von Pater Paolo M. Siano*
In den beiden Kapiteln des ersten Teils habe ich die Geschichte und die Esoterik der regulären österreichischen Freimaurerei im 18. Jahrhundert skizziert, insbesondere das Vorhandensein von zwei Strömungen, in denen reguläre Freimaurermeister aktiv waren (sogar hohe Würdenträger der österreichischen Freimaurerei): die magische Strömung (z. B. Gold- und Rosenkreuzer, Asiatische Brüder…) und die aufklärerische, rationalistische und antiklerikale Strömung, d. h. die Bayerischen Illuminaten, die in der österreichischen Freimaurerei, insbesondere in der Wiener Loge „Zur wahren Eintracht im Orient“, sehr präsent waren. Wie ich bereits erwähnt habe, waren Esoterik und Gnosis auch der Loge „Zur wahren Eintracht“ nicht so fremd, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Der Geist dieser Loge wird in der österreichischen Freimaurerei nach wie vor geschätzt und ist dort lebendig.
Ich möchte nun auf einige Artikel aus dem Journal für Freymaurer, der freimaurerischen Zeitschrift der Loge „Zur wahren Eintracht“, hinweisen, aus denen hervorgeht, daß Esoterik und Gnosis auch in jener sogenannten „reinen“ Freimaurerei zu finden sind, die angeblich – zumindest nominell – im Gegensatz zur magischen Strömung steht.
3. Einige Artikel aus dem Journal für Freymaurer (1784–1786)
Die Loge „Zur wahren Eintracht“ behauptet, die freimaurerische Strömung der Rosenkreuzer, Alchemisten und Kabbalisten zu bekämpfen, doch in Wirklichkeit teilt sie, wie wir sehen werden, deren esoterische und gnostische Elemente, die in Wirklichkeit die rituelle und symbolische Essenz der „reinen“ Freimaurerei ausmachen.
Ich stelle einige Artikel aus dem Journal für Freymaurer (Abkürzung: JF) zusammenfassend vor, wobei ich mit arabischen Ziffern das Jahr (1 = 1784; 2 = 1785; 3 = 1786) und mit römischen Ziffern den Quartalsband (I, II, III, IV) und dann, wiederum mit arabischen Ziffern, die Seitenzahl angebe.
1) In dem Artikel „Über die Mysterien der Aegyptier“ (JF 1/I, 15–132) vergleicht der Stuhlmeister der Loge „Zur wahren Eintracht“, Ignaz von Born, die altägyptischen Mysterien (Bräuche und Zeremonien) mit der Freimaurerei.
Thot/Hermes Trismegistos gab den Priestern des alten Ägypten das Wissen und die Schlüssel zu den Hieroglyphen, in denen sie ihre Wissenschaft verbargen (vgl. S. 23f, 30–32). Die Priester des alten Ägypten kannten die hermetische Philosophie (Hermetik), die Magie, die Alchemie (vgl. S. 72) und praktizierten die Theurgie, d. h. den Kontakt mit Geistern (vgl. S. 73). Von Born führt aus, daß die antiken Mysterien (antike Kulte und Initiationsriten der heidnischen Welt) einen dreifachen Sinn hatten: moralisch, historisch und mystisch (vgl. S. 85). Um den mystischen Sinn zu verstehen, können „unsre sogenannten erleuchteten Brüder uns hierin nicht zu Hilfe kommen“ (S. 86), „und man wird die Aehnlichkeit der Einweihung des ägyptischen Priesters und des Maurers nicht verkennen“ (S. 99).
Von Born stellt fest, daß die Maurerkelle die Kunst der Freimaurerei ausdrückt, die Osiris entdeckt haben muß, eine Kunst, die den Eingeweihten heilig gewesen sein muß und der sich die ägyptischen Priester völlig verschrieben haben (vgl. S. 108). Von Born setzt das Arbeitswerkzeug, das die dem Gott Osiris gleichgestellte Figur des ägyptischen Priesters („Werkzeuges“) in der Hand hält (vgl. S. 109), mit dem Hammer bei den Arbeiten der Maurer gleich („der Hammer bey den Arbeiten der Maurer“: S. 110).
Von Born betont die Ähnlichkeit der Hieroglyphen des Tafel- oder Logenbildes mit den von den Priestern im alten Ägypten verwendeten Zeichen (vgl. S. 113f).
Von Born erklärt, daß bei den alten Ägyptern und der Alchemie („unsre Chemie“) das nach unten zeigende Dreieck für Wasser (Osiris, Leben) und das nach oben zeigende Dreieck für Feuer (Set oder Typhon, Tod) steht. Daher können die Freimaurer in ihrer Kelle das Dreieck der ägyptischen Kosmogonie sehen, Symbol für Feuer und Wasser, und sich an „Hermes Trismegistos“ erinnern. Die blaue Farbe der Freimaurermeister war die Farbe der Priester im alten Ägypten (vgl. S. 117f).
Dann legt von Born auf ziemlich unverhüllte Weise die Ähnlichkeit zwischen der Legende von Osiris (ägyptischer Gott, der von seinem bösen Bruder Set oder Typhon getötet wurde) und der freimaurerischen Legende von Hiram nahe, also einen ägyptischen Ursprung der Legende des dritten Grades der Freimaurer (vgl. S. 122–125).
2) In dem Artikel „Ueber Analogie zwischen dem Christenthume der erstern Zeiten und der Freymaurerey“ (JF 1/II, 5–64) behauptet der Freimaurer Br. M*ch***r, daß die drei Sakramente, „die Taufe, das Abendmahl und die Priesterweihe“, jenen zum Vorbild gedient haben könnten, welche die drei Grade der Freimaurerei gestaltet haben (vgl. S. 37). Der anonyme Freimaurer vergleicht die freimaurerische Initiation des 1. Grades, des Lehrlings, mit der Taufe und erklärt, daß die Exorzismen gegen den Teufel den symbolischen Reisen und der Reinigung (die durch die 4 Elemente erfolgt) in der Einweihungszeremonie des Lehrlingsgrades entsprechen:
„Die Exorcismen oder Beschwörungen des Teufels mögen wohl für unsre symbolischen Reisen und unsre Reinigungen durch die Elemente gelten“ (S. 38).
Auf die Zunge des Neugetauften wird Salz gelegt, „wir drücken Salomons Siegel auf die Zunge des Eingeweihten“. Der Neugetaufte erhält eine brennende Kerze und ein weißes Gewand; dem neuen Freimaurerlehrling wird das Licht gezeigt und er erhält eine weiße Schürze, die die Unschuld symbolisiert (vgl. S. 39f).
3) In der „Rede über die Leiden und Freuden des menschlichen Lebens“ (JF 1/II, 157–162) sagt der Freimaurer Br. B***r, das „Naturgesetz“, das man im Leben lernt, sei, daß es kein Licht ohne Schatten, keine Tugend ohne Laster, keine Freude ohne Schmerz gibt (vgl. S. 158). Kurzum, die Verbindung der Gegensätze…
4) In dem Bericht „Ueber die Mysterien der Indier“ (JF 1/IV, 5–54) behauptet der Logenmeister Ignaz von Born, daß die alten hinduistischen Mysterien von den ägyptischen abstammen (vgl. S. 28–30) und daß Osiris-Isis-Typhon die Entsprechung in Brama-Visnu-Shiva haben (vgl. S. 31). Von Born sieht Ähnlichkeiten zwischen brahmanischen und freimaurerischen Initiationszeremonien (vgl. S. 50f).
5) In dem Artikel „Geschichte des pythagoräischen Bundes“ (JF 2/I, 3–28) gibt der Freimaurer Br. K*l eine Verbindung zwischen Pythagoras/Pythagoräern und der Freimaurerei zu verstehen. Pythagoras wurde demnach in die Mysterien des alten Ägypten eingeweiht (vgl. S. 6). Der Pythagoräerorden bestand aus einer äußeren Klasse („Exoteriker“) und einer inneren Klasse („Esoteriker“) (vgl. S. 18). Mit der Einweihung wurde man Teil des esoterischen Bereichs, man empfing das Licht… Unter ihre Symbole gehörten: das Dreieck und der fünfzackige Stern… (vgl. S. 22–24).
6) In dem Artikel „Ueber die Magie“ (JF 2/I, 29–56) weist der Freimaurer Br. H***r darauf hin, daß nicht wenige Freimaurer sich der Magie widmen:
„Es ist kein Geheimnis für den in unsern Kreis Aufgenommenen, daß eine nicht geringe Zahl unserer Brüder hinter den Hyeroglyphen unseres königl. Kunst das große Geheimniß suchen, sich gleich dem Besitzer von Salomons Siegel der Herrschaft der Geisterwelt zu bemächtigen. Ein grosser Gedanke! Herr der sichtbaren und unsichtbaren Schöpfung“ (S. 29).
Der Autor scheint die menschliche Arroganz zu verachten, die behauptet, die Geister mit Magie zu beherrschen (vgl. S. 30). Dann stellt er aber fest, daß unter den Anhängern dieser Wissenschaft Pythagoras, Apuleius und andere sind, die nach Ägypten gingen, um die Magie zu lernen (vgl. S. 30).
7) In der Abhandlung „Von den Wirkungen der Maurerey auf den Muth und die Thätigkeit des Menschenfreundes“ (JF 2/I, S. 59–76) hat der Freimaurer Br. K**l definiert die Logen als heilige, geweihte Orte („an die Pforte unserer heiligen Hallen“. S. 62; „unseres geheiligten Vierecks“, S. 62) und setzt den Freimaurer mit dem „Prometheus“ gleich, der den Menschen das göttliche Licht brachte (vgl. S. 62).
An dieser Stelle weise ich darauf hin, daß der freimaurerische Glaube an die Sakralisierung der Loge durch rituelle Handlungen zweifellos auf eine magische Mentalität hinweist; außerdem wissen die Freimaurer deutscher Sprache auch heute noch, daß der Prometheus der griechischen Mythologie dem gnostischen Luzifer entspricht…
8) In seiner Studie „Geschichte der Neuplatoniker“ (JF 2/II, 5–51) lobt der Freimaurer Br. K**l ausdrücklich die Neuplatoniker, Anhänger der „hermetischen Wissenschaft“, „Theurgie und Magie“ (S. 5), die viele Bewunderer unter den Freimaurern haben (vgl. S. 6).
Br. K**l vergleicht Neoplatonismus und Freimaurerei und bekräftigt, daß der Neoplatonismus noch unter den Freimaurern dominiert: „Ich sagte in der Einleitung zu dieser Geschichte, daß der neue Platonismus unter unsern Brüdern, die in der Maurerey wissenschaftlichen Kenntnisse suchen, noch herrsche “ (S. 46f).
Br. K**l gibt zu verstehen, daß:
- Freimaurerei und Neuplatonismus davon ausgehen, daß Hermes, Zarathustra, die Priester des alten Ägyptens, die persischen Weisen und die alten Mysterien alle aus derselben Quelle stammen, aus deren Prinzipien sich die Freimaurerei und der Neuplatonismus ableiten. Beide lehren mit der hermetischen Kunst die Rehabilitierung oder Reintegration des Menschen in den ursprünglichen Zustand vor dem Sündenfall (vgl. S. 48).
- Freimaurerei und Neuplatonismus suchen beide nach verlorenen Wahrheiten, sie sind beide „eine Art von traditioneller Mystik“ (S. 48f).
- Die Freimaurerei und der Neuplatonismus legen Wert auf das geheime Wissen der Natur, die hermetische Wissenschaft, den Kontakt mit Geistern, die Magie und die Theurgie (vgl. S. 49f).
- Die Freimaurer sehen in den Neuplatonikern die Besitzer der königlichen Kunst der Freimaurerei (vgl. S. 50).
Br. K**l beendet den Artikel, indem er mit den Neuplatonikern sympathisiert und in ihnen Freimaurerbrüder sieht („und ich sah in den Neuplatonikern meine Brüder“, S. 50f).
9) In dem Bericht „Ueber die Mysterien der alten Hebräer“ (JF 3/I, S. 5–79) stellt ein anonymer Freimaurer klar, daß die der Freimaurerei eigentümlichen Wissenschaften oder Erkenntnisse von den Juden und insbesondere vom System der Kabbala stammen (vgl. S. 18).
10) Pantheistische Mystik finden wir in der Rede „Tod ist Leben“ (JF 3/II, 153–158) des Freimaurers Br. S–z, der den Tod als eine neue Form des Lebens darstellt; im Universum gibt es keine Zerstörung, sondern das Leben geht in neuen Formen weiter (vgl. S. 153f). Nach dem Tod des Körpers setzt die menschliche Seele, die ein göttlicher Funke, ein Teil Gottes ist, ihre unendliche Entwicklung fort, in ewiger Bewegung kehrt sie zu ihrem Ursprung, zu Gott, zurück (vgl. S. 155f). Die Seele verläßt Gott und kehrt zu Gott zurück (vgl. S. 158).
11) In dem langen Artikel „Ueber die grössten Mysterien der Hebräer“ (JF 3/III, 5–98) behauptet ein anonymer Freimaurer, daß „Aegypten, die Schule der Gesetzgeber, auch bekanntermassen das Vaterland der Mysterien“ war, die sich dann unter verschiedenen Götternamen nach Griechenland und Asien verbreiteten (vgl. S. 9).
Der Anonymus unterscheidet zwischen den „kleineren Mysterien“ und den „größeren Mysterien“ (vgl. S. 10f). Die Eingeweihten der großen Mysterien in Ägypten und später in Griechenland und Asien lehrten die Nichtexistenz der Volksgötter und die Einheit des Höchsten Wesens (S. 14).
Der anonyme Autor vergleicht die freimaurerischen Mysterien mit den jüdischen Mysterien, die Freimaurerei mit dem Judentum („eine nähere Vergleichung der maurerischen Mysterien mit den hebräischen“, „mit dem Hebraismus“: S. 88–90).
Der Autor erwähnt die hebräischen Hieroglyphen in der freimaurerischen Symbolik („unsre hebräischen Hieroglyphen“, vgl. S. 88). Die Freimaurerloge ist wie ein Heiligtum für Freimaurer („in unsrem Heiligthume“, vgl. S. 89). Der anonyme Freimaurer bekräftigt die Bedeutung der Kenntnisse des dritten Grades des Freimaurermeisters: „Ich werde freylich die Kenntnisse unsres Meistergrades überholen müssen“ (S. 89).
Der Anonymus vergleicht die „kleinen Mysterien der Maurerey“ (S. 90f), d. h. „Die drey ersten Grade“ der Freimaurerei, mit den kleinen Mysterien der Juden, die auf die sittliche und soziale Lebensführung und die „Einweihung eines ganzes Volks“ abzielten (vgl. S. 90f).
Dann verbindet der anonyme Freimaurer die „Größere Mysterien der Freymaurerey“ mit dem jüdischen Sanhedrin („Sanhedrim“, S. 90–98), mit dem er wiederum die Hochgrade der Freimaurerei („in den höhern Graden“, S. 90f) verbindet.
Der anonyme Freimaurer erklärt, daß ebenso wie die „Schule der Propheten“ und der Sanhedrin in enger Beziehung zu den großen Geheimnissen der alten Juden standen, es „ein maurerisches Institut“ gibt, das die „geheime Kunst“ hütet (S. 94).
„Dieses Institut ist die eigentliche und wahre Prophetenschule der Freymaurerey“ (S. 94), mit dem „die Erkenntniß des Steins der Weisen, der Kabbala und Magia“ verbunden ist (S. 94f).
12) Zu Beginn der Rede „Ueber den heutigen Wunderglauben“ (JF 3/III, 101–108), Freimaurer Br. S–z erwähnt den „ewigen Wetteifer“ in der physischen und moralischen Welt zwischen Licht und Schatten, Gut und Böse, Tugend und Laster… :
„In dem ganzen Umfange der physischen und moralischen Welt erblicken wir einen ewigen Wetteifer zwischen Licht und Schatten, Gut und Uebel, Glück und Unglück, Vollkommenheit und Gebrechen, Tugend und Laster. Dieser Wetteifer ist das große Triebrad, welches die ganze Schöpfung in Bewegung setzt, und ihr Gleichgewicht, Haltung, Dauer, ewige Lebendigkeit, kurz, die ganze Vollkommenheit gibt, welche die allmächtige Hand des weisesten Baumeisters ihr zu geben beschloß“ (S. 101).
Br. S–z macht deutlich, daß in diesem Gesetz/Wechsel/Gleichgewicht der Gegensätze, das „ewige Lebendigkeit“ verleiht, auch die ersten Menschen und „eine Schlange“ stehen, „neben Abel ein Cain“ (vgl. S. 103).
Dieses Gesetz ist für den Freimaurer Br. S–z keineswegs Aberglaube.
Zusammenfassend ist festzustellen, daß sich im Journal für Freymauer Lob findet für: das alte Ägypten, die Priester der altägyptischen Mysterien, Hermes Trismegistos, die Neuplatoniker, die Kabbala, die pantheistische Mystik, das Gesetz der Notwendigkeit von Gegensätzen (Licht-Dunkelheit, Leben-Tod, Osiris-Set…). Das ist die „reine“ und aufgeklärte Freimaurerei!
Wie ist dann erst die magisch-okkulte Freimaurerei?
*Pater Paolo Maria Siano gehört dem Orden der Franziskaner der Immakulata (FFI) an; der promovierte Kirchenhistoriker gilt als einer der besten katholischen Kenner der Freimaurerei, der er mehrere Standardwerke und zahlreiche Aufsätze gewidmet hat.
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Corrispondenza Romana/opacplus.bsb-muenchen.de (Screenshots)