) und die große ukrainisch-orthodoxe Kirche, während im kleinrussischen Osten, um bei diesen Begrifflichkeiten zu bleiben, die notwendig erscheinen, um die Zweiteilung des Landes zu verdeutlichen, die russisch-orthodoxe Kirche führend ist und sich in den von den Russen eroberten Gebieten als einzige orthodoxe Kirche durchsetzen wird. Ein schmerzlicher Prozeß vor allem für die orthodoxe Welt, der wegen der Jurisdiktions- und Anerkennungsfrage noch viele Jahrzehnte fortdauern wird.
Die Sache ist jedoch noch komplizierter, weil es im Westen auch polnische, rumänische, ungarische und russinische (ruthenische) Bevölkerungsanteile gibt, die im Zuge des nationalen Aufbäumens der Ukrainer unter die Räder zu kommen drohen. Die Ruthenen verfügen sogar über eine eigenständige mit Rom unierte ruthenische griechisch-katholische Kirche. Der russisch-ukrainische Konflikt entbrannte an der Frage der NATO-Osterweiterung, doch spielte ebenso die rücksichtslose Unterdrückung der Russen und Kleinrussen in der Ukraine eine wesentliche Rolle. Großerzbischof Schewtschuk spricht von einem „kolonialen“ Krieg Rußlands gegen die Ukraine. Dabei darf aber der ukrainische Nationalismus gegen die Russen und die russische Sprache in der Ukraine nicht ausgeblendet werden, wenn man verstehen will, wie die katastrophale Situation entstehen konnte, die heute vorherrscht. Die im Osten, am Ende des Ersten Weltkrieges, willkürlich gezogenen Grenzen der Ukraine bilden keine ethnische und sprachliche Grenze zwischen Ukrainern und Russen. Diese verläuft viel weiter westlich mitten durch die heutige Ukraine. Ihre Entstehung setzte bereits im 14. Jahrhundert ein, als Litauen Kiew einnahm.
Auf eine Besonderheit der ukrainischen Situation soll noch hingewiesen werden. In der westliche Ukraine existiert neben den beiden Zweigen der katholischen Kirche, der römisch-katholischen und der ukrainischen griechisch-katholischen Kirche auch noch die ukrainische rechtgläubige griechisch-katholische Kirche (fälschlich oft als „ukrainische orthodoxe griechisch-katholische Kirche“ übersetzt). Dabei handelt es sich um eine Abspaltung der ukrainischen griechisch-katholischen Kirche, die auf die Jahre 2008 bzw. 2011 zurückgeht. Sie verfügt über vier Bischöfe und an ihrer Spitze steht ein byzantinisch-katholischer Patriarch, der sich zur Zeit „im Exil“ in Prag befindet. Diese Abspaltung versteht sich als Teil der katholischen Kirche, lehnt aber den regierenden Papst ab und gehört damit zum Bereich des Sedisvakantismus. Über die Größe ihrer Anhängerschaft liegen keine näheren Angaben vor.
Der Grund für die Abspaltung war, daß dem damaligen Großerzbischof Kardinal Ljubomyr Husar (2000/2001–2011), dem Vorgänger Schewtschuks, vorgeworfen wurde, Ketzerei zu predigen. Insgesamt hatte bereits die Ernennung Husars zu Spannungen geführt, da er als von Rom aufgezwungen empfunden wurde. Die ukrainische griechisch-katholische Kirche hatte die Sowjetzeit unter schwerer Verfolgung im Untergrund überlebt, während Husar zum Vorwurf gemacht wurde, sein ganzes Leben bis zum Ende der kommunistischen Herrschaft im Westen verbracht und von dort eine zweifelhafte Mentalität mitgebracht zu haben. Da Rom den Kritikern nicht zu Hilfe kam, taten sie, was im lateinischen Bereich undenkbar, im ostkirchlichen Bereich aber nicht unüblich ist: Sie zogen die Konsequenzen und belegten die Gegenseite mit dem Kirchenbann, worauf sie umgekehrt exkommuniziert wurden.
Die Ukraine ist nicht nur ein flächenmäßig großes Land und reich an fruchtbaren Böden und vielen Bodenschätzen, sondern auch reich an Geschichte. Wenn man das Heute verstehen will, muß man die Vergangenheit aufmerksam studieren. Panzer und Granaten sind dafür nicht geeignet, weder auf der einen noch auf der anderen Seite.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: UGCC/UOGCC/Wikicommons/MiL (Screenshots)
Wo ist der Mittelpunkt der katholischen Christenheit? Schauen wir auf Mater Ecclesiae. Der Name sagt es schon. Die Mutter der Kirche. Mater ist der weibliche Aspekt. Nicht handelnd, agierend. Eher schützend, ermöglichend. Ein alter emeritierter Papst, der betet. Ob er noch die Kräfte verfügt, thematisch Schwerpunkte zu setzen, ist nebensächlich. Er betet. Er ist ein Licht, das ausserhalb gespürt werden kann. Ich mag die Fotos auf dem Flughafen München 2020 so sehr, wo von Benedikt ein Licht ausgeht. Alles um ihn herum strahlt. Er ermöglicht den Raum, in dem andere aufblühen können.
Dieser Artikel berichtet von dem Aufblühen. Er berichtet von einem ruhenden Pol inmitten einer vom Sturm haltlos gewordenen Welt.
Und nebenbei fällt mir auf, der Zeitpunkt dieses Besuches stimmt mit der Veröffentlichung des gefälschten Gänsweinbriefes zusammen.