Von Roberto de Mattei*
Die Ergebnisse der Wahlen vom 25. September 2022 bestätigen, daß Italien ein Land ist, das trotz der wiederholten Versuche der Linken, unter Umgehung der Wahlergebnisse die Regierung zu übernehmen, rechts verwurzelt ist. Es gibt keinen Platz für eine Tripolarität, wie die Tatsache zeigt, daß einer der Gründe für das linke Debakel die Abspaltung zweier ihrer politischen Subjekte war: der Fünfsternebewegung [Movimento 5 Stelle] von Giuseppe Conte und der Aktion [Azione] von Carlo Calenda und Matteo Renzi. Die einzige Gewinnerin war die Anführerin des Mitte-rechts-Bündnisses Giorgia Meloni, während der Hauptverlierer der Anführer des Linksbündnisses Enrico Letta war.
Der Sieg der Mitte-rechts-Parteien hat mit 235 von 400 Abgeordneten und 115 von 200 Senatoren historische Ausmaße, aber es fehlte die triumphale Atmosphäre, die frühere Siege in den Jahren 1994, 2001 und 2008 gekennzeichnet hatte. Politische Strategie von Giorgia Meloni, die sich nüchtern präsentieren wollte, um die internationalen Märkte zu beruhigen? Vielleicht auch das, aber vor allem das Bewußtsein, sowohl an der Spitze als auch an der Basis von Mitte-rechts, für die besorgniserregende Situation für unser Land, dem in den kommenden Monaten vor dem Hintergrund eines stürmischen internationalen Umfelds eine schwere Wirtschaftskrise bevorsteht.
Seit dem Tag nach ihrem Wahlsieg steht Giorgia Meloni in informellem Kontakt mit dem Quirinal [dem Amtssitz des Staatspräsidenten] und mit Mario Draghi, von dem sie die Regierungsverantwortung und die politische und wirtschaftliche Situation zu übernehmen hat. Draghi wurde als Ausdruck der internationalen Finanzgruppen dargestellt, was er auch ist, aber der „Draghismus“ läßt sich nicht als Ideologie der starken Mächte definieren, sondern eher als Neopragmatismus in der Art Andreottis1, mit einigen Fixpunkten wie die Koppelung an die Vereinigten Staaten von Amerika. Der Niedergang von Giulio Andreotti und Bettino Craxi2 begann genau 1985, als mit der Sigonella-Krise3 der Bruch mit dem Amerika von Ronald Reagan erfolgte. Giorgia Meloni weiß sehr genau, wie sehr der internationale Druck das Ende der Regierung Berlusconi im Jahr 2011 und das der Regierung aus Lega und Fünfsternebewegung im Jahr 2018 beeinflußt hat, und sie hat auch verstanden, daß die Europäische Union ein schwacher und zerstrittener Akteur ist, während die USA, mit China, die führende Weltmacht bleiben. In diesem Sinne haben jene Recht, die sie eher als „Atlantikerin“ denn als EUlerin bezeichnen und der Meinung sind, daß sie kaum von dieser Linie abweichen wird.
Die französische Premierministerin Elisabeth Borne erklärte nach dem Sieg von Giorgia Meloni, daß Frankreich „aufmerksam“ beobachten werde, daß das Recht auf Abtreibung in Italien „respektiert“ wird, und belebte damit eine rein instrumentelle Polemik über die abtreibungsfeindlichen Positionen der Vorsitzenden der Fratelli d’Italia. Abtreibung ist jedoch kein unumstößliches Menschenrecht, sondern ein Verbrechen, gegen das sich Millionen von Männern und Frauen in der ganzen Welt auflehnen, wie jenseits der Worte auch die Fakten beweisen.
Das symbolträchtigste Ereignis der Wahl 2022 fand im großen Senatswahlkreis Rom 1 statt, einer Hochburg der Linken, wo die Ikone der Abtreibungslobby, Emma Bonino, nach 46 Jahren im Parlament von einer Kandidatin der Fratelli d’Italia, Lavinia Mennuni, besiegt wurde, die in ihrem Programm die Förderung der Geburtenrate und „den Schutz des Menschenlebens von der Empfängnis an“ als Priorität definiert hatte (La Verità, 27. September 2022). Lavinia Mennuni erhielt keine Unterstützung durch die Medien, sondern führte eine Haus-zu-Haus-Kampagne durch, ohne ihre Positionen zu verbergen, und wurde dafür belohnt. Die Niederlage von Emma Bonino ist unanfechtbar und beweist, daß die Kultur des Todes besiegt werden kann.
Die Abtreibung und der systematische Mord am Abendland waren schon immer ein Teil des Programms der Linken, und zwar seit ihrem ersten politischen Manifest, als welches „Français, encore un effort“ (vollständig: „Franzosen, noch eine Anstrengung, wenn ihr Republikaner sein wollt“) des „Bürgers“ Donatien-Alphonse-François de Sade (1740–1814) betrachtet werden kann, des Sekretärs der berüchtigten jakobinischen Sektion der Piques in der Französischen Revolution. Hätte jedoch zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein linker Politiker die Abtreibung zu seinen Wahlkampfforderungen gemacht, wäre seine Karriere sofort gescheitert. Dies zeigt, wie weit der Prozeß der Säkularisierung der Gesellschaft fortgeschritten ist, und daß der Weg heute nicht darin besteht, eine politische Partei zu gründen, wie es Giuliano Ferrara in der Ära Ratzinger getan hat, sondern auf die öffentliche Meinung einzuwirken, wie es in den USA geschehen ist, was zur Aufhebung des Verfassungsurteils Roe gegen Wade führte. In Italien mußten wir nach dreißig Jahren Abtreibungsgesetzgebung bis 2011 warten, um den ersten Marsch für das Leben zu erleben, der bis dahin von den kirchlichen Hierarchien, der DC (Democrazia Cristiana, die Partei der Christdemokraten) und Carlo Casinis Movimento per la vita [Bewegung für das Leben] bekämpft worden war. Wir hoffen, daß Massimo Gandolfini, der jetzt den Vorsitz innehat, in die Fußstapfen von Virginia Coda Nunziante tritt, von der er den Stab übernommen hat, und daß die Patrouille der Lebensrechtler, die es jetzt im Parlament gibt, sich Gehör verschaffen wird.
Die Wahlergebnisse haben auch bestätigt, daß es sinnlos ist, sich vorzumachen, man könne innerhalb des Systems eine Anti-System-Partei schaffen. Die anerkannteste Anti-Impf-Partei, Italexit, des ehemaligen Fünfsterne-Politikers Gian Luigi Paragone, hat die Dreiprozenthürde nicht überschritten; Italia Sovrana e popolare (auf deren Listen neben Marco Rizzo auch der ultrakommunistische ehemalige Richter Antonio Ingroia kandidierte) erreichte knapp über ein Prozent; die ehemalige Fünfsterne-Abgeordnete Sara Cunial und Davide Barillari mit ihrer Formation Vita blieb bei 0,7 Prozent stehen; Alternativa per l’Italia von Mario Adinolfi und Simone di Stefano kam kaum über 0,1 Prozent hinaus. Außerdem gab es zwei weitere kleine Parteien, AntiGreen Pass mit 0,1 % und Impfgegner mit 0,7 %. Alle haben die Schwelle zum Einzug ins Parlament bei weitem nicht erreicht.3
Einige sind der Meinung, daß die Ergebnisse anders ausgefallen wären, wenn sich diese Parteien zusammengeschlossen und den Personalismus überwunden hätten. Der bisher kohärenteste Kitt der Welt der Corona-Maßnahmengegner ist der antiglobalistische Vorschlag des neomarxistischen Philosophen Diego Fusaro, der nach dem Eingeständnis der „schweren Niederlage für die sogenannten Anti-System-Kräfte“ feststellte: „Die neue politische Geographie, um die herum Denken und Praxis aufgerufen sind sich zu organisieren, entspricht dem Paar oben und unten, dem Herrn und dem Knecht, wie Hegel es ausdrückte. Rechts und links repräsentieren gleichermaßen den hohen, den neoliberalen Herrn. Wir müssen eine Kraft von unten und für unten schaffen, die die neoliberale Globalisierung, den NATO-Imperialismus, die mit dem Liberalismus verbundenen Notstandsregime, den radikalen und postmetaphysischen Individualismus herausfordert“. Fusaros antiglobalistische Ideologie ordnet jeden, der sie akzeptiert, einer anarcho-marxistischen Weltanschauung unter, deren Referenzen laut Fusaro die großen Rebellen gegen die etablierte Ordnung der Geschichte sind: Luther, Giordano Bruno, Marx, Lenin, Martin Luther King und sogar Prometheus. Das aber hat nichts mit der katholischen und traditionellen Sichtweise der Gesellschaft zu tun, sondern ist eher das Gegenteil davon. Die Schlacht der kommenden Monate wird vor allem auf der internationalen Bühne ausgetragen werden, wo sich immer dunklere Wolken am Horizont abzeichnen. Die italienischen Wahlen fielen mit den illegalen Abstimmungen in den von Rußland besetzten Gebieten der Ukraine zusammen, während am 27. September Explosionen und Gasaustritte aus der Nord-Stream-Pipeline in der Ostsee gemeldet wurden, die höchstwahrscheinlich auf Sabotageakte zurückzuführen sind. In diesem Rahmen ist Giorgia Meloni aufgerufen, eine Stimme des Abendlandes zu sein, das nicht aufgibt: nicht des Westens der Pseudo-Bürgerrechte, sondern jener, die die christlichen Wurzeln einer bedrohten Zivilisation verteidigen. Auf den Gewinner der Wahlen vom 25. September wartet eine schwierige Prüfung. Im internationalen Spiel zwischen Washington auf der einen und Moskau und Peking auf der anderen Seite gibt es eine Dynamik der Ereignisse, die sich der Kontrolle jener entzieht, die sie in Gang setzen, wie es bei der Französischen Revolution und den beiden Weltkriegen der Fall war. Was auch immer geschieht, wir wissen, daß nichts derjenigen entgeht, die jedes Ereignis von Ewigkeit her ordnet und regelt: der göttlichen Vorsehung, der einzigen lenkenden und starken Macht der Geschichte.
*Roberto de Mattei, Historiker, Vater von fünf Kindern, Professor für Neuere Geschichte und Geschichte des Christentums an der Europäischen Universität Rom, Vorsitzender der Stiftung Lepanto, Autor zahlreicher Bücher, zuletzt in deutscher Übersetzung: Verteidigung der Tradition: Die unüberwindbare Wahrheit Christi, mit einem Vorwort von Martin Mosebach, Altötting 2017 und Das Zweite Vatikanische Konzil. Eine bislang ungeschriebene Geschichte, 2. erw. Ausgabe, Bobingen 2011.
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Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Corrispondenza Romana
1 Der Christdemokrat Giulio Andreotti (1919–2013) gehörte von 1946 bis zu seinem Tod dem italienischen Parlament an, war von 1947 bis 1992 Mitglied von 33 der 53 Regierungen und zwischen 1972 und 1992 sieben Mal Ministerpräsident. Von 1991 bis zu seinem Tod war er Senator auf Lebenszeit.
2 Der Sozialist Bettino Craxi (1934–2000), Parlamentsabgeordneter von 1968 bis 1994, war von 1983 bis 1987 erster und einziger sozialistischer Ministerpräsident Italiens. Er vollendete den Weg der Sozialistischen Partei (PSI), deren Vorsitzender er seit 1976 war, in den Kreis der europäischen Sozialdemokratie und auf einen atlantischen Kurs, weg von Volksfront-Plänen, aber mit dem Wunsch nach eigenem Gestaltungsspielraum in der Außenpolitik. Sowohl die Sozialistische Partei als auch die Christdemokraten gingen im Zuge ausgedehnter Schmiergeldaffären nach 1992 unter. Bettino Craxi mußte sich nach Tunesien absetzen, um einer Strafverfolgung zu entgehen. 2000 verstarb er in seinem Exil. Dem Umfeld Craxis gehörte Silvio Berlusconi an. Craxis Tochter Stefania ist seit 2018 Senatorin für Forza Italia.
3 Sigonella ist ein italienischer Militärflugplatz auf Sizilien. 1985 kam es in Sigonella, im Gefolge der Entführung des italienischen Kreuzfahrtschiffes Achille Lauro durch ein Kommando der Palästinensischen Befreiungsfront (PLF), zu einer kritischen Konfrontation zwischen Angehörigen einer amerikanischen Spezialeinheit und italienischen Militäreinheiten. Beide Seiten beabsichtigten unabhängig voneinander die Festnahme der Entführer, die von US-amerikanischen Kampfflugzeugen mit ihrem Flugzeug zur Landung auf dem Stützpunkt gezwungen worden waren. Knackpunkt war die Mißachtung und Verletzung der italienischen Souveränität durch die USA. Die Situation entspannte sich erst nach mehreren Stunden, als sich die US-Einheit zurückzog. Der Vorfall belastete die amerikanisch-italienischen Beziehungen.
4 Das systemkritische Spektrum erreichte zusammen rund 4,4 Prozent, was über der Dreiprozenthürde für den Einzug in das Parlament liegt, erwies sich aber aus ideologischen, strategischen und persönlichen Gründen als inhomogen und heillos zerstritten.