(Rom) Kardinal Luis Antonio Tagle gilt als Hauptanwärter auf die Franziskus-Nachfolge und als einer von dessen Kronprinzen (siehe Der Aufstieg des Luis Antonio Tagle). Seit ihn Papst Franziskus 2019 als Kardinalpräfekt der Kongregation für die Evangelisierung der Völker an die Römische Kurie holte, ist es in der Öffentlichkeit etwas ruhiger um den umtriebigen Filipino mit chinesischem Großvater geworden. Seine selteneren Wortmeldungen haben dadurch an Gewicht gewonnen. Gestern veröffentlichte La Vanguardia, die größte katalanische Tageszeitung, ein Interview mit dem Kardinal, in dem es um die Lage in der Ukraine, um andere Kriege in der Welt, das Pontifikat von Papst Franziskus und die Aussichten des Kardinals als „Papabile“ geht. Das Interview wurde mit ihm als Präsident der Caritas Internationalis geführt, ein Amt, das er seit 2015 innehat.
La Vanguardia: Putin besucht häufig den russisch-orthodoxen Patriarchen Kyrill … Und sagt, ein Christ zu sein: Vermittelt der Vatikan in der Ukraine?
Kardinal Tagle: Ich weiß, daß Papst Franziskus und das vatikanische Staatssekretariat sich bemühen, den Konflikt auf sehr persönliche Weise durch Kontakte mit den Staatsführern zu schlichten…
La Vanguardia: Welche Kontakte?
Kardinal Tagle: Wie Sie sagen, muß ein Teil dieser Diplomatie über die orthodoxen Kirchen und unsere guten Beziehungen zu ihnen ausgeübt werden.
La Vanguardia: Gibt es Fortschritte?
Kardinal Tagle: Mir liegen keine Einzelheiten vor, aber wir wissen, daß es bereits vor der Krise einige interne Probleme in der orthodoxen Kirche gab, und leider ist der Wunsch nach Einheit unter ihnen, der ein Katalysator für die Diplomatie sein könnte, geschwächt worden; aber ich würde gerne glauben, daß wir dazu beitragen werden, sie zu überwinden.
La Vanguardia: Wie alt sind Sie, Monsignore?
Kardinal Tagle: Fünfundsechzig.
La Vanguardia: Zu alt für Rock ’n‘ Roll, aber zu jung, um Papst zu sein?
Kardinal Tagle: Ich nehme das als einen Scherz.
La Vanguardia: Aber Sie galten beim letzten Konklave als „papabile“ und wären der erste asiatische Papst.
Kardinal Tagle: Vielleicht sollten wir lieber darüber sprechen, was wir gerade in der Ukraine tun.
La Vanguardia: Ja, natürlich.
Kardinal Tagle: Die Caritas der Ukraine hat Zentren in den großen Städten und wir kooperieren beim Transport von Menschen und Lebensmitteln; wir haben Kindergärten für Kinder und ihre Mütter eröffnet.…
La Vanguardia: Der Vatikan sagt, er habe angeboten, zu vermitteln, da Putin sich als gläubig betrachtet.
Kardinal Tagle: Die Caritas hilft in der Ukraine, liefert uns aber auch zuverlässige Daten über die Lage vor Ort.
La Vanguardia: Und was sagen diese?
Kardinal Tagle: Unsere Freiwilligen erklären dem Generalsekretariat, was sie sehen, wie viele Menschen sie unterstützen und wie die Situation im Moment aussieht. Ich erinnere mich, heute einen Bericht über mehr als tausend Mahlzeiten gelesen zu haben, die an einem Tag in einem Zentrum ausgegeben wurden.
La Vanguardia: Putin hat mehrere Städte eingekesselt.
Kardinal Tagle: Und es ist offensichtlich, daß sie dort unter einer schrecklichen Belagerungssituation mit Hunderttausenden von Flüchtlingen und Opfern leiden. Aber es gibt auch noch andere Kriege, die wir nicht vergessen dürfen.
La Vanguardia: Sicherlich, auch wenn dies der jüngste ist.
Kardinal Tagle: Für die Caritas sind sie alle gleich wichtig und verursachen sehr ernste humanitäre Krisen, auch wenn sie nicht in Europa stattfinden. Ein Beispiel für solches Leid ist Syrien oder der Irak, wo Hunderttausende von Menschen ebenfalls Not leiden und durch den Krieg aus ihrer Heimat vertrieben wurden.
La Vanguardia: Durch den Konflikt in der Ukraine sind bereits fast zwei Millionen Menschen vertrieben worden.
Kardinal Tagle: Der Libanon ist flächenmäßig viel kleiner, hat aber im Laufe der Jahre zwei Millionen Flüchtlinge aufgenommen, und die Caritas ist dort tätig, um ihnen zu helfen. Unser Ziel ist es, dafür zu sorgen, daß es nicht zu solchen Kriegen kommt, daher unsere Berufung als Friedensvermittler.
La Vanguardia: Worauf ist Papst Franziskus Ihrer Meinung nach am stolzesten?
Kardinal Tagle: Ich kenne den Papst, damals Kardinal Bergoglio, seit 2005. Wir arbeiteten nach seiner Wahl zusammen, und er schickte mir lange Briefe … die ich nie beantwortet habe.
La Vanguardia: Was für ein Fehlschlag!
Kardinal Tagle: Was ich Ihnen sagen kann, ist, daß seine bald neun Jahre des Pontifikats …
La Vanguardia: Auch für die Kirche ist das eine Zeit.
Kardinal Tagle: … ihn nicht zu einem Bürokraten gemacht haben. Wenn er mich sieht, fragt er mich, warum ich so dünn aussehe, wie es meinen Eltern geht …
La Vanguardia: Ist er deshalb ein guter Papst oder nur nett?
Kardinal Tagle: Das ist Teil seines Kirchenverständnisses, nicht als ein Regelwerk, sondern als eine Gruppe von Menschen, die allen helfen. Unsere wesentliche Aufgabe als Katholiken ist es, den Menschen zu helfen, vor allem denjenigen, die uns am meisten brauchen.
La Vanguardia: Bereitet er auch Initiativen vor zu Zölibat, Päderastie, Scheidung, Homosexualität…?
Kardinal Tagle: Meiner Meinung nach ist Papst Franziskus ein mutiger Mann, der zuhört und sich nicht scheut, die Probleme unserer Zeit in verschiedenen Kontexten und Kulturen anzusprechen; denn was in dem einen ein Problem ist, ist in einem anderen oft kein Problem. Und er wird dies auf überlegte Weise tun, nicht impulsiv.
La Vanguardia: Sie waren Erzbischof von Manila: Warum entwickeln sich die Philippinen nicht wie Korea oder Indonesien?
Kardinal Tagle: Wir werden jedes Jahr von 22 Taifunen heimgesucht, und jedes Jahr werden es mehr, weil der Klimawandel durch die Entwicklungen in anderen Ländern verursacht wird. Und wir haben Erdbeben und Vulkane, aber das ist keine Entschuldigung, sondern nur eine Erklärung. Hinzu kommen finanzielle Probleme und schließlich die Korruption.
La Vanguardia: Filipinos neigen dazu, hart zu arbeiten.
Kardinal Tagle: Aber sie sehen Arbeit als Gehorsam, nicht als Unternehmertum. Deshalb bemühen wir uns jeden Tag um die Gründung von Unternehmen, Kleinunternehmen und Genossenschaften.
La Vanguardia: Sind sie erfolgreich?
Kardinal Tagle: Wir wollen das Unternehmertum fördern, angefangen bei den am stärksten benachteiligten Schichten. In meiner Gemeinde habe ich die Kaffeebauern ermutigt, sich zusammenzuschließen, um nicht von den großen Zwischenhändlern abhängig zu sein, und wir waren erfolgreich.
Das Interview in einem etwas ungewöhnlichen Stil führte Lluís Amiguet für La Vanguardia. Kardinal Tagle hielt sich gerade in Barcelona auf, um auf Einladung von Kardinal Juan José Omella, Erzbischof von Barcelona und Vorsitzender der Spanischen Bischofskonferenz, an 500-Jahrfeiern der Christianisierung der Philippinen teilzunehmen. Ferdinand Magellan nahm die Philippinen 1521 für die spanische Krone in Besitz. Von 1565 bis 1821 waren die Philippinen Teil des Vizekönigreichs Neuspanien, dann wurden sie bis 1898 direkt von Madrid regiert. Im Zuge des Spanisch-Amerikanischen Krieges mußte Spanien die Philippinen, Puerto Rico und Guam 1899 an die USA abtreten.
Die Anzahl der jährlichen Taifune, die den Inselstaat heimsuchten, war bereits vor 150 Jahren gleich. Die Taifunstatistik der Marianen und Karolinen der Jahrzehnte 1875 bis 1905 weisen durchschnittlich 20 Taifune jährlich aus.1 Kardinal Tagle antwortet, daß an der langsameren Entwicklung der Philippinen im Vergleich zu Indonesien und Südkorea die Taifune schuld seien, deren Häufigkeit zunehme, woran der Klimawandel schuld sei, der wiederum in anderen Ländern, also durch Menschen, verschuldet werde. Kurzum: Schuld an der langsameren Entwicklung der Philippinen sind Menschen anderer Länder, wenngleich der Kardinal im folgenden Satz, die Aussage etwas relativiert, indem er sie nicht als Entschuldigung, sondern als „Erklärung“ bezeichnet. Die „Erklärung“ der Taifune im Sinne eines menschengemachten Klimawandels ist zwar in Mode und mit einer ganzen politischen Agenda gekoppelt, sie ist jedoch falsch.
Übersetzung/Vor- und Nachspann: Giuseppe Nardi
Bild: MiL
1 Siehe Globus. Illustrierte Zeitschrift für Länder- und Völkerkunde, Bd. 90, Braunschweig 1906, S. 81