In der westlichen Zivilisation, die einst abendländisch genannt wurde, ist ein „regelrechter Selbsthaß“ entstanden, der die intellektuellen Schichten erfaßt hat und der im „Triumph des Relativismus“ konkrete Formen annimmt. Es ist eine Parabel, die direkt zum Selbstmord führt, indem die westliche Zivilisation von neuen identitären, für die vorherrschende Kultur undurchlässigen Kulturen weggefegt wird. Es sei denn, wir machen uns wieder das jüdisch-christliche Verständnis vom Menschen zu eigen, sagt Eugenio Capozzi in seinem neuen Buch „Die Selbstzerstörung des Westens – Vom christlichen Humanismus zur Diktatur des Relativismus“ (Historica Edizioni). Capozzi ist Ordinarius für Zeitgeschichte an der Universität von Neapel Suor Orsola Benincasa. La Nuova Bussola Quotidiana veröffentlichte den folgenden Auszug aus dem Buch.
Von Eugenio Capozzi*
Stimmt es, daß die Probleme der globalisierten Welt die „Überwindung“ des Westens erfordern? Stimmt es, daß die westliche humanistische Tradition im Gegensatz zu früheren Epochen nicht mehr ausreicht, um auf die heutigen Bedürfnisse der Menschheit wirksame Antworten geben zu können? Kann es wirklich einen breiteren, umfassenderen, „inklusiveren“ „neuen Humanismus“ geben, der imstande ist, der weltweiten Governance, den Rechten, den Bedürfnissen, der Würde aller Menschen solidere Kategorien zu bieten? Und wenn ja, welche Kategorien können das konkret sein?
Aus diesen Fragen ergeben sich noch weitere. Inwieweit ist der moderne Humanismus „modern“? Von welcher Kulturgeschichte ist er das Ergebnis? Welche Kontinuität besteht zwischen ihm und seinen Wurzeln?
Um angemessen antworten zu können, müssen wir den Humanismus zunächst als charakteristisches Wesensmerkmal der Identität betrachten.
Eine Zivilisation ist nach Huntingtons Definition „die größte kulturelle Gruppierung von Menschen und die umfassendste Ebene der kulturellen Identität, die der Mensch erreichen kann nach jener, die ihn von anderen Spezies unterscheidet. Sie wird sowohl durch gemeinsame objektive Elemente wie Sprache, Geschichte, Religion, Bräuche und Institutionen als auch durch den subjektiven Prozeß der Selbstidentifikation der Völker“ definiert. Aus diesem Grund muß sie notwendigerweise allgemein geteilte Antworten auf die grundlegenden Fragen nach dem Wesen des Menschen, seinem Platz im Universum und seinem Schicksal geben, wenn sie existieren und Bestand haben will. Antworten, die sich in ethischen und rechtlichen Normen, sozialen und politischen Praktiken, Bräuchen und Traditionen niederschlagen.
Der Humanismus ist eine dieser Antworten. Er ist eine Gesamtsicht des Menschen und seines Platzes in der Wirklichkeit, die auf dem sehr langen Weg durch die Geschichte gereift ist, der – von der Entstehung des jüdischen Volkes über die griechische und römische Zivilisation, dem Christentum, der Synthese zwischen der römisch-christlichen Matrix und den keltischen und germanischen Völkern – bis zur Geburt der Moderne, zu den zeitgenössischen Industriegesellschaften und zu den liberalen demokratischen Regimen führte.
Der grundlegende Punkt, von dem aus diese Geschichte eingeordnet und interpretiert werden kann, ist jedoch die Tatsache, daß der Humanismus als kulturelles Phänomen einerseits nur verständlich ist, wenn er in einem Schlüssel der Zivilisationsgeschichte, d. h. als eine Reihe von exklusiven und untrennbar mit seiner historischen Geschichte verbundenen Ideen, Prinzipien, Symbolen des Westens untersucht wird; andererseits zeichnet er sich aber auch durch den Anspruch aus, universelle Inhalte auszudrücken, die ausnahmslos für die gesamte Menschheit gelten. Kurz gesagt, er beansprucht die Besonderheit einer einzelnen Zivilisation zu überschreiten und spiegelt sich unweigerlich in einer Neigung zur Expansion des Westens auf globaler Ebene wider.
Im Allgemeinen existiert eine Zivilisation nur so lange, wie die Individuen, die Teil davon sind, durch eine weitgehend gemeinsame Weltsicht geeint sind, gemeinsame Lebensgrundsätze teilen und sich im selben symbolischen Erbe wiederfinden. Das schließt nicht aus, daß aus persönlicher Sicht sogar ein beachtlicher Teil dieser Personen Ideen und Überzeugungen bekennt, die sich von denen unterscheiden, die die Zivilisation ausmachen, der sie angehören. Entscheidend ist jedoch, daß das öffentliche Leben, die Institutionen, das soziale Leben und die allgemeine Moral durch die grundsätzliche Einhaltung der letzteren gekennzeichnet sind.
Dies gilt gerade für den Westen und für den Humanismus, der sein verbindendes kulturelles Gefüge darstellt, umso mehr aufgrund der besonderen universalistischen Berufung, die letzterer impliziert und die sich der Westen zu eigen gemacht hat.
Wir könnten sagen, daß der Humanismus nicht nur einen „inneren“ Schwerpunkt des Westens darstellt, sondern von sich aus nach außen projiziert ist: Er ist konstitutiv „imperialistisch“. Und im wesentlichen nimmt er bereits die Globalisierung vorweg, oder vielmehr eine bestimmte Interpretation davon als eine Vereinigung der Welt um den kleinsten gemeinsamen Nenner der westlichen Weltsicht.
Die Geschichte des abendländischen Humanismus zeigt aber noch eine andere Einzigartigkeit von völlig entgegengesetztem Vorzeichen. Tatsächlich entwickelt sich direkt innerhalb der Zivilisation, in der er entstanden ist, ab einem bestimmten Punkt eine radikale Kritik, die eine Selbstkritik ist, eine sehr starke Tendenz zur Selbstrelativierung, die im 20. Jahrhundert explodierte, aber deren Ursprünge weiter zurückreichen.
In der Tat hat der Westen in etwas mehr als einem Jahrhundert eine kulturelle Oszillation erlebt zwischen einem so überzeugten Glauben an sein eigenes Verständnis vom Menschen, daß er es als notwendige Grundlage einer universellen Kultur betrachtete, und einem solchen Mangel an Glauben daran, daß er heute alle Modelle von gleichwertiger Gleichgültigkeit betrachtet, wenn er nicht sogar das eigene für schlimmer als alle anderen hält, die ihren Ursprung in irgendwelchen anderen Weltteilen haben.
Der wachsende Einfluß dieser Haltung auf die intellektuellen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Eliten des Westens – bis zu ihrer Definition als regelrechter Ideologie und ihrer Etablierung als hegemonialer Doktrin – ist das, was der damalige Kardinal Joseph Ratzinger 2005, kurz bevor er Papst Benedikt XVI. wurde, als „Diktatur des Relativismus“ bezeichnete: Eine Doktrin, „die nichts als endgültig anerkennt und nur das eigene Ich und dessen Wünsche als letztes Maß zuläßt“.
Ratzinger selbst hatte in einer Reflexion im Jahr zuvor den entscheidenden Punkt in dieser kulturellen Wende darin ausfindig gemacht, daß der Gründungskern der eigenen Zivilisation aufgegeben wird:
„Es scheint hier ein merkwürdiger Selbsthaß des Westens auf, der fast nur als etwas Pathologisches begriffen werden kann. Der Westen versucht sich in lobenswerter Weise ganz und gar dem Verständnis fremder Werte zu öffnen, aber er liebt sich selbst nicht mehr. In seiner Geschichte schaut er fast nur noch auf das Verwerfliche und Zerstörerische, während er nicht mehr imstande ist wahrzunehmen, was in der gleichen Geschichte auch groß und rein war.“
Was ist in der Geschichte der westlichen Kultur so Relevantes passiert, daß es zu diesem Erdrutsch kommen konnte? Zu welchem Zeitpunkt im Verlauf der Geschichte hat das europäische/westliche Modell der Menschheit, das wir Humanismus nennen, eine genetische Mutation durchlaufen, jene Veränderung, die zu seiner strukturellen Krise geführt hat in einer Welt, die nicht mehr „westzentriert“ ist?
Und noch einmal: Welche sind die möglichen kurz- und langfristigen Ergebnisse dieses Prozesses für die Weltgeschichte? Ist ein neuer Humanismus – der den aus den vergangenen Jahrhunderten ererbten in einem „inklusiven“ Sinne zu korrigieren beabsichtigt – mit dem Überleben der westlichen Zivilisation und einer universalistischen Weltsicht vereinbar? Ist dennoch die Verteidigung der Menschenrechte, der wirtschaftlichen und bürgerlichen Freiheiten und der Demokratie angemessen möglich?
Der Relativismus der Vielfalt hat in einer noch radikaleren Form als die ihm vorausgegangenen Ideologien die Zerstörung des jüdisch-christlichen Menschenbildes wiederaufgenommen. Indem er die Auslöschung der religiösen Fundamente des Konstitutionalismus, des Liberalismus und der Demokratie auf die äußerste Spitze treibt, fördert er die Rückkehr zu einem Stammes- und Kastendenken subjektiver Rechte, auf dessen Grundlage die Verletzung des Lebensrechts legitimiert und die Menschen zu einem Zustand degradiert werden, der dem der Tiere gleichkommt, zu einem bloßen „Gast“ im „Ökosystem“, der nicht wesentlich, wenn nicht sogar störend ist. Er hat die Kluft zwischen ultra-bürgerlichen Eliten, die davon überzeugt sind, daß sie nach Allmacht streben können, und den Massen, die dazu bestimmt sind, als „Material“ für die Herrschaftsprojekte dieser Eliten zu dienen, dramatisch vertieft.
Daraus folgte in jüngster Zeit, daß offen ein staatliches Gesundheitsregime theoretisiert wird, das im Namen des „nackten Lebens“ zur Einschränkung aller Grundfreiheiten der Individuen und des sozialen und politischen Lebens ermächtigt und im Zuge der Covid-19-Pandemie in vielen westlichen Staaten verwirklicht wird.
Wir erleben eine 180-Grad-Drehung vom extremen Hedonismus zu einem rigoristischen Autoritarismus, die nur scheinbar paradox ist, in Wirklichkeit aber folgerichtig in eine völlig relativistische Weltsicht paßt. Eine Weltsicht, die, wie schon Hannah Arendt im Zusammenhang mit den totalitären Ideologien des vorigen Jahrhunderts warnte, den Grundsatz der Wahrheit vollständig der Propaganda unterordnet.
In diesem Zusammenhang ist jeder Appell für einen „neuen Humanismus“, der für die Bewältigung der Herausforderungen einer globalisierten Welt und ihrer kulturellen Unterschiede angemessener sei, mit einem grundlegenden philosophischen Denkfehler behaftet. Nur der jüdisch-christliche Humanismus – geformt durch den griechisch-römischen, germanischen und slawischen Kulturbeitrag – hat die Entstehung, das Wachstum, die Ausbreitung, den Bestand, das Selbstbewußtsein, die Ausdauer und das Identitätsgefühl der westlichen Zivilisation ermöglicht. Eine Alternative dazu gibt es nicht, sie ist unmöglich, weil es keinen alternativen Universalismus zu dem gibt, den die Geschichte des Westens hervorgebracht hat. Die Doktrinen, die versucht haben, sich dem zu widersetzen, führen unweigerlich zu einem Relativismus, der mit dem Wesen und dem Überleben der Zivilisation, die ihn hervorgebracht hat, unvereinbar ist.
Der Sieg des heutigen Relativismus würde den endgültigen Zerfall des Westens bedeuten, der dann viel früher, als wir denken, von anderen Kulturen verschluckt würde, die für seine Grundsätze unzugänglich und in ihrer eigenen Identität fester verankert sind. In diesem Fall würde das gesamte westliche kulturelle, künstlerische, religiöse, philosophische, politische und rechtliche Erbe bald ausgelöscht sein.
Der Weg, der zum Schiffbruch unserer Zivilisation führt, kann nur durch eine vollständige Wiederherstellung, durch eine vollständige und gemeinsame Wiederaneignung der jüdisch-christlichen Auffassung vom Menschen mit all dem genetischen Erbe gestoppt werden, das sie auszeichnet.
*Eugenio Capozzi, geb. 1962, ordentlicher Professor der Zeitgeschichte an der Universität von Neapel „Suor Orsola Benincas“, Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Zeitschrift Ventunesimo Secolo und der Redaktion Ricerche di storia politica. Forschungsschwerpunkte und Publikationen u. a. zu den Themen: Parteiensystem, Parteienherrschaft, Politische Korrektheit. Sein neues Buch: L’autodistruzione dell’Occidente – Dall’umanesimo cristiano alla dittatura del relativismo, Historica Edizioni, Cesena 2021.
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Wikicommons/Fondazione Magna Carta (Screenshot)
Eine fundierte Auseinandersetzung zu diesem Thema findet man beim Renovatio Institut für kulturelle Resilienz (renovatio.org). Sowohl was die sorgfältige Analyse (https://renovatio.org/2020/12/peter-turchin-westliche-gesellschaften-stehen-vor-einer-zivilisationskrise/) als auch, was Lösungsoptionen angeht (https://renovatio.org/2020/12/marco-gallina-europa-braucht-ritter/).