
Von Roberto de Mattei*
Im Jahr 2004 bezeichnete der damalige Kardinal Ratzinger in einem Dialog mit Senatspräsident Marcello Pera den Selbsthaß des Westens als kulturelles Übel unserer Zeit.1
Ein Ausdruck dieses Hasses auf den Westen ist die „Russophilie“, eine intellektuelle Tendenz, die am 14. März 2023 mit der Vorstellung der „Internationalen Bewegung der Freunde Rußlands“ in Moskau zu einer internationalen Organisation wurde. Unter den 120 Vertretern aus 46 Ländern befindet sich laut Medienberichten auch eine Italienerin, Prinzessin Vicky (Vittoria) Alliata di Villafranca2, die für ihr großes Interesse an der islamischen Welt bekannt ist. Eine weitere bekannte Persönlichkeit, Erzbischof Carlo Maria Viganò, richtete eine herzliche Botschaft an die Konferenzteilnehmer, in der er unter anderem erklärte: „Die Russische Föderation stellt unbestreitbar die letzte Bastion der Zivilisation gegen die Barbarei dar“. Die Russische Föderation werde „eine entscheidende Rolle spielen“ in einer „antiglobalistischen Allianz, die den Bürgern die Macht zurückgibt, die ihnen genommen wurde, und den Nationen die Souveränität, die sie an die Lobby in Davos abgetreten haben“.
Wie jeder Irrtum geht auch die Russophilie von einer Wahrheit aus: der Dekadenz des Westens, der sich von seiner Geschichte und seinen Werten abgewandt hat. Das Lehramt der katholischen Kirche hat für diesen Verfall einen Feind verantwortlich gemacht, der „in den vergangenen Jahrhunderten versucht hat, die intellektuelle, moralische und soziale Auflösung der Einheit des geheimnisvollen Organismus Christi zu bewirken“ (Pius XII., Ansprache vom 12. Oktober 1952 an die Männer der Katholischen Aktion). Prof. Plinio Corrêa de Oliveira hat in seinem Buch „Revolution und Gegenrevolution“ die Ursprünge des Zerfalls in einer Kette von Irrtümern ausgemacht, die unter dem Einfluß ungeordneter Leidenschaften die christliche Zivilisation seit dem 15. Jahrhundert angegriffen haben und nun auch in die Kirche eingedrungen sind.
Ein Katholik kann nicht anders, als diesen revolutionären Prozeß zu bekämpfen und von ganzem Herzen die Wiederherstellung eines christlichen Abendlandes zu wünschen, das zusammen mit einem zur wahren Kirche bekehrten Osten eine einzige und universale Zivilisation unter der Herrschaft Christi bildet. Der Irrtum besteht darin, sich vorzustellen, daß das Instrument dieser Wiederherstellung ein Land sein kann, das sich noch nicht wirklich vom Kommunismus gelöst hat und das sich zu einer stark antiwestlichen und antirömischen politischen Religion bekennt.
Der Westen, der moralisch und intellektuell korrupt ist, übt heute die politische und wirtschaftliche Führung in der Welt aus. Die Russophilen bekämpfen nicht die moralisch-intellektuelle Korruption des Westens, sondern seine geopolitische Führung. Sie wollen nicht, daß der Westen sich von seinen Fehlern reinigt und zu seinen Wurzeln zurückkehrt, sondern daß er verschwindet oder radikal verkleinert wird. Was die Russophilen eine „multipolare“ Welt nennen, ist das Verschwinden der hegemonialen Rolle des Westens, das Ende einer „eurozentrischen“ Zivilisation. Und da die Natur ein Vakuum verabscheut, wissen und wünschen sie, daß die Führung des Westens durch eine neue internationale Einheit ersetzt wird: das eurasische Reich.
Hinter jeder geopolitischen Realität steht eine Weltanschauung, die im Falle der Russophilen der „Nationalkommunismus“ ist. David Bernardini hat in seiner knappen Studie „Nationalbolschewismus“ (Shake, Mailand 2020) die Geschichte dieser ideologischen Strömung nachgezeichnet, die auf die Weimarer Republik zurückgeht und in Ernst Niekisch (1889–1967), einem der Hauptakteure der bayerischen Sowjetrevolution von 1919, ihren ersten Theoretiker hatte.
Niekisch und die Nationalbolschewiken bewunderten die Sowjetunion von Lenin und Stalin und feierten den von der westlichen Zivilisation unbefleckten sowjetischen Arbeiter. Ihr Feind war das internationale System des Versailler Vertrags, Ausdruck des westlichen Herrschaftswillens. Die Ablehnung des Westens war für sie mit der Ablehnung des Romanismus, d. h. der lateinischen und westlichen Romanität, verbunden. Europa, die Romanität, der Katholizismus, das Römische Recht, der Westen sind für Niekisch allesamt Ausdruck eines einzigen Universums, das ein Feind Deutschlands ist. Das Bündnis mit dem bolschewistischen Rußland wurde als notwendig erachtet, um die deutsche Kultur vor der Vorherrschaft der westlichen Zivilisation zu retten.
In jenen Jahren lautete die zentrale These des Eurasiers Nikolai Trubetzkoy (1890–1938), Professor für slawische Philologie an der Universität Wien, daß das russische Volk ebenso wie die östlichen Völker „unter dem drückenden Joch des Romanogermanischen“ leide; ein Joch, das nur zerstört werden könne, wenn Rußland einen planetarischen Aufstand anführe, um den Verwestlichungsprozeß zu blockieren. Mit anderen Worten, er mußte aus seinem Schoß vertreiben, was Europa – das „absolut Böse“ – abgelagert hatte, und einen revolutionären Aufruf zu den Waffen gegen die Westmächte starten, „um deren gesamte Kultur vom Angesicht der Erde zu tilgen“.3
Stalin schien den Nationalbolschewismus zu verkörpern, insbesondere mit dem „Großen Vaterländischen Krieg“ von 1941–1945, aber die Entstalinisierung und der Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 mischten die Karten neu. 1993 wurde die Nationalbolschewistische Partei Rußlands von Eduard Limonow (1943–2020) und Alexander Dugin, beide Söhne von KGB-Funktionären, mit dem Ziel gegründet, ein riesiges russisches Imperium von Wladiwostok bis Gibraltar zu schaffen. Ihre Todfeinde waren die Vereinigten Staaten („der große Satan“) und die in der NATO und den Vereinten Nationen zusammengeschlossenen Globalisten Europas. Im Jahr 1998 trennten sich Dugin und Limonow. Dugin gründete die Eurasische Partei und näherte sich Putin an, während Limonow in die Opposition ging und 2001 verhaftet wurde, dann aber 2014 Putins politische Strategie in der Ukraine unterstützte.
Um den Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar 2022 zu rechtfertigen, berief sich Wladimir Putin wiederholt auf die Ideologie der „russischen Welt“ (Russki Mir), die alles Russische (die ganze Rus) zusammenfassen soll. Am 21. Juli 2007 wurde per Dekret die Stiftung Russki Mir unter dem Vorsitz von Wjatscheslaw Nikonow gegründet, dem Enkel und Biographen von Wjatscheslaw Molotow, der zusammen mit Joachim von Ribbentrop den nationalsozialistisch-sowjetischen Pakt von 1939 ausgearbeitet hatte. Die „russische Welt“ hätte ein gemeinsames politisches Zentrum, den Kreml, eine gemeinsame Sprache, nämlich Russisch, und eine gemeinsame Kirche, das Moskauer Patriarchat, das mit dem Präsidenten der Russischen Föderation, Putin, „symphonisch“ zusammenarbeitet. Das ist der „antiglobalistische“ Horizont der Russophilen.
In Italien wird das nationalbolschewistische (rotbraune) Denken von Diego Fusaro vertreten, einem neomarxistischen Intellektuellen, der auch von einigen traditionalistischen Katholiken für seine Unterstützung von Andrea Cionci und Alessandro Minutella, die die Gültigkeit des Pontifikats von Papst Franziskus nicht anerkennen, geliebt wird. „Rotbraun“, so Fusaro, „ist jeder, der sich bewußt ist, daß der heutige Antagonismus auf dem vertikalen Gegensatz zwischen Dienern und Herren und nicht auf eitlen horizontalen Trennungen beruht und heute rechts und links ablehnt“ (in Ticinolive, 20. März 2017). Rotbraune, Nationalkommunisten, Russophile, in vielen Punkten gespalten, sind sich einig in ihrer Ablehnung der römischen Dimension der katholischen Kirche und des christlichen Europas. Es herrscht Verwirrung und die Worte von Kardinal Ratzinger bekommen neue Aktualität:
„Es gibt hier einen Selbsthaß des Westens, der seltsam ist und nur als etwas Pathologisches angesehen werden kann; der Westen versucht zwar lobenswerterweise, sich voller Verständnis für äußere Werte zu öffnen, aber er liebt sich selbst nicht mehr; er sieht in seiner Geschichte nur noch das Bedauernswerte und Zerstörerische, während er nicht mehr in der Lage ist, das Große und Reine wahrzunehmen. Europa braucht eine neue – durchaus kritische und demütige – Akzeptanz seiner selbst, wenn es wirklich überleben will.“ 4
*Roberto de Mattei, Historiker, Vater von fünf Kindern, Professor für Neuere Geschichte und Geschichte des Christentums an der Europäischen Universität Rom, Vorsitzender der Stiftung Lepanto, Autor zahlreicher Bücher, zuletzt in deutscher Übersetzung: Verteidigung der Tradition: Die unüberwindbare Wahrheit Christi, mit einem Vorwort von Martin Mosebach, Altötting 2017, und Das Zweite Vatikanische Konzil. Eine bislang ungeschriebene Geschichte, 2. erw. Ausgabe, Bobingen 2011.
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Übersetzung/Anmerkungen: Giuseppe Nardi
Bild: Corrispondenza Romana
1 Marcello Pera/Joseph Ratzinger: Senza radici (Ohne Wurzeln. Europa, Relativismus, Christentum, Islam), Mondadori, Mailand 2004
2 Prinzessin Vittoria Alliata di Villafranca aus sizilianischem Hochadel ist das einzige Kind von Francesco Alliata di Villafranca, 14. Fürst von Villafranca und des Heiligen Römischen Reiches, Grande von Spanien, Herzog von Salaparuta und Montereale etc. Die Titel des 2015 verstorbenen Ritters des Malteserordens gingen nach seinem Tod auf einen Neffen über. Seine Tochter Vittoria Alliata di Villafranca, eine Cousine der Schriftstellerin Dacia Maraini, übersetzte Ende der 60er Jahre als erste Tolkiens Trilogie „Der Herr der Ringe“ ins Italienische. Sie bewohnt den Familiensitz Villa Valguarnera, einen einzigartigen Barockpalast, in Bagheria bei Palermo.
3 N. Trubeckoj: L’Europa e l’Umanità (Europa und die Menschheit), Einaudi, Turin 1982, S. 66–70.
4 Marcello Pera/Joseph Ratzinger: Senza radici (Ohne Wurzeln), S. 70f.
Die Zeitenwende fand 1991 statt, als Rußland den Warschauer Pakt auflöste und Dank der Weihe an das Unbefleckte Herz Mariens sich vom Kommunismus bekehrte und normal wurde. St. Georg, der Drachentöter, ist jetzt im Staatswappen. Putin wirbt seit 2001 um engere Beziehungen mit Deutschland. Das wollen die United States mit aller Macht verhindern, siehe Nordstream-Sprengung.
Unser aller Feind sitzt in Washington.
Rußland wird den Westen überfallen, sagen Sr. Lucia von Fatima und Alois Irlmaier.
Daß wir in der Endzeit leben, kann man leicht erkennen. Zentralbankgeld, Transhumanismus, Menschheitsreduzierung und all der ganze Blödsinn.
Warum soll ich Russen hassen?
Benedikt XVI. meinte damals aber weder Russland noch „Freunde Russlands“. Mit dem Selbsthass richtete er sich gegen die Feinde des Christentums und des Naturrechts, die im Westen sitzen, von den Abtreibungs- und Homo-Befürwortern bis hin zu den Antideutschen. Er meinte jene, die sich der Natur und Wirklichkeit verweigern und sie bekämpfen. Das sind die radikalen Materialisten.
Die alten Nationalbolschewiken mögen auch dazu gehört haben. Aber die Katholiken, die in der aktuellen Situation instinktiv mit Russland mehr sympathisieren als mit Washington oder Brüssel, gehören nicht dazu.
Der beauerliche Eindruck: Es wird unzusammenhängend viel zusammengerührt, um gegen Russland Stimmung zu machen. Warum? Um sich auch an das Macht-Narrativ von Biden-Washington anzuhängen? Den echten Zerstörern des christlichen Abendlandes? Nein, Danke. Dafür besteht doch wirklich kein Bedarf.
Das Papst Benedikt mit dem Selbsthass des Westens weder damalige noch heute „Russophilie“ meinte ist jedem hoffentlich klar.
Wenigstens jedem, der in den sich immer rascher islamisierenden Ländern des Westens leben muss!
Ich schätze Erzbischof Carlo Maria Viganò sehr. Aber seiner Analyse bzgl. Russland konnte ich nicht folgen. Da scheint mir die Argumentation von Roberto de Matei schon schlüssiger.