„Im Grunde war dies neue Schrecknis nicht eigentlich neu, denn schon zu Ausgang des abgelaufenen Jahrhunderts war es vorausgesehen und vorausverkündigt worden. Es war – dass wir dies bedenkliche Wort entschlossen und ohne Scheu aussprechen – die Befürchtung, ja, vielerorts gar die gewisse Erwartung einer neuen Sündflut.
Vielleicht will uns Nachgeborenen dies Wort ein Lächeln der Nachsicht, des Mitleids und des besseren Wissens auf die Lippen drängen. Aber dies Lächeln wird nicht standhalten, wenn wir bedenken, dass ja die Furcht, dies dunkle Urgeheimnis unserer Art, zugleich die eigentliche Ursünde und die eigentliche teuflische Mitgift des Menschengeschlechtes darstellt und dass sie zu allen Zeiten und an allen Orten die nämliche ist. Ständig liegt sie auf der Lauer, um sich der Menschen zu bemächtigen und sie sich dienstbar zu machen; und ein höllischer, dem eigenen Leben feindlicher Drang im Inneren des Menschen strebt ihr gierig entgegen. Sie ist erfinderisch. Jeweils wählt sie sich die Verkleidung, die ihren Opfern am schrecklichsten einleuchtet, weil sie den Meinungen des Zeitalters angemessen ist. Zu anderen Zeiten stürzt sich das Furchtbedürfnis der Menschen auf Kriegsgefahren, auf eine drohende Verschlechterung des Geldes, auf Armut und Hunger; auf allgemeine und leicht übertragbare Krankheiten, auf heranreifende staatliche Umwälzungen und Verfolgungen; endlich auf einen in naher Zukunft erblickten Zusammensturz aller vertrauten, bewährten und geliebten Gestaltungen des geistigen und gesellschaftlichen Daseins. und hier ist noch nicht einmal jener Furcht gedacht, die je und je dunkel in der Brust des einzelnen aufbegehrt und sein eigenes Geschick oder das der ihm Nächststehenden zum Gegenstande hat …“
Werner Bergengruen: Am Himmel wie auf Erden (Kleine Bibliothek des Abendlandes, Bd. 7), Be&Be, Heiligenkreuz 2020, S. 54. Die Erstausgabe erschien 1940.
Bergengruen läßt die Handlung seines Romans Anfang des 16. Jahrhunderts spielen. Was er über die Furcht ausführt, klingt nach den Erfahrungen von zwei Jahren der Corona-Maßnahmen und dem nunmehrigen Ukrainekonflikt hochaktuell. Seine Zeilen sind ein Weckruf gegen den Schlaf der Vernunft, der Ungeheuer gebiert, wie es Francisco de Goya in seinen Caprichos (1796/1798) dargestellt hat.
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Anmerkung: Giuseppe Nardi
Bild: Wikicommons