Von Eugenio Capozzi*
Am Hauptsitz der Region Ligurien hängt an der Fassade seit einigen Tagen ein Transparent mit der Aufschrift „Mehr Geimpfte, mehr Freie“ [„più vaccinati, più liberi“]. Das ist der Slogan der Kampagne von Gouverneur Giovanni Toti, um eine Massenimpfung der Bevölkerung gegen Covid-19 zu fördern, insbesondere der Jüngeren. Der Satz ist emblematisch für die mit zunehmender Häufigkeit und Beharrlichkeit von der politischen Klasse und den wichtigsten Medien verbreitete Idee: Nur wenn wir uns alle impfen lassen, werden wir alle unsere Grundfreiheiten zurückbekommen.
Diese Freiheiten, die uns seit mehr als einem Jahr geraubt wurden, sollen uns dann teilweise, vorläufig und in Raten zurückerstattet werden. Darüber hängt immer das Damoklesschwert, daß die Lockerungen jederzeit wieder rückgängig gemacht werden könnten und jene das strenge moralische Urteil einer selbsternannten wissenschaftlichen und moralischen Elite trifft, die es wagen sollten, eigenständig und eigenverantwortlich zu entscheiden, wie sie mit ihrem Leben und dem Risiko ihrer Gesundheit umgehen wollen. Dieses Urteil ist in einem Mantra kondensiert, das von Regierungsmitgliedern und offiziellen „Experten“ vor jeder Lockerung mehrfach wiederholt wird: „Das ist kein Freibrief“.
Jetzt, so Gouverneur Toti, „hängt die konkrete Anwendung jener Verfassungsartikel über die Freiheit, die Freizügigkeit, die unternehmerische Freiheit und die Rückkehr an den Arbeitsplatz“ vom Erfolg der Impfkampagne ab. Und laut Matteo Bassetti, dem Star unter den Infektiologen und Gesundheitsberater der Region Ligurien, hänge die Lizenz der moralischen Würde der Bürger und ihr Passierschein für die Inanspruchnahme der Bürgerrechte an erster Stelle mit der Entscheidung zusammen, sich impfen zu lassen, und zwar unabhängig von der Tatsache, daß die Impfung nicht verpflichtend ist, und auch unabhängig von der Altersgruppe und den mit dem Virus verbundenen Risikofaktoren: „Die Freiheit aller ist direkt proportional zur Anzahl der durchgeführten Impfungen“, und „niemand sollte sich frei fühlen, sich nicht impfen lassen zu können“.
Das sind sehr beunruhigende und schwerwiegende Aussagen, besonders wenn sie von jenen geäußert werden, die sich selbst, wie Toti, als liberal bezeichnen. Merkt der ligurische Gouverneur nicht, wie sehr die Parole „Mehr Geimpfte, mehr Freie“ – trotz aller offensichtlichen Unterschiede – an die Worte „Arbeit macht frei“ erinnert, die am Tor zu den NS-Konzentrationslagern angebracht waren? Ist ihm nicht klar, wie unvereinbar eine solche Auffassung von „bedingter“ Freiheit mit den Grundsätzen unserer Verfassung ist?
Leider müssen wir feststellen, daß diese Argumentation ein weit verbreitetes und parteiübergreifendes Empfinden in der politischen Führungsklasse ausdrückt, das mit dem Coronavirus auf sensationelle Weise entstanden ist: die große Verwirrung zwischen einer liberalen Demokratie und einem ethischen Staat, die dazu führt, daß die Ausübung der individuellen Verantwortung einer erzwungenen Ausrichtung auf ein vermeintliches, von oben verordnetes „Gemeinwohl“ völlig untergeordnet wird, und sich daher Ärger und Verachtung gegen jeden richten, der Respekt auch für andere als die vom offiziellen „Narrativ“ empfohlenen Entscheidungen einfordert. Eine Botschaft, die gegenüber den jüngeren Generationen – für die Covid-19 ein praktisch nicht existentes Risiko darstellt – den Ton einer utilitaristischen psychologischen Erpressung annimmt, die ebenso lächerlich wie moralisch verwerflich ist: „Laßt euch impfen, dann könnt ihr in den Urlaub fahren, tanzen gehen, Spaß haben …“
Diese Vorstellung – die in einer tiefen Kontinuität mit den schlimmsten freiheitszerstörenden Ideologien des 20. Jahrhunderts steht und durch die irrige Auffassung gespeist wird, der Staat könne eine Pflicht verordnen, die eigene Freiheit der kollektiven Gesundheit zu opfern – ist dafür verantwortlich, daß die ganzen völlig unüblichen Einschränkungen der Grund- und Bürgerrechte, die als „Lockdown“ bekannt sind, von so vielen Vertretern der politischen und herrschenden Klasse für verfassungskonform und mit der Demokratie vereinbar gehalten werden.
Der „Vaxismus“, der die bedingungslose Einnahme von Präparaten, selbst solchen, die sich erst in der Versuchsphase befinden, zur Ideologie und zum Zwang erhebt – ohne auch nur im geringsten Bedenken wegen möglicher Nebenwirkungen zu berücksichtigen (die zumindest für alle unter 50jährigen weit größer sind als das Virus) –, ist die direkte Fortsetzung des in den vergangenen Monaten vorherrschenden „Lockdownismus“, von dem er dieselben moralistischen und autoritären Töne übernimmt.
Die hämmernde Propaganda für eine totale Anti-Covid-Impfung weist aber noch ein weiteres Element auf: Es steckt ein pseudoreligiöser, mystischer Impuls darin. Das Serum ist nicht mehr ein Instrument der Medizin, sondern wird zu einer regelrechten Katharsis verklärt, zu einer wundersamen Gnade, mit deren Hilfe die Gesellschaft ein Kapitel abschließen und sorglos von vorne neu beginnen kann. Der Drang, auch all jene Teile der Gesellschaft zu impfen, für die Covid keine Gefahr darstellt, will sich mit dem erlösenden Anspruch rechtfertigen, das Virus vollständig auszurotten: innerhalb der Staatsgrenzen, aber perspektivisch auf der ganzen Welt.
Das ist ein völlig unrealistischer, utopischer Anspruch und daher gefährlich wie alle Utopien. Bekanntlich garantieren die vorhandenen Impfstoffe keinen Schutz davor, sich mit der Krankheit zu infizieren und andere anzustecken, und es ist derzeit nicht möglich, mit Sicherheit etwas über die Dauer des Schutzes gegen einen schweren Krankheitsverlauf oder insgesamt das Ausmaß ihrer Wirksamkeit auszusagen. Im übrigen scheinen weite Teile der Welt – mit Ausnahme von Westeuropa und einem Teil der USA – von der Idee einer globalen Impfung sowohl in den Plänen der meisten Regierungen als auch in der Impfbereitschaft der Bevölkerungen weit entfernt zu sein, und so dürften auch die Prozentsätze der Geimpften eher gering bleiben, ganz egal was auch immer Mario Draghi oder Boris Johnson mit ihren Aufrufen „Die Welt impfen“ denken.
Für vier Fünftel der Normalbevölkerung bleibt Covid-19 ein pragmatisch zu lösendes Gesundheitsproblem und keine Apokalypse. Nur für einige westliche Eliten – die Ausdruck überalterter und ängstlicher Bevölkerungen sind, denen jeglicher Sinn für das Transzendente abhanden gekommen ist – ist der globale Impfstoff zu einem Fetisch und einer Obsession geworden, zu einem gelobten Land, das um jeden Preis zu erreichen ist. Auch und vor allem auf Kosten der Unterdrückung individueller Freiheiten.
*Eugenio Capozzi, Professor der Zeitgeschichte an der Universität „Suor Orsola Benincasa“ in Neapel. Sein jüngstes Buch „Die Selbstzerstörung des Westens – Vom christlichen Humanismus zur Diktatur des Relativismus“ (L’Autodistruzione dell’Occidente: Dall’umanesimo cristiano alla dittatura del relativismo), ist im April im Verlag Historica Edizioni erschienen.
Bild: NBQ